"Hallo" ist das Pfandleihhaus des "Aufwiedersehn"...



Miniaturen des Absurden

Betrete mit der Miene der Abfälligkeit und erhalte Einlaß

Vom Jardin du Luxembourg zum Panthéon brauchte es schon mehr als platonisches Innehalten, um sich Gehör für Gesehenes zu verschaffen. Da...

Freitag, 24. Juli 2015

Weltmeisterschaft


Nahm man mit für eine Weile, am Scheibenwischer, im Fahrtwind gegen die Richtung ihrer Auslegung flatternde Flügel, suchte so die Heuschrecke eine Gelegenheit im Fortkommen von der Wiese. Störte diese wohl, weil eine andere wieder einmal Futter versprach, und war es auch nicht wichtig. Nahm sie nur mit für eine Weile, bis sie selber störte. Betätigte Marion den Wischerhebel, und müde an der Scheibe eines Sommers und der Hitze klebend, weigerten sich die Gummilippen nur, ohne Regen. Dann doch in schmatzender Bewegung, hielt sich die Schrecke fester so nur fest. Wisch-Wasch-Sprühnebel. Pollenschlieren, kaum Sicht mehr durch die Scheibe, dann flog sie doch noch weg. Warum, blieb ihr Geheimnis. Sah Marion ihr durch die Fahrerscheibe nach, ein Feld mit grünem Mais, soll es ihr dort wohlergehen, und lächelte Marion ihr nach und drehte noch den Kopf und noch etwas mehr abgelenkt, verzog sie durch das Spiel des Lenkrades die Spur, nach links, erschrak sich wieder ins Hier. Schlieren auf der Scheibe, Unrat von den Schnakenleibern, noch mal Wisch-Wasch im Sommer dieser Hitze, noch mehr von dieser Unsicht auf der Scheibe, noch etwas Spiel im Lenkrad, noch mal das Verlassen ihrer Spur, knallte Marion in einen Aufprall auf der Gegenseite.

Und war es aus mit ihr.

Und weil sie nichts mehr merkte und nun nur dunkel war und der Airbag geplatzt war wie der Kaugummi einer Göre, die sich in das Gesicht eines Jungen an der Mauer neben dem Spielplatz eines Schulhofes Stunden nach dem Unterrichtsende in die Möglichkeit einer Monatsliebe kaute, und sich Marion nun so unsicher wie der Junge in den Ruch des Erdbeerduftes des Kaugummimädchens erwägte, ob sie sich der Leichtigkeit mit der Affäre hingeben sollte oder doch der Schwere des Lebens, wählte der Moment nach einer Wahl, die zwei Sekunden, in denen man sich für alles Nachkommende entschied, schon für sie, sich bewußt zu werden und wieder aufzuwachen, noch benommen.

Suchte sie ihre Brille. War auch diese wie ihr Gesicht verbogen, doch alles andere noch gerade. Die Brust – schmerzte zwar wegen dem Gurt, der auf ihrem Herz lastete –, der Bauch, die Beine. Versuchte die Tür zu öffnen, war verklemmt, doch Kräfte enthemmten sich, dem Auto zu entsteigen, in dem sie sich all die Jahre so sicher und geborgen verbunden gefühlt hatte, nachdem sie aus der Morgenswohnung trat und die Augenblicke genoß, mit dem Auto irgendetwas zu starten, irgendetwas, genau diesen einen mochte, zwischen Türe schließen und Schlüssel ins Zündschloß stecken, genau diese fünf Sekunden, und waren diese wohl das Gute an ihrem Leben, und fiel aus diesem Augenblick nun heraus auf den grauen Splittasphalt.

Und war es aus mit ihr.

Verlor sie wieder. Und kam das Dunkle wieder. Und wußte nicht, wie lange sie schon so lag, als sie dann zum zweiten Mal erwachte. Hatte sie den Boden umarmt. Die Lippen küßten den groben Belag, schmeckte Stein in ihr und spuckte. Und kämmte sich mit den Fingern die Haare, und warum, das blieb nicht klar. Liegestützte sich auf. Und warum sich die Hose abklopfen, wenn der Schmutz des Aufpralls noch in ihr steckte, noch weniger. Wackelte sie nun vor dem Straßenschild. Ein Dreieck mit rotem Rand und einem schwarzen Ausrufezeichen. Dahinter lag ein Feld. Wie weit sich der grüne Mais erstreckte, dachte sie wohl, und ob die Schrecke nun zufrieden mit ihrem Futter war. Und langsam sah sie sich in der Stille nach Geräuschen um. Und kam das Feld allmählich zu Leben. Grillen hier und da, Surren und das Flimmern all der kleinen Wesen. Und grün war es wie sie grün noch nie in ihrem Leben sah. Langsam schob sich die Aussicht weiter. Nach rechts, noch ein wenig, noch grüner, und dann das andere Auto. Tot und zerschlagen lag es weiß im Graben.

Und war es aus mit ihr.

Humpelte Marion sich heran. Und auch wenn es hieß, nie wieder solch ein Grün in ihrem Leben zu sehen, wankte sie sich näher hin zu diesem Weiß. Aufgerissene Front des Wagens, wie wenn jemand mit Wut des Backens nur für sich alleine in einen Brotteig schlug, zersprungene Windschutzscheibe, die ihr Muster in den Splittern das der Milchstraße stahl. Kam dieser Wagen immer näher. Noch ein wenig. Ein wenig mehr. Und stand Marion nun an seiner Seite und sah sie zum ersten Mal in ihrem Leben einen Toten. Lag er auf dem Kissen des erschlafften Airbags und schlief den Schlaf der Tausend Morgen. Ein Fußballwimpel am Innenspiegel. Flatterte noch hin und her. Dann weniger. Dann starr. Schwarz-rot-golden. 1990. Der Pokal.


Riß die Arme hoch. Und hatte Marion die Weltmeisterschaft gewonnen. Jubel.













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Samstag, 11. Juli 2015

Kamera, lat. Kammer


Früher sagte man Indio-Stämmen nach, wenn sie zum ersten Mal auf weiße Besucher aus der Zivilisation trafen und die sie photografierten, daß sie sich davor fürchteten, daß ihre Seele in den Photoapparat gezogen wird.

Diese Kamera war anders. Sie zog gleich den ganzen Menschen hinein.


Mit nachlässiger Begrüßung lud der Japurá ins wackelige Kanu ein, drei Fremde, Gepäck für vier Wochen, Kameras und Stative. Schwüle, Porzellanzähne. Der Motor startete, die Schraube setzte auf dem Wasser auf wie ein Libellenschwanz. Das Dröhnen begleitete die weitere Fahrt. Acht Stunden rechnete man ein. Die Gespräche beschränkten sich aufs Nötigste.

Dichter Pflanzenvorhang. Das Kanu lag zwei Stunden hinter ihnen. Schob man einen Vorhang zur Seite, stand man vor dem nächsten. Mosquitos surrten und saugten, Schweißflecken von den Achseln bis zu den Hüften. Die Träger trugen, die Fremden sich ferner. Diese Nacht verbrachten sie unter keinen Sternen.

Hockten am Tage. Warteten auf Regung. Zogen dann weiter. Nasse Stiefel, Füße wund. Kein Reden. Nur die trügliche Stimme des Regenwaldes, der zu eigenen Dingen keine Stellung bezog, nur für andere bedächtig log. Tranken im Gehen Wasser, das schwefelig roch. Wischten die Stirn mit noch nasseren Halstüchern. Trieb sie die Vorstellung weiter, wie sie sich vorstellten. Mit der Kamera, dem Stativ. Das Motiv. Das nur.

Erste Spuren. Behauenes Gehölz. Leichte Pfade, die sich nicht mehr von den Armen der Bäume umarmen lassen wollten. Dann stahl Licht sich ins Auge der Fremden. Ein Platz, darauf zwei lange Häuser aus Resten, die der Wald achtlos weggeworfen hatte oder die man ihm wie ein Räuber abtrotzte. Erste Kinder, nackt, mit den Fingern im Mund, Hunde, Hühner, Mandiocamehl.

Traten die Jüngeren heran. Mit Penisschutz und gegerbtem Leben. Frauen wechselten Säuglingen die Brust, die Älteren kamen verlegen entgegen, denen, die sie aus ihrer Gewohnheit entnahmen. Traten die Fremden ungebeten ins Leben. Erste Annäherungen. Geschenke, die keinen Sinn ergaben, für eine Zivilisation an eine andere. Die Kamera wurde aufgebaut, Stativ. Kaum Verstehen.

Fand sich der Stamm in einer Reihe wieder. Die Kleineren vorne, die Älteren in der Mitte, die Jüngeren hinten, Kinder, Frauen, Männer, Hütten. Hatten die Fremden geschickt mit Freundlichkeit Regie geführt, sie dorthin gestellt, jenes drapiert, ein unscheinbares Schieben, standen sie nun vor dem Kameraobjektiv.

Nur einmal auslösen. Nur ein einziges Mal. Nur einmal wurde der Auslöser gedrückt. Und war der Stamm auf einmal weg. Weg. Die Hütten blieben, die Hunde, die Hühner. Waren nur die Menschen weg.

Packten die Fremden ihre Sachen. Kamera in die Tasche, Stativ zusammengesteckt. Würdigten dem Orte keinen Blick, durch den Urwald zurück. Stunden. Mosquitos, wunde Füße. Schwerer ihr Gepäck. Ins Kanu. Der Ausleger klatschte ins Wasser. Quirlte. Mit dem großen Boot nach Manaus. Von da zurück.

Dunkelkammer. Photobäder. Abzüge. Wurde das Bild entwickelt.

Ein Schreibtisch. Karten, auseinander gefaltet. Lupe, Stifte. Linien gezogen, Lampe, Bücher über Naturvölker. Die Kamera. An der Wand Bilder in Rahmen. Aberdutzende. Darauf: Menschenstämme. Mal größer, mal kleiner. Mal bunter, mal bleierne Minen. Hängten Hände das neue Bild auf, richteten es aus. Der Stamm am Japurá. Blieb noch Platz für ein Bild. Genau für eines. Genau in der Mitte.

Nur den einen noch. Nur diesen einen Stamm noch. Dann.


Dann war die Expedition, die Kammer vollkommen.












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Mittwoch, 1. Juli 2015

Phanes


Kühle. Wärmende Kühle. Wiederkehrend. Berührend. Nur durch die Nähe verspürend, nicht begehrend. Atmen. Wiederkehrend. Durch den Hauch. Beneidetes Berühren. Wegen der Nähe. Wahrscheinlich. Wahrscheinlich das einzige Fühlen, das ohne Fühlen vor sich ging. Kühle. Wärmende Kühle. Gedankenblasend. Und unangenehm. Angenehm. Und unangenehm. Und angenehm. Sowohl dem Hauchspender, als dem Angehachten. Ins Gesicht gespritzte Küsse bedankten sich für die Nähe. Und das Zehren. Das Kitzeln aufgestellter Strähnen. Haare, die sich im Hauch hoben, im Warten auf den nächsten störten, wo sie sich niederlegten. Kühle. Wärmende Kühle. In der verdammten Hitze.


Der Garten ist der Hort. Der Ort, unbefangen von den Taten, wo es sich bequemlich machte. Das Erwarten, das Hoffen. Das Atmen. Das Ausatmen. Und nichts trieb diesen Wind mehr von der Seite, als das absichtslose Warten. Das Atmen, Ausatmen. Das Hoffen, das Erwarten. Wenn der Wind von der Seite trieb, war der Blick auf das Geschehen klar. Wenn er die Strähne von der Schläfe blies, im Schlafe, und diese dazu streichelte. Und zeigte und pochte, daß es darin noch lebte: Das Erwartete.

Das Pochen. Das Leben. Das andere.

Und dann stieg der Wind auf in absichtsloser Schwere, in diesem Sinne, sich zu tragen, aus dem Pochen ins nächste Leben zu wagen. Nach der Strähne zögerten Finger, strichen sie glatt. Absichtsloses Aufwachen. Verlangten nach der Reife. Nach der anderen, der Schwere: Jedem Warten war das Bangen inne. Auf das nächste absichtslose Aufwachen. Das Atmen, Ausatmen.

Das Leben, das Erwachen. Das Pochen.

Der Garten – ist der Hort. Der Ort des Wartens. Des Wachens. Auch der Ort der anderen Taten…


„Ich bin Phanes. Ich bin der Wind, der von der Seite treibt:

Ich bereite Wohlempfinden. Oder störe. Verschwinde. Wenn es behagt. War nie da. Bin die Art, deren Anwesenheit man nicht bemerkt… wenn man nur das Wesentliche betrachtet. Und bin weg. Einfach so. Hauch, Luft nur. Dessen Verschwinden man nicht bemerkt. Und bin weg. Einfach so. Ich bereite Wohlempfinden, Empfinden… oder störe.

War nie da. Und bin weg. Einfach so… 

Ich bin Phanes. Der Wind, der von der Seite treibt. Ich überblicke grünes Land, Hügel, ein Meer. In der Ferne schlagen Wellen gegen einen blauen Himmel. Ich bereite Wohlempfinden oder störe…


Und bin weg. Oder bleibe… Einfach so.“









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(aus: Der Liebhaber der Sonne – ein Märchen)