Schönheit vergeht. Jugend vergeht. Aura und Charisma
bleiben. So sie nicht gegen die Vergänglichkeit verlieren.
Chuzpe wappnet gegen die Vergänglichkeit.
Und nun war diese Nadel im Weg. Unscheinbar, wie es
Nadeln nun mal sind, lag sie vor mir auf dem Boden des roten Teppichs. Daß er
rot war, der Teppich, war wichtig. Denn ohne diese Farbe, die mich an das Blut
in meinen Bahnen erinnerte – der Puls
pochte und ich vergewisserte mich, daß er es auch beim nächsten Schlag noch
tat, indem ich beunruhigt nachfühlte – wäre sie mir in diesen undurchdringlichen
Flusen wahrscheinlich nicht aufgefallen. Lag sie also da. Und wenn man genau
hinschaute, blitzte sie auch im Licht, welches sich gelangweilt durch die
Aussicht eines fernen Fensters gähnte. Bäume sah man dahinter liegen – aber wo sah man keine? –, verborgene Häuser
im Blätterdach darunter, ein kleiner Weg, den Kinder zu ihrer Schule benutzten,
gab sich schemenhaft. Und diese Nadel schien mir schnippig einen Wink zu
schicken, von unten, von dort, wo sie lag. Mit ihrem langen, dünnen Körper, mit
ihrem Öhr, der Öse, in die sich eines der roten Flusen hinein verirrte. Und
verriet mir nun, was sie verbarg. Wie sie dahin kam, dort unten, direkt vor
meinen Füßen. Vielleicht war es ihr wichtig, mir das mitzuteilen. Vielleicht
erwartete sie auch niemanden, der weiter des Wegs kam und so wollte sie die
Gelegenheit nutzen, es wenigstens mir zu sagen. Mir, der baff erstaunt vor ihr
stand. Und so begann sie, zu erzählen:
Sie wurde in einer Fabrik nahe eines Flusses
geboren. Sie konnte sich nicht mehr an die Stadt erinnern, doch es mußte eine
schöne Stadt gewesen sein, denn wer würde sonst auf die Idee kommen, dort,
ausgerechnet dort, eine Nadelfabrik zu erbauen. Sie durchlief mehrere
Werkmaschinen und kam strahlend glänzend auf diese Welt. Alles war noch neu für
sie und sie freute sich, wenn immer jemand kam, um sie weiterzureichen. Andere
Hände kamen und gaben sie in andere. Wieder andere lösten diese ab, und so lag
sie nun nach vielen Handgriffen in einer durchsichtigen Plastikpackung, mit
einigen ihrer Schwestern. Und nun wäre alles seinen Gang gegangen. Wäre sie in
die große, weite Welt entlassen worden, jenseits dieser Fabrikmauern. Wäre sie
in angenehme Hände gelangt, die nur zu gut wußten, wie man eine schöne, junge
Nadel zu benutzen hatte. Doch leider, wie so oft im Leben, auch im Leben einer
Nadel, kam es hier auch anders. Wanderte diese Packung, in der sie lag, mit
ihren Schwestern, auf die Kante eines Werktisches, sollte in einen Karton
einsortiert werden, doch ein Stoß ließ sie fallen, gleich auf den Boden beim
Tischbein. Ein weiterer Schubs, von einem Arbeitsschuh, stieß sie nun ganz
unter den Tisch. Lag sie nun da und wartete, darauf, daß man sie hervor holte
aus ihrem vorgesessenen Grab.
Die Jahre vergingen. Menschen kamen und gingen.
Wurden älter. Die Hände, die Handgriffe, die ein Leben lang ihre Griffe ausübten,
verschwanden. Die Fabrik schloß ihre Pforten. Passierte lange nichts. Bis andere
Menschen einzogen. Andere Möbel. Die alten raus. Fand ein junger Mann mit Bart
und Brille, der in der Medienfirma arbeitete, die nun in den Werkshallen ihre
Büros hatte, beim Einräumen die Plastikpackung mit unserer Nadel auf dem Boden.
Und vielleicht war es dieser vergessene Glanz aus seinen Kindertagen, die ihn
staunen ließen. Er biß gerade in ein Wurstbrötchen hinein. Hob die Packung hoch.
Und er überlegte wohl, ob er noch Nadeln gebrauchen könnte. Der Chef kam. Er
besann sich, ob der erstohlenen Pause, und warf sie in den Papierkorb. Zusammen mit
dem Rest der Wurststulle. Er kaute im Stillen weiter, bis der Chef den Raum
wieder verließ. Und dort lag sie nun, die Nadel, im Papierkorb, und war wieder
traurig.
Jemand anderes kam am Abend, machte das Büro sauber
und leerte den Papierkorb. In einen Müllsack hinein, dieser landete auf einen
Wagen. Der schob sich durch die Räume. Weitere Säcke kamen hinzu. Diese
landeten vor der alten Fabrik, in der nun junge Firmen eingezogen waren, die
ihr Glück im neuen Zeitalter suchten, lag auf der Straße und wartete darauf von
der Müllabfuhr abgeholt zu werden. Und wäre wohl das Schicksal der Nadel
beschlossen gewesen. Irgendwo auf einer Mülldeponie unter all den anderen
Dingen, die man nicht mehr brauchte begraben zu sein und so verloren. Doch in
der Nacht kam eine Katze. Sie kratzte den Beutel auf. Sie roch das
Wurstbrötchen und hatte es darauf abgesehen. Sie spielte mit dem gefunden
Essen, wie es Katzen gerne mit gefangenen Mäusen taten, und dabei bekam sie die
Packung mit der Nadel zu fassen. Der Schein einer Laterne spiegelte sich in der
glänzenden Oberfläche und die Katze begann mit der Packung zu spielen. Die
halbe Straße hinauf. Bis sie das Interesse verlor, wie Katzen nun mal so sind,
oder weil sie sich doch an das Wurstbrötchen erinnerte. Die Nadel lag nun auf dem
Bürgersteig am Rande des Rinnsteins. Und sah zum ersten Mal in ihrem Leben die
Sterne.
Die Nacht wechselte zum Tage. Sah sie zum ersten Mal
den Sonnenaufgang. Menschen kamen vorbei. Erst wenige, dann mehr. Dann viele.
War es im Laufe der Zeit eine belebte Gegend geworden, seitdem die Fabrik ihre
Tore geschlossen hatte. Und fast schien es, als riefe die Nadel den Menschen
zu. Sie sollten sie aufheben. Sie und ihre Schwestern aus ihrer Packung nehmen
und dann mit ihr nähen. Hatte sie fast vergessen, daß sie ihre gesamte Kindheit
und ihre Jugend und einen Teil ihres Alters vergessen unter dieser Werkbank der
Fabrik verbracht hatte. Und als es fast nicht mehr schien, daß einer der
vorbeihuschenden Gestalten von ihr Notiz nahm, kam eine Mutter mit ihrem
Kinderwagen vorbei, das Kind ließ seinen Handschuh fallen, der kam gleich neben
der Packung mit den Nadeln zu liegen und sie hob beides auf. Hob es hoch, und
es war so, als ob sie die Packung mehr begutachtete, als den Inhalt. Sah die
Packung etwas mitgenommen aus und roch nach Wurstbrot. Der Handschuh roch nach
Straße, nicht das erste Mal, daß er aus dem Kinderwagen fiel. Ohne Umschweife
zog sie den dem Kinde wieder an. Mit der Packung in der anderen Hand ging sie
weiter und überlegte noch. Und hätte sie nicht jemand Bekanntes getroffen – eine Freundin, ebenfalls mit Kind und
Kinderwagen unterwegs –, so hätte sie die Packung mit der Nadel
wahrscheinlich nicht in das Kinderwagennetz gesteckt. Vielleicht, um der
Freundin gegenüber nicht zu zeigen, daß sie Dinge von der Straße aufliest, die
womöglich auch noch nach Wurst rochen.
So redete man viel im benachbarten Café und es gab
viel zu bereden. Zwei Kinder im Kinderwagen gaben viel Gesprächsstoff her und
vier Latte Macchiatos umso mehr. Bezahlten diese die Stühle für Stunden. Die
Nadel aber hörte gerne zu, hörte sie doch zum ersten Mal im Leben andere Worte,
als die, die sie aus der alten Fabrik gewohnt war zu hören, die sich nur um die
Arbeitsschritte drehten, wie man Nadeln richtig herstellte, was zu beachten
war, was Ausschuß war. Und vielleicht war das der Augenblick, daß sie sich an
dieses Wort erinnerte: Ausschuß. War
sie wohl Ausschuß, auch. In ihrer makellosen Ausführung, als sie aus diesen
Maschinen kam, in der alten Fabrik, und das Licht der Welt erblickte, das sich
so gerne in ihrer Oberfläche spiegelte. Doch bevor die Nadel noch weiter
darüber nachdenken konnte, ging es schon weiter. Was waren schon Stunden gegen Jahre?
Die Mutter mit dem Kinderwagen verließ Freundin und
Café und hatte die Packung mit der Nadel schon vergessen. Sie steuerte ihr Zuhause
an, erreichte es über Umwege, fuhr dazwischen mit dem ungemütlichen Bus, der
Kinderwagen paßte so gerade in die Lücke, die der Omnibus für Kinderwagen und
Mütter vorsah, so als seien die nicht erwünscht, stand dann vor der Haustür,
öffnete diese, stellte den Wagen unten im Hausflur ab, das Kind nahm sie
heraus, ließ den Wagen stehen und verschwand in ihrer Wohnung. Die Packung mit
der Nadel lag vergessen im Netz des Kinderwagens, und hätte man sie
herausgehoben aus dieser Vergessenheit dieses Daseins, so wäre sie jetzt
wahrscheinlich ihrem Ziel nahe. Gab es sicher in diesem Haus jemanden, der
Nadeln gebrauchen konnte. Mehr jedenfalls, als man Nadeln gebrauchen konnte in
der Fabrik, in der sich ja alles um diese drehte.
Abends kamen Jugendliche vorbei. Sie führten nichts
Gutes im Schilde, waren Teenager. Rauchten heimlich in der Flurnische, weil es
draußen regnete, zwei Flaschen Bier wanderten durch Hände. Dann tanzten sie mit
dem Kinderwagen zu Sia – Chandelier
und aus einer Laune heraus landete eine brennende Zigarette im Kinderwagen. Der
rauchte. Hustend landeten die Hausbewohner auf der Straße von der Feuerwehr
gerettet. Die löschte die Reste. Holte aber das Feuer die Nadel aus ihrer
Plastikpackung, weil diese schmolz. War befreit und schwappte in einer Löschwasserpfütze.
Und wäre auch so wieder vergessen, wenn am nächsten Morgen nicht die Putzkräfte
kamen, um die Sauerei sauber zu wischen. Hatte das Feuer im Kinderwagen doch
nicht so viel Schaden angerichtet, auch wenn durch den Rauch das Leben aller
Bewohner des Hauses auf der Kippe gestanden hatte, was denen dann auch bewußt
wurde. Schnappte man die Teenager. Tanzten sie nie wieder zu Sia – Chandelier mit Flaschen Bier in
den Händen, rauchten sie heimlich nur noch draußen. Auch bei Regen.
Und unsere Nadel schnappte sich der Wischmob.
Wischte hin, wischte her. Und blieb unbemerkt. Gab es sicher bessere Momente,
in eine neue Wohnung einzuziehen. Gab die alte nichts mehr her, als verblaßte
Erinnerungen, und die neue sollte für zukünftige sorgen. Erwischte mich der Mob
beim reingehen am Hosenbein, und die Nadel entschied sich wohl, bei mir zu
sein. Trug ich sie hoch in die Wohnung. Der neue Teppich roch nach Rauch und
ich nahm mir vor, Teppichreiniger zu besorgen. Kam die Nadel am nächsten Tag
beim Schrubben mit den Fasern in Berührung und verabschiedete sich vom
Hosenbein. Und nun, lag sie vor mir auf dem Boden. 20 Jahre später.
Bemerkte ich sie. Und ich erwägte, sie so zu
belassen. Brachte sie mir in Erinnerung, was in all den 20 Jahren geschehen
war. Und vielleicht aus einem Antrieb heraus, der brachlag, entfernte ich sie
vom Boden, suchte mir ein Loch, das sicher in eins der Socken war, suchte einen
Faden und brachte die Nadel nach all der langen Zeit zu Leben. Und die Aura der
Jugend wirkte sich in den Stoff ein. Blieb die Nadel unverfänglich der
Vergänglichkeit gegenüber. Und ich besah mich im Spiegel. Sah mein 20jähriges
Gegenüber. Die Nadel in der Hand. War sie unverändert nach all den Jahren. War
ihre Aura dieselbe. Glänzende Makellosigkeit. Und dann öffnete einer den Mund,
der, der vor dem Spiegel stand oder der, der sich darin 20 Jahre jünger
spiegelte, und schluckte die Nadel herunter. Verharrte sie noch kurz auf der
Zunge, so, als ob jemand noch etwas sagen wollte. Sprach aber nichts dagegen.
Und die Nadel verschwand nach innen. Gleich mit einem beherzten Schlucken. War
wohl das ihre Bestimmung, nicht Zwirn und Faden.
Dort liegt sie nun. Und wirkt ihre Aura – so hoffe ich – für immer in das Gewebe
ein. Und bin gespannt, welche Löcher sie wohl dort drinnen stopft. Und
manchmal, wenn ich ganz genau hinfühle, merke ich sie, dort, ganz tief im
Inneren, wenn ich zu Sia – Chandelier
in einem Hausflur tanze.
*