"Hallo" ist das Pfandleihhaus des "Aufwiedersehn"...



Miniaturen des Absurden

Betrete mit der Miene der Abfälligkeit und erhalte Einlaß

Vom Jardin du Luxembourg zum Panthéon brauchte es schon mehr als platonisches Innehalten, um sich Gehör für Gesehenes zu verschaffen. Da...

Samstag, 31. Januar 2015

Der Tür-Spion, der mich liebte


Und war es nur für diese Tür.

So cool und glatt und er so rund, daß nur er mich ausspionierte. Ring aus Metall, Auge aus Glas. Kaufte meine Erledigungen, nahm die Treppe hoch meines Motels, den Gang zu meinem Zimmer am Ende. Mit Blick auf den Pool.  005, 006, 007, 008. Vier auf einer Etage. Im Vorübergehen. …007, 008. Schloß die Tür auf, belebte mein Zimmer. Die Fernbedienung wählte die Programme.

Und war es nur für diese Tür. So cool und glatt und er so rund, daß nur er mich ausspionierte. Ring aus Metall, Auge aus Glas. Kaufte meine Unterhaltung für den Abend, nahm den Gang zu der Treppe. Mit Blick auf den Pool. 008, 007, 006, 005. Vier auf einer Etage. Im Vorübergehen. Von 008 zu 005. Und er ganz dunkel. Für den Magen eine Eintrittskarte im nächsten Diner um die Ecke.

Und war es nur für diese Tür. So cool und glatt und er so rund, daß nur er mich ausspionierte. Wählte meinen Aufriß für die Nacht, grober Typ, schiefe Nase, alle Tage wechselte ich meine Ansprüche. Nahmen Kerle die Treppe meines Motels, den Gang zu meinem Zimmer am Ende. Mit Blicken auf den Pool. 005, 006, 007, 008. Vier auf einer Etage. Im Vorübertorkeln. Von 005 zu 008. Schloß die Tür auf mit grober Hüfte an meinem Hintern, High-Heels in Händen, belebte mein Zimmer. Das Lächeln wählte die Programme.

Und war es nur für diese Tür. So cool und glatt und er so rund, daß nur er mich ausspionierte. Warf meine Enttäuschungen aus dem Zimmer, ihnen die Klamotten hinterher. High-Heels unterm Kissen. Nahm den Shower mit in den Tag, dann den Gang zu der Treppe. Bikini, Handtuch und in Badelatschen. 008, 007, 006, 005. Vier auf einer Etage. Mit Blick auf den Tür-Spion: License to see. Im Vorübersehen. Wählte unten am Pool eine Liege mit Blick auf 007.

Und war nur für diese Tür. So cool und glatt und er so rund, daß nur er mich ausspionierte. Der Tür-Spion. Nahm den Teint der Sonne mit die Treppe meines Motels hoch, Schlürfen in Badelatschen, Füße naß vom Baden, Po in Form, Busen formidabel, keck mein Gang, den dann hin zu meinem Zimmer am Ende. 005, 006… Und hielt davor. …007.Aus Neugier. Meine Hände schon auf dieser Tür. Bewegte sich mein Kopf vor. Mein Blick fiel durch den Tür-Spion. License to see. Mein Mund offen, Atem im Ausstoßen, freundete sich meine Zunge mit ihren Lippen an. Meine Nippel wurden hart, meine Beine steif, die Zehen gespreizt, rutschte ein Fuß aus dem Latschen. Ein Tropfen löste sich aus dem Schritt meines Höschens, dann ein zweiter. Auf den Wischbeton. Vom Baden wohl.

008 fiel zu. Von dieser Sicht zu einem Panorama. Während sie noch langsam zufiel. Die Tür. Der Gang mit den anderen. Vier auf einer Etage. 005, 006, 007, 008. Die Treppe. Der Pool. Das Motel mit Vacation-Versprechen. Dann mit Neon beleuchtet. Liebte mich der Tür-Spion den ganzen Abend. Die Nacht.


Und an allen Tagen, die noch kamen.







*




Mittwoch, 28. Januar 2015

Ein Mann auf der Lippe: Der Lippenstift-Vorfall


„Ich empfehle Dir, die Zyankali-Tablette, die Dir mit der Geburt ausgehändigt wurde, gleich mit Wodka runterzuschlucken. Das erspart Dir die Nebenwirkungen eines Katers am nächsten Morgen.

Nein.

Nur eine Kapsel pro Leben!“


Sagte sie und machte eine Bewegung mit der flachen Hand, die wohl ein Schlucken andeuten wollte.

Und hielt wohl den Nuller-Jahre-Punk, der in der einen eine Dose Feldschlösschen und in der anderen einen weißen Plastikbecher schwenkte und um eine Münze zu den schon darin befindlichen bat, für einen dieser neumodischen Pick-up-Artists, die jungen Frauen ihre Jungfräulichkeit rauben wollten zwischen Sehnsucht und Friedrichstraße in Berlin samstags kurz vor Zwei und S-Bahn-Wahnsinn. Wo auch sonst? Wollten Frauen jemals angesprochen werden, dann im dreckigen Milieu einer schwitzenden Straße. Deodorantisiert quetschte sie sich an ihm vorbei und schickte zuckende Ringe aus ihren Augen. Sie fluchte etwas vor sich hin. Die Bewegungen, die ihre Zunge dabei machte, massierten meinen Rücken. Ich hielt meine Ohren zu. Und stellte mir Benjamin Blümchens Rüssel vor, der mich mit seinem Tööröö zum Spielen auf eine Sommerwiese einlud. Währenddessen saß ich auf ihrer Lippe und nahm mir vor, niemals echte Frauen anzusprechen. Und sei es nur, um nach dem Weg zu dieser Sommerwiese zu fragen. Waren komische Zeiten heutzutage. Jungfräulichkeit war wohl heilig. Eine Religion muß es wohl sein, von der ich noch nichts wußte, wider dem Schmutz. Mit Gertrude Stein als Päpstin. Jungfräulichkeit war vergänglich war vergänglich war vergänglich und Vergänglichkeit wurde in Jahren mal Augenringe pro eiligem Gang gemessen. Sie hatte es sehr eilig heute in Mitte.

Ich begutachtete derweil die Konzeptfrisur der Bäckereifachverkäuferin, die im Nebenjob Sozialpädagogik Schwerpunkt Erwachsenenbildung studierte – erkennbar an ihrem Gelber-Smiley-T-Shirt – und Brötchen-to-go auf der gegenüberliegenden Straßenseite gegen Entgelt anbot. Ich kam nicht umhin, mir vorzustellen, daß sie die Brötchenkäufer darüber belehrte, daß das Brötchen das Kauen auch wollen muß.  Immerhin. Der Punk konnte sich mit seinem ersammelten Geld so ein Brötchen leisten. Man sah, wie stolz er den Inhalt des Plastikbechers vor ihren Augenringen ausleerte. Ich beneidete ihn. Für seine Kurzsicht.

Sie rümpfte kurz die Nase, als sie am Sex-Shop im Bahnhof Friedrichstraße vorbei kam und vergewisserte sich, ob sie auf der richtigen Ebene ihrer Verachtung gelandet war. Von meiner Position auf ihrer Lippe glaubte ich aber einen etwas zu festen Gang verspürt zu haben, der eine Versteifung im Sehen durch eine andere im Gehen überspielen wollte und sich auf die Anspannung der Lippe übertrug, auf der ich ja nun sitzen mußte, während sie log. Ich bewegte mich ja auf den Lippen ihrer Lügen. Jungfräulichkeit vertrug sich nicht mit Verlangen, dachte ich hämisch. Heilig. Gertrude Stein. Päpstin. Religion. Vertrugen sich mit lügen schon. Vertrugen sich nicht beim Gehen. Aber Jungfräulichkeit war ja vergänglich. Also bestrafte sie einen zufällig aus der Tür des Sex-Shops gehenden Mann unbestimmten Alters mit umgänglich feministischer Nichtbeachtung, was das Höchste einer emanzipatorisch erzogenen jungen Frau war – neben Gefallsucht samt Empörung über Gefallsucht, Wichtigtuerei und Schokolade –, was allerdings dazu führte, daß sie ihn trottelig anrempelte, was wiederum für Aufmerksamkeit sorgte, die ihr nun peinlich war, könnte der arme Mann mit seinem Tütchen, durch das man Ekelerregendes erahnen konnte, doch denken, sie sei eine dieser neumodischen Pick-up-Artistinnen, die alle nur so vor Sex-Shops ahnungslosen Männer auflauern und sich in das Verlangen krallen. Krallen. Krallen. Hier: Arcylfaserjacke. Sie hinterließ einen sichtbaren Abdruck auf seinem Ärmel.

„‘Tschuldigung.“, entschuldigte sich der Mann pflichtschuldig. Ob er sich dafür entschuldigte, ein Mann zu sein, was nahe lag – oder nur so, weil es üblich war, sich zu entschuldigen, wenn sich eine junge Frau an einen festkrallte, während man einen Sex-Shop verließ und schon einen anderen Abendverlauf plante und an Frauen gar nicht mehr gewohnt war oder sich entschuldigte, daß er eine junge Frau mit seiner Entschuldigung ja ansprach, die nicht angesprochen werden wollte, weil sie eine Jungfrau war und ihr ihre Jungfräulichkeit allein dadurch schon nehmen konnte, indem er sie ansprach, was man ja erwarten konnte – wie gesagt, es waren komische Zeiten –, konnte ich nicht mehr überblicken, weil ich gerade von der S-Bahn-Anzeige abgelenkt war, die wider Erwarten anzeigte, daß sich die Bahn nach Kreuzberg um emanzipierte 10 Minuten verspätete.

Natürlich. Für die Verhältnisse, die eine S-Bahn bot, von der man nichts erwartete, außer gelb zu sein, war diese gelb  u n d  pünktlich. Soviel zu Erwartungen. Doch allein dadurch konnte man Menschen, die kurz von ihren Smartphones aufblickten, eine Freude bereiten, beobachtete ich von hier oben auf meiner Lippe. Bevor sie wieder auf die Displays starrten, und man sah ihre Freude verwelken. Und während ich mich noch fragte, wozu es denn diese ganzen Applikationen gab, die doch das Verwelken verhindern sollten, während man auf diese Displays starrte, und bemerkte, daß diese Menschen im Minutentakt aufblühten und wieder verwelkten und auf das nächste Aufblühen warteten, so mußte es wohl sein, wenn sich Applikationen meldeten, öffneten sich die Türen der eingefahrenen S-Bahn wie die Blüten einer Knospe und entließ Menschen jeglicher Couleur wie bestäubte Pollen aus deren Mitte. Sie nieste. Und ich mußte mich schon richtig festhalten hier auf ihrer Lippe, damit ich nicht aus ihrem Mund ausgestoßen wurde. Verlor aber den Zahnseide-Stick, den ich als Balancierstange genutzt hatte, um mich elegant auf ihren Lippen bewegen zu können.

Noch immer mürrisch bestieg sie die Bahn – wie sollte es anders sein – nach Kreuzberg.

Sie musterte die Mitfahrenden, fand einen Platz, stöpselte sich Kopfhörer ein und stöpselte die Umgebung aus. Neigte den Kopf zur Scheibe. Um sich auszublenden. Nutzte aber die Scheibe als Spiegel, um alles im Abteil einzublenden. Vielleicht braucht es Musik wie in einem Film, das Gesehene zu verarbeiten. Oder es brauchte Musik, alles mit Emotionen zu versehen. Mir war es gleich. Ich hörte nur Rauschen in ihrer Mundhöhle. Nun wollte ich aber eigentlich erzählen, wie es zu dem Lippenstift-Vorfall kam.

Das kam so: Drei Halbstarke ließen ihre Manieren vermissen, nahmen breitbeinig einen Vierersitzplatz in Beschlag, legten ihre Sneaker auf den Plätzen ab und unterhielten sich lautstark über Bushido, Frauen und Autos. Und ich wurde das Gefühl nicht los, daß das im abstrakten Zusammenhang mit einer Schwarzfahrt in einer S-Bahn durchaus einen Sinn ergibt. Die drei verglichen gerade Frauen mit Autos. Je nach Modell und Marke kategorisierten sie diese in Werterhalt, Unterhaltungskosten und Wiederverkaufspreis ein. Bushido war wohl nur der Katalysator, den jedes moderne Auto besaß. Ich übersetzte aus ihrer Sprache: „Geile Karre, kannste lange mit knattern. Coachbuilding, kannste pimpen, aufpassen, daß kein Kombi wird! Geprüft, hat noch TÜV.“

Junge Frauen, heilige Jungfrauen, mußte man wissen verglichen sich nicht mit Autos. Das Letzte, mit dem sie sich verglichen, waren unbelebte Dinge. Sie vergleichen sich mit anderen belebten Dingen: Jungen Frauen, heiligen Jungfrauen. Durfte aber keiner wissen. Und vergleichen sich mit jungen Frauen, nicht so heiligen Jungfrauen, die gerne von Männern aufgerissen werden, die Frauen mit Karren vergleichen. Durfte aber erst recht keiner wissen. Und ich spürte, wie es plötzlich ungemütlich auf meiner Unterlippe wurde. Erst verbissen, dann fing sie an, zu zittern. Nicht aus Angst, aus Wut. Ich wurde richtig durchgeschüttelt. Ich hatte schon Sorge, meine gemütliche Position zu verlieren. Dann zog sie ihre Handtasche zu Rate. Kramte. Fand, was sie suchte. Hielt einen Lippenstift in der einen, in der anderen Hand einen Schminkspiegel. Und malte sich die Lippen leuchtend rot an. Machte sich hübsch. Ich ließ es über mich ergehen. War dann selbst von Kopf bis Füßchen angemalt. Und versuchte auf dem glitschigen Untergrund doch noch irgendwie Haltung zu bewahren, um die sie rang. Sie drehte den Lippenstift zu, warf ihn und Spiegel in die Handtasche, dann hielt es sie nicht mehr auf dem Platz. Jetzt folgte die zweithöchste Regung, die eine junge, emanzipierte Frau in der Öffentlichkeit echter Menschen, die auch als potentielle Sexualpartner in Frage kämen, allein, um einer anderen Frau es zu verhindern, es zu werden – und sei es, sie hießen Ferrari, Bentley oder Rolls-Royce –, zeigen konnte:

Sie setzte sich um.

„Tz.“

Von Umparken würde ich nicht sprechen. Und natürlich war ich, der auf der Lippe einer Frau saß, die log, schon ein wenig enttäuscht. Ich hätte mir mehr Drama vorgestellt. Daß sie beim Zurücksetzen wenigstens einen Poller rammte. Zumindest einen von dreien. So änderte man nicht das Straßenbild. Einen Aufschrei aus gefühlten Worten, daß diese Bengel es nicht weit im Leben bringen würden, nicht mal zu einem Führerschein, da sie so respektlos über Frauen sprächen, wäre doch das Mindeste gewesen.

War das Lippenschminken das Übliche – sich mit jungen Frauen vergleichen, die schnellen Sex haben, war psychologisch wohl vertretbar; Konkurrenzgebaren –, das Umsetzen das zweithöchste, so war das nun Folgende das Höchste an Regung im Leben einer modernen, jungen Frau, auf deren Lippe ich mich bewegte, die log und die ich nicht mit meinem kleinen Problem in diesem Moment behelligen wollte; wie ich zum Beispiel aus dieser für mich unangenehmen Lage herauskommen wollte. Viele Kommas und zwei Semikolons später holte sie ihr Smartphone hervor, rief eine der Dutzenden Applikationen auf, die jetzt so modisch waren, tippte hektisch etwas hinein – und wenige Sekunden nachdem sah man hier und da in Gesichtern anderer Fahrgäste etwas aufblühen. Man sah sogar vereinzelt Köpfe, die sich aus der Starre von Displays lösten. Schauten sich um. Und ja. Einige bemerkten sogar, daß sie in einer Bahn waren. Wie aufregend. Und vielleicht sah man auch hier und da ein Lächeln aufblitzen. Dann – weitere Sekunden danach verwelkten diese Gesichter wieder, die Köpfe nickten sich nach unten, warteten wohl auf etwas anderes und die S-Bahn fuhr in Kreuzberg ein.

Die Tür flog zu. Der Hausschlüssel landete auf der Kommode. Es war auch nicht hilfreich, daß sie eine Fluppe zog. Ich ächzte darunter, zwischen ihren Lippen zerquetscht zu werden.

Sie reagierte sich mit Hausarbeit ab. Eine junge, emanzipierte Frau regte sich mit Hausarbeit ab. Gut für mich. Sie schnaubte dabei. Zumindest hielt das den Mund offen und mir blieb Platz vor ihren fletschenden Zahnreihen. Ich erinnerte mich an unsere Beziehung, als ich noch groß war und nicht auf ihrer Lippe wohnte. Und mich nicht auf den Lippen ihrer Lügen bewegen mußte. Sie hielt den Haushalt immer gut in Schuß. Sollte das mir was sagen?

Ach, übrigens. Was sie in ihr Smartphone tippte?  Ich denke, sie kritisierte junge Frauen dafür, daß sie sich laut kichernd für junge Männer interessierten, die sich nur für Autos interessierten. Ich denke, es war ein gesellschaftskritischer Ansatz:


„Natürlich darf man Frauen nicht mit Autos vergleichen. Das wäre schließlich sexistisch.


Natürlich muß man sie mit Staubsaugern vergleichen:

Sie finden noch den letzten Dreck gut und machen dabei viel Lärm.“



Ich überlege noch.






*






Wie es weiter geht: Der Handkuß – meine Chance von der Lippe zu springen!




Freitag, 23. Januar 2015

Ein Mann auf der Lippe: Lippenlügen


„Ich bewege mich auf den Lippen Deiner Lügen.“

Die Stange war das Problem. Ja, das war übel. Ich mußte aufpassen, daß sie nicht ins Gehege mit den Lippenwülsten kam. Und ich so herunterfallen. Was mir zugutekam? Daß sie den Mund offen hielt. Hatte sie etwas gesehen, daß sie so in Starre hielt. Konnte nicht beobachten, was sie offen hielt. Ich balancierte schwitzend auf ihrer Unterlippe. Wie ich dahin kam? Das war eine seltsame Geschichte.

Das letzte, an das ich mich erinnerte, bevor ich in diese mißliche Lage geriet, war, daß ich neben ihr im Bett lag. Es war schon weit nach Mitternacht, und eine dieser Nächte, denen man nicht seine Träume anvertrauen sollte – der Mond schien –, wenn man morgens noch beim Duschen hinterm Vorhang nicht erschrecken wollte. Sie schlief unruhig und drehte sich zur Seite, was mir die Decke nahm. Ich zog am Zipfel, vorsichtig, um sie nicht zu wecken. Sie drehte sich dabei zurück. So landeten ihre Lippen auf meinen. Mit diesem Kuß schlief ich schließlich ein.

Ich war noch müde und hörte ein langes Gähnen. Ob es mein eigenes war, ließ sich nicht bestimmen. Wie, wenn ein Zug in einen Tunnel einfuhr. Dachte ich und schmatzte. Auch spürte ich den Wind dabei. Mein Kopf lag noch auf seinen Armen, meine Beine waren angewinkelt, wie als Kind, um sich selber Wärme zu schenken. Ich lag weich gebettet, nur war es hell und ich verspürte ein wiederkehrendes Beben. Und wieder ein Gähnen. Ich öffnete ungern meine Augen. Das Licht schien zu hell für meine müden Lider. Ich tastete das Bett ab. Was ich zuerst nicht glauben konnte, war es doch weicher und wärmer als gewohnt. Die Augen nun ganz offen: Über mir ein roter Wulst. Jetzt erst wurde mir klar: Ich lag auf ihrer Unterlippe. Sie torkelte ins Bad, die Neonröhre strahlte, und das Beben kam von ihrem Gehen. Und die Lippen wollten sich gerade wieder schließen, ah!

Bevor ich zerquetscht wurde und mich fragen konnte, wie ich überhaupt in diese unangenehme Lage kommen konnte, hielt die obere Lippe… inne. Im letzten Augenblick. Zum Glück. Nun fragte ich mich, ob sie mich im Badezimmerspiegel sah und daher den Mund vor Staunen offen hielt. Ich stand auf und winkte mit den Armen. Ich glaube, ich rief sogar. Doch soweit es von hier zu erkennen war, bemerkte sie mein Herumzappeln nicht. Ich hielt mich so gut es ging gerade und stützte mich mit erhobenen Armen an ihrer oberen Lippe ab. Sie ah-te. Jetzt dachte ich, sie hätte mich bemerkt. Ich sah im Spiegel den erschrockenen Ausdruck in ihrem Gesicht, den man sich vorstellte, wenn ein erwachsener Mann nach dem Schlafen auf den Lippen einer Frau erwacht. Ich stellte mich schon auf stockende Erklärungen ein. Ihre Hände griffen nun Richtung Ausdruck. Und ich sah mich schon meiner mißlichen Lage befreit. Doch dann griffen alle Finger einer erschrockenen Frau am Morgen nach einer traumlosen Nacht – nach einem Pickel auf der rechten Backe. Ah! Aus dem Rachen. So laut ah-te sie wieder, daß ich mir die Ohren zuhalten mußte. Und beinahe die hart erkämpfte Balance verlor. Das Schlimmste, was mir passieren konnte, dachte ich. Das Schlimmste, was einer Frau passieren konnte, dachte sie, war ein Pickel auf der Backe, der sich über Nacht dort eingenistet hatte, und noch nicht reif zum Ausdrücken war. Verstehe einer die Frauen. Aber ich war doch auch noch da!

Ich überspringe die Maßnahmen, die sie unternahm, den Pickel ungeschehen zu machen. Sah Tuben, Pasten, Dosen, die ich noch nie im Badezimmer bemerkt hatte. Waren so viele da. Ich verschweige auch die demütigende Erfahrung, einem rotierenden, elektrischen Zahnbürstenkopf auszuweichen – ich quetschte mich in den letzten Mundwinkel –, verschweige es, vom Zahnpastaschaum eingesaut geworden zu sein, fast vom Wassergurgeln erst in die Mundhöhle, dann ins Waschbecken geworfen zu werden und erzähle lieber von dieser Stange, die mir wahrscheinlich mein Leben rettete. Sie führte einen weißen Zahnseide-Stick zu den Zähnen, wohl, weil sie noch ein Krümelchen vom gestrigen Mohnkuchen zwischen den Lücken erblickte. Er kam auf mich zu – und ich ergriff meine Chance! Ich schnappte ihn ihr gleich aus den Händen, als er in Reichweite kam, was sie überraschte. Fragte sie sich sicher, wohin er war. Aber ich hielt den Stick triumphierend zwischen aufgebrachten Fingern. So aufgeregt war ich noch nie in meinem Leben gewesen. Vielleicht nur so, wie ich es war, als ich als Kind mal einen echten 50-Mark-Schein vor der Kellertür gefunden hatte. Hielt die Stange nun wie ein Seiltänzer und balancierte auf ihrer Lippe. Von einer Seite zur anderen. Was mir Sicherheit gab. Mußte nur aufpassen, daß die Stange nicht mit den Lippenwülsten ins Gehege kam. Oben und unten. Und stellte mich – so realistisch schätzte ich meine Lage ein – schon mal auf eine längere Zeit hier auf ihrer Unterlippe ein.

 „Ich bewege mich auf den Lippen Deiner Lügen.“

Kam mir in den Sinn. Als sie nicht mal bemerkte, daß ich im ungemachten Bett fehlte, während sie die Wohnung zur Arbeit verließ. Nicht mal ein langgezogenes Tschüß! Wie sie es immer tat. Nach all den Jahren inniger Beziehung. Mal sehen. Wenn ich sie auf der Lippe durch ihren Alltag begleite, vielleicht lerne ich sie so besser kennen. Mein erster Eindruck, als sie im Büro ankam und vor dem PC arbeitete: Das kann mitunter lange dauern. Sehr lange.

Ich setzte mich. Während Excel-Tabellen so groß wie im Autokino vor meinen Augen auftauchten und wieder verschwanden. Und ließ meine Beine von ihrer Unterlippe baumeln. Die Stange ruhte dabei schlapp auf dem Schoß. Dann ließ ich sie herunter wie eine Angel. Manchmal kam ein Stift zu Besuch zwischen den Lippen. Er wanderte hin und her. Sie murmelte etwas. Ich rückte etwas zur Seite und beachtete ihn nicht weiter. Ich gestehe. Ich habe mir das Leben einer modernen Frau aufregender vorgestellt. Aber das wird sich ändern. Gleich ist Mittag. Es gibt Ratatouille. Ich hörte, wie sie es zu einer Kollegin sagte. Seit wann war sie Vegetarierin? Hatte sie mich auch dabei angelogen? Ich richte mich schon mal auf ein Mundmassaker ein. Die Kollegin nimmt das Jägerschnitzel. Und sonst? Ein erstes Zwischenfazit konnte ich schon ziehen. Die Lippen einer Frau werden im Allgemeinen überschätzt. Ist so, als säße man auf einer Luftmatratze. Man ist am See, macht sich die Mühe, sie aufzublasen. Legt sich drauf. Und dann kommt doch immer Regen. Und muß, während man naß wird, die Luft wieder rauskriegen. Sie hatte eine sehr feuchte Aussprache. Was mir noch nie auffiel, als ich noch groß war. Und sie redete. Und redete. War mir auch das neu. Pflegten wir doch unsere Beziehung in harmonischer Stille.

„Männer!“, klagte sie gegenüber der Kollegin, die schadenfroh ihren Pickel musterte, um davon abzulenken. Männer, lernte ich, waren immer dazu gut, um von was abzulenken.

„Männer sind wie Herpes: Sie tauchen unvermittelt auf, hängen an Deinen Lippen, bereiten nur Kummer und Schmerz. Und dann verschwinden sie wieder. Haben sich aber für den Rest des Lebens in Dir eingenistet.“

Und vielleicht dachte ich auch, was jeder sofort denken würde, der sich auf den Lippen einer Frau bewegt: Daß das alles nur ein böser Traum sei. Ein feuchter. Aber nur ein Traum.

Nur, wenn, dann wachte ich nicht auf. So sehr ich mich auch bemühte. Gab es beim Träumen doch einen Mechanismus, der einen erwachen ließ, wenn der Traum zu unangenehm werden drohte oder sich in einer Endlosschleife zu verheddern. So sah ich das erst einmal als gegeben an. Und so saß ich nun auf der Lippe einer Frau. Wie Herpes. Und beruhigte mich. Auch der ging ja irgendwann wieder mal weg.


Mache also das Beste daraus. Und erzähle von nun an – von Zeit zu Zeit –, was ich auf den Lippen einer Frau, die lügt, so erlebe.






*






Wie es weiter geht: Der Lippenstift-Vorfall



Samstag, 17. Januar 2015

A false laughter takes you five meters. A smile takes you a mile.


Damit wäre auch schon alles gesagt.

Und man müßte nicht weiterlesen. Das ist so einfach, daß es ein jeder versteht.

Oder ich mache es kompliziert – und erzähle von meinem Nachbarn.

Ich mag meinen Nachbarn nicht. Nachbarn, so heißt es, kann man sich nicht aussuchen. So gesehen ähneln sie der eigenen Familie, die man sich ja auch nicht aussuchen kann. Man wächst mit seinen Brüdern und Schwestern unter einem Dach auf, aber irgendwann, wenn die Zeit reif ist, zieht man aus und geht seiner Wege. Mit Nachbarn verhält es sich ähnlich. Man wohnt unter demselben Dach, die Wohnungen bilden die verschiedenen Zimmer der Familie, nur man zieht nicht aus. Ist also auf Gedeih und Verderb dem anderen ausgeliefert. Länger als einem mitunter lieb ist.

Gut ist es, wenn man sich grüßt, einen ‚Guten Tag und guten Weg.‘ wünscht und sich nicht weiter miteinander beschäftigt. Leben und leben lassen. Besser, man geht sich gleich aus dem Weg. Irgendwie hat es sich bewährt, daß Wände und Wohnungstüren zwischen den verschiedenen Leben liegen.

Hausgemeinschaften unterliegen sozialen Regeln. Damit man sich eben guten Gewissens aus dem Weg gehen kann und sich nicht weiter miteinander beschäftigen muß. Irgendwie hat sich auch das bewährt.

Mein Nachbar hält sich nicht an soziale Regeln. Mein Nachbar ist asozial.

Nun könnte man meinen, kein Mensch sei asozial. Könnte man meinen, wer jemand anderes als asozial bezeichnet, diskriminiert diesen. Dies kann verschiedenen Begründungen unterliegen: Daß man Abneigungen gegen alles Fremde hegt. Daß man sich erhöht, indem man andere erniedrigt. Daß man sich daran erfreut, wenn es einem nicht so gut geht, daß es dem anderen noch schlechter ergeht. Daß man generell übellaunig ist und antipathisch. Daß man die eigenen Unzulänglichkeiten dem anderen unterschiebt.

Mein Nachbar ist alkohol- und drogensüchtig, dreht jeden Tag bis 3 Uhr morgens laute Musik auf bis die Boxen scheppern, ob werk-, ob sonn-, ob feiertags – der Rekord liegt bei 11 Stunden am Stück –, sondert wüste Beleidigungen und Bedrohungen gegenüber jedem ab, der ihm begegnet, hat fünfmal die Glastür zum Treppenhaus eingetreten, tritt gerne mal auch Wohnungstüren ein, wirft Dinge vom Balkon, zerschlug seine gesamte Wohnungseinrichtung und zieht randalierend durchs gesamte Haus. Die Polizei hat ihn schon mehrfach in Gewahrsam genommen.

Er leidet an einer Psychose.

Nun, bevor Mitgefühl aufkommt, muß erwähnt werden: Alle anderen leiden unter seiner Psychose. Bevor Mitgefühl aufkommt: Man stelle sich mal vor, der eigene Nachbar im eigenen Zuhause wäre alkohol- und drogensüchtig, drehte jeden Tag bis 3 Uhr morgens laute Musik auf bis die Boxen scheppern, ob werk-, ob sonn-, ob feiertags, sonderte wüste Beleidigungen und Bedrohungen gegenüber jedem ab, der ihm begegnete, träte fünfmal die Glastür zum eigenen Treppenhaus ein, träte gerne mal auch Wohnungstüren ein, würfe Dinge vom Balkon, zöge randalierend durch das gesamte Haus, man lebte ständig in Angst, daß er die eigene Wohnungstür im Drogenwahn einträte und man müßte selbst die Polizei rufen. Und das seit Monaten. Ich glaube, die Geduld und Nachsicht eines jeden wäre damit überstrapaziert.

Mein Nachbar ist asozial. Er ist die Definition von asozial.

Weil er unbelehrbar ist.

Weil er nicht anders kann?

Weil er an einer Psychose leidet und alkohol- und drogensüchtig ist?

Aus welchem Grunde ist letztlich egal.

Als mir mein Nachbar zufällig über den Weg lief – die Begegnung war mir unangenehm –, sagte ich ihm ganz ruhig, daß er in der Psychiatrie landen und seine Wohnung verlieren wird. Ich eröffnete ihm also die Konsequenzen seines Tun und Handelns.

Seine Reaktion? Er lächelte nur.

Nun, ich habe ihn durch die Wände auch schon schizophren lachen gehört. Minutenlang. Und jetzt bin ich mir nicht mehr sicher, ob es ihn weiter bringt – oder nicht. Ein falsches Lachen und ein Lächeln:

A false laughter takes you five meters. A smile takes you a mile.

Pflege ich zu sagen. Der Vermieter hat mitgeteilt, daß ihm gekündigt wurde. Das letzte Mal, als ihn die Polizei festnahm, kam auch der Krankenwagen, der ihn in eine psychiatrische Klinik brachte, wo er vier Tage zur Beobachtung verblieb. Der Sozial-Psychiatrische Dienst der Stadt ist verständigt. Er hat ein Strafverfahren wegen Sachbeschädigung am Laufen. Er wird auf der Straße landen, also obdachlos werden, eine Zukunft in einer Psychiatrie ist im obendrein gewiß. Das Leben hat ihn aufgegeben. Und er rächt sich. Und es rächt sich. Keine Schuldzuweisungen. Nur, daß er das anderen zum Vorwurf macht, indem er sein Gebaren anderen aufzwingt. Er stört. Aus einem Egoismus heraus, der verletzt. Meine Einschätzung bewahrheitet sich. Nur eine Frage von Wochen.

Was wäre denn dieses ‚Weiter‘?, frage ich mich.

Gibt es aus seinem Standpunkt überhaupt ein ‚Hier‘?
Nun, nüchtern betrachtet: Sein ‚Hier‘ ist nichts. Sein ‚Weiter‘ ist Aufmerksamkeit. Sein Dasein ist nicht Scheitern. Denn dazu gehört es, es schon versucht zu haben. Sein Sein ist der Moment, in dem er das tut, was er gerade tun will. Muß. Um sich selbst die Aufmerksamkeit zu geben, nach der er verlangt. Ein Schreier in einer schalldichten Kabine. Sein Selbst steht draußen davor und kann sich nicht hören. Nur daß ihn jeder Nachbar mitanhören muß. Aber so gut es geht ignoriert. So versucht er es mit Zerstörungen. Nur, daß er damit nichts erbaut, womit er sich beschäftigen kann. Sein ‚Hier‘ ist der Moment, wenn er sich vergewissert, daß er alle stört. Sein ‚Weiter‘, wenn andere sich mit ihm beschäftigen müssen. Besonders, wenn sie es nicht wollen. Es gibt Menschen, die machen ihre Probleme zu den Problemen anderer. Klammern sich fest, aber wollen andere nur zu sich nach unten ziehen. Allein das täuscht einen Vorgang vor. Aber Stillstand ist nicht das Gegenteil von Bewegung. Stillstand ist nicht Mißerfolg. Es ist nur null Beschleunigung. Wenn Stillstand Mißerfolg bedeutete und Bewegung Erfolg, worin begründete sich dann Erfolg, der sich dadurch definiert, daß man ihn in Ruhe betrachtet, um ihn überhaupt zu bemerken. Wie kann man den Weg erblicken, den man mit einem Boot auf einem Fluß zurückgelegt hat, wenn man nicht am Ufer Halt macht, also stillsteht in aller Ruhe, um zu bemerken, daß sich das Wasser im Fluß überhaupt bewegt? Worin begründete sich dann sein Erfolg, wenn er sich in Bewegung setzt? Randalierend. Daß er als Obdachloser auf der Straße landet oder mit Obdach in der geschlossenen Psychiatrie? Herausgeführt in Handschellen mit einem falschen Lachen. Dort draußen auf der Parkbank dann oder drinnen zufrieden sitzend mit einem Lächeln. Sein Ziel erreicht.

A false laughter takes you five meters. A smile takes you a mile.

Es bringt ihn also nirgendwo hin. Und doch, er lächelt. Und lacht. Und wenn er nicht lächeln und nicht lachen würde, wäre es auch wie oben beschrieben. Nur, daß es mir zu denken gibt.

Wie zerbrechlich ein ‚Weiter‘ ist.

Damit kein falscher Eindruck entsteht:

Kein Mitgefühl von meiner Seite.

Ich mag meinen Nachbarn nicht. Mein Nachbar ist asozial. Er hält sich nicht an soziale Regeln, die ein Nebeneinander – es muß kein aufgezwungenes Miteinander sein – erst ermöglichen. Ich freue mich schon auf den Tag, wenn er weg ist. Dann haben alle, habe ich endlich meine Ruhe.

Ich mag meine Ruhe. Allein das ist mein ‚Weiter‘.

Ein ‚Weiter‘ kann nur der Standpunkt sein, der in Beziehung zu etwas anderem steht. Und sei es, dynamisch zu sein, selbst wenn man verharrt.

Somit habe ich beschlossen, anzunehmen, daß mein Nachbar gar nicht lacht oder gar lächelt. Er gibt nur Lärm von sich und zieht dabei die Mundwinkel nach oben.


Damit wäre auch schon alles gesagt.






*



Sonntag, 11. Januar 2015

La Tour, qui manque sa vue


Und Kuchen. Kuchen gab es im Überfluß. Orangenkuchen. Apfelkuchen. Kirschkuchen. Schokoladenkuchen. Tarte à l’orange. Tarte aux pommes. Tarte aux cerises. Tarte au chocolat. Und Quiche gab es. Quiche à la lorraine. Quiche vosgienne. Quiche alsacienne. Quiche au fromage. Und Finger sah man. Grobe Finger. Spitze Finger. Krumme Finger. Lange Finger. Und Schmatzen gab es. Grobes Schmatzen. Spitzes Schmatzen. Krummes Schmatzen. Langes Schmatzen. Und Kuchen und Quiche und Finger und Schmatzen gab es nun wirklich im Überfluß.

Und Bäuche. Und Bäuche gab es. Volle Bäuche. Dicke Bäuche. Runde Bäuche. Satte Bäuche. Und Rülpsen gab es. Grobes Rülpsen. Spitzes Rülpsen. Krummes Rülpsen. Langes Rülpsen. Und Stöhnen gab es. Volles Stöhnen. Dickes Stöhnen. Rundes Stöhnen. Sattes Stöhnen. Und – ja, auch das – Furzen gab es. Grobes Furzen. Spitzes Furzen. Krummes Furzen. Langes Furzen. Und Bäuche und Rülpsen und Stöhnen und Furzen gab es nun wirklich im Überfluß.

Und diesen Turm gab es.

Diesen Turm zu Ehren all der Kuchen, der Quiches, der Finger, des Schmatzens, der Bäuche, des Rülpsen, des Stöhnens und des Furzens. Und zu Ehren all dessen gab man diesem Turm den Namen dessen, der all dies ermöglichte: Der Ludwig-der-16.-Turm. 

La Tour Louis XVI.

Und zu ehren gab es nun wirklich im Überfluß. Und weil es nun wirklich viel zu ehren gab, eröffnete man den Turm zu Ehren des Königs und seiner Gemahlin Marie Antoinette, die dies nun wirklich ermöglichte, weil sie es war, die bemerkte, als sie wieder mal mit einem Opernglas bewaffnet sich als dernier cri des Amüsements durch die Gassen des Gesindels kutschieren ließ, daß das Brot dem Volk nicht schmeckte und sagte: „Wenn ihnen das Brot nicht schmeckt, dann sollen sie Kuchen essen.“, am Tage seiner königlichen Geburt vor Gott, an dem der König seinen fünfunddreißigsten Lebensjahrgang vollendete.

Am 23. August 1789.

Und viel Holz war vonnöten. Das man auf die Schnelle aus den Wäldern schlug. Und viele Hände waren beschäftigt. Die man aus dem Ausland holte, weil das Volk ja mit den Kuchen schon alle Hände voll zu tun hatte. Und Eile war geboten. Damit der König seinen Turm betreten konnte noch zu dem Anlaß seiner Ehren Geburt vor Gott. Mit seiner Königin seits. Und Holz gab es im Überfluß nun wirklich.

Und so wurde der Turm noch rechtzeitig fertig.

Und so ließ Louis XVI. vorfahren und betrat den Ludwig-der-16.-Turm samt L’Etat und sonders Gattin Marie Antoinette mittels Treppe. Und Treppen gab es nun wirklich bei diesem Turm im Überfluß. Und Schnaufen gab es. Hohes Schnaufen. Tiefes Schnaufen. Langes Schnaufen. Lautes Schnaufen. Und Hecheln gab es. Klapperndes Hecheln. Klopfendes Hecheln. Krächzendes Hecheln. Kratzendes Hecheln. Und Straucheln gab es. Nach vorne Straucheln. Nach hinten Straucheln. Gegenseitiges Straucheln. Übers Geländer Straucheln. Und – ja, auch das – Fluchen gab es. Vernehmbares Fluchen. Verschlucktes Fluchen. Verdammtes Fluchen. Verfluchtes Fluchen. Und Schnaufen und Hecheln und Straucheln und Fluchen gab es nun wirklich im Überfluß.

Und so erreichte der König nach all dem Schnaufen und Hecheln und Straucheln und Fluchen endlich die Spitze. Und Marie Antoinette. Und L’Etat. Und la cour. Und sah wie Paris von oben war.

Und weil Paris so schön so von so oben war, und weil es in Paris von so oben so viel zu sehen gab, und weil Paris so glücklich so von so oben war, verweilte Ludwig XVI. länger als es seinem Belieben entsprach und bestritt seine Aussicht auch nicht gegen eine Wolke, dann noch eine, dann schon Regen und, nun, es kam, wie es kommen mußte. War alles, was nicht wirklich eine Überraschung war – dafür gab es andere Überraschungen im Überfluß: die Kuchen, die Quiches, der Turm, die Kutschen auch – bloß… aus Pappmaché.

Und so kam es, daß sich der König an der Spitze, Louis XVI., Marie Antoinette, L’Etat und la cour und sich gleich der ganze Turm vor Paris verneigten.


Und Kuchen. Kuchen gab es im Überfluß.





*





(Ode/r an Charlie Hebdo.)




Donnerstag, 1. Januar 2015

Brennesselküsse


Gerade.
Und war es.
Zuneige.
Genehm.
Und war es.

Im Stehen.
Zur Neige.
Von der Hüfte zur Taille.
Und war es.
Nach innen besehen.

Zwei Finger als Lippen.
Erschienen Spuren als Reißaus.
Und war es.
Beim Küssen.
Beileibe.
Auf Haut.

Zuneige.
Genehm.
Und war es.
Gerade im Rücken.

Zu den Schultern hinaus.
Zur Seite.
Zum Neigen.
Im Stehen.
Und war es.
Dem Nacken bequem.

Von den Spuren umschlungen.
Im Nachbrennen.
Folgte ihre Hand im Nachspüren.
Von vorne. Nach außen.
Nach innen.
Zur Neige im Nacken.

Schob sie die Haare nach oben.
Ins Brennen.
Nun Lippen beim Küssen. Beim Ohr.
Und war es.
Im Stehen.
Zum Erliegen.
Im Neigen.


Und waren es Brennesselküsse zuvor.





*