"Hallo" ist das Pfandleihhaus des "Aufwiedersehn"...



Miniaturen des Absurden

Betrete mit der Miene der Abfälligkeit und erhalte Einlaß

Vom Jardin du Luxembourg zum Panthéon brauchte es schon mehr als platonisches Innehalten, um sich Gehör für Gesehenes zu verschaffen. Da...

Donnerstag, 26. Februar 2015

Der Menschen-Scanner




Vorausgesetzt, man betrachtete ihn als gegenwärtig, so erschien er den Reisenden, die ihre Sorgen eingereiht in Warteschleifen in den Urlaub verließen – die gebuchte Bordkarte in der Hand –, als Automat mit verläßlicher Routine, abwaschbarer Aluminium-Hülle, Edelstahl-Attitüde, Durchgangs-Piepen oder – ertappt – Halt!-Halt!-Fiepen. Was für Aufregung unter den Sortierten sorgte. Oder Erleichterung. Oder verborgene Sorge, die sich ins Handgepäck einnistete wie eine kleine Flasche Wasser, aus der man Schlücke für die Flüge zumutete, aber verboten war, hier noch, in der Sicherheitskontrolle, danach dann wieder, selbst das nächste Halt gebietende Fiepen zu erzeugen.

War dem Menschen-Scanner hinter seiner silberglänzenden Hülle egal. In seiner Routine. In seiner untrüglichen Abtastung. In seinen Schaltkreisen.

Vorausgesetzt, man betrachtete ihn als lästig, so erschien er den Reisenden, die ihre Sorgen, von denen sie wußten, daß die sie auf ihren Reisen als Übergepäck begleiteten, und schon jetzt überlegten, wie sie dieses wieder nach Hause brächten, belastet um die Souvenirs, die sich noch dazu packten, als Ritual mit verläßlicher Routine, die Unveränderliches abtastete und so nur – enttäuschenderweise – bestätigte, das was man schon vor der Reise wußte – allem Planen zum Trotz –, da man sich doch durch das Reisen verändern wollte, sich nur um die Örtlichkeit veränderte. Örtlich zumindest. Zeitlich zumindest. Was für Aufregung unter den Belästigten unter den Sortierten sorgte. Oder Erleichterung. Bei der Heimreise auf Bestätigung zu treffen. Als träfe man sich unter guten Bekannten wieder, wenn man sich nach der Einreise, eine Auffrischung in den Rest Rooms genehmigte, seine Hände wusch unter Zeitdruck des Wasserhahns, der nur auf Druck zustande kam und den man nur widerwillig drückte, wegen all den reiseschmutzigen Händen, die ihn zuvor schon drückten, und unter selbigen Zeitdruck nach der Flüssigseife schielten, die schier unerreichbar in nur einem Spender fern des Waschbeckens seiner Wahl wirklich saubere Hände versprach – man wählte immer gerade das Waschbecken aus der Reihe der Waschbecken eines Rest Rooms, das am Fernsten des Spenders war, warum eigentlich? –, sofern, sofern man widerwillig auch diesen schmutzigen Drücker drücken wollte, von dem man ebenso wußte, daß der genauso schmutzig war wie der Wasserhahn, wenn man sich vor dem Spiegel der eigentlichen Einreisekontrolle unter selbstprüfenden Blicken des Bekannten ermächtigte.

War dem Menschen-Scanner hinter seiner silberglänzenden Hülle egal. In seiner Routine. In seiner untrüglichen Abtastung. In seinen Schaltkreisen.

Vorausgesetzt, man betrachtete ihn als nützlich, so erschien er den Reisenden, die ihre Sorgen ins Beauty Case steckten, und dieses im heimischen Badezimmer verdusselt vergessen hatten – Cajal, Lidschatten-Malkasten, Lippenstift, schwarzer Nagellack, Teurer-Duft-Erneuerer paßten in jedes Handtäschchen neben all dem anderen üblichen Gefühls-Chaos einer Frau, Handy und Kreditkarte – als Momentaufnahme mit verläßlicher Routine, die Selbstverständliches abtastete, und so nur – enttäuschenderweise – bestätigte, das was man schon vor der Reise plante – allem Wissen zum Trotz –, da man sich doch durch das Ausreisen in ein anderes Land zeitlich festigte, in der eigenen Erwartung wieder einzureisen – die man   so schusselig man auch war besser zurückgelassen hätte, neben dem Beauty Case –, um sich wenigstens örtlich heimisch zu fühlen, daß es eines Automaten bedurfte, selbst auch das noch sicherzustellen.

War dem Menschen-Scanner hinter seiner silberglänzenden Hülle egal. In seiner Routine. In seiner untrüglichen Abtastung. In seinen Schaltkreisen.

War doch der Strom für Fiepen oder Piepen – „Halt! Halt!“ oder „Weiter!“ – für lange Zeit gesichert. Solange der Strom der Menschen nicht abriß. Auf ihren Reisen. Auf ihren Erkundungen. Ihren Fehlbuchungen.

Kannte der keine Gefühle.

Waren Gefühle nur etwas für Menschen.

Und er nur ein Automat mit verläßlicher Routine, abwaschbarer Aluminium-Hülle, Edelstahl-Attitüde.

Sortierte nur. Ließ vorbei. Las aus. Scannte. Unentwegt. Mit seinen Schaltkreisen. Unermüdlich.


Und kannte sich nur mit berechneten Risiken aus.








*




Donnerstag, 19. Februar 2015

Gullydeckel



Ich kam vom Friseur. Und für 80 € konnte man schon mehr erwarten als bloßes Spitzenschneiden und Augenbrauenfärben. Ich jedenfalls fühlte mich nicht wie eine neue Frau, sondern wie eine ausgeraubte Frau, die man auf den Stuhl des Friseurs setzte, den Umhang überwarf, den Umhang wieder abnahm und genauso wieder in die Welt entließ, die man durch den Besuch verändern wollte. Aber um eben diese 80 € ärmer.

Je älter man wurde, desto mehr Geld war man bereit auszugeben für Veränderungen. Und bestanden sie nur aus Versprechungen von Veränderungen. Also aus Spitzen. Ich war 49, geschieden, eine erwachsene Tochter aus erster Ehe, und immer pleite. Und es machte meine Haare auch nicht besser, daß ich am nächsten Tag 50 sein würde. Ich lief entlang der Straße zu meinem Auto, das auf der gegenüber liegenden Seite mitleidig parkte. Eine Frau Mitte 30 kam mir entgegen. Sie klärte mich nasehoch darüber auf, daß der Gehweg ihr und ihrem Alter gehörte.

Und ihrem Täschchen und ihrem Ellbogen. Und ihrer gepuderten Nase eben, deren Löcher die Dichte der Wolke prüfte, die sich bildete und über meinem gestutzten Kopf herbei schwebte. Dann brach der Absatz eines ihrer Pumps ab, dann als sie den Schuh in der Hand hielt und ihn prüfte der zweite, dann streckte ich ihr schnippig lachend die Zunge heraus, hinter ihrem Rücken, ohne daß sie das merkte. Das Pech der einen ist das Glück der anderen Frau.

Gut gelaunt wickelte ich den Autoschlüssel um meinen Finger und ließ ihn kreisen. Querte die Straße. Näherte mich lächelnd meinem kleinen Auto. Dann sah ich, wie der Schlüssel von meinem Finger glitt – wie in Zeitlupe –, und während ich schon „Schei…“ schrie zu Boden auf einen Gullydeckel fiel, dort auf den Rippen tänzelnd überlegte, ob der Tag noch beschissener werden sollte, und sich doch dafür entschied, und narrend hineinfiel. „…ße, verdammte!“ Das Pech der einen ist das Glück der anderen Frau.

Knurrend sah ich, wie auf der anderen Straßenseite die nasehohe Frau mit den abgebrochenen Schuhabsätzen Ballerinas aus ihrem Handtäschchen zog, sie knutschend begrüßte wie man Chihuahuas auf die nasse Schnauze knutschte, hineinschlüpfte, beschwingt zu ihrem Auto schlenderte – natürlich einem schönen, großen, weißen Range Rover –, den Autoschlüssel um den Zeigefinger kreisen ließ, das Auto öffnete und mit elegantem Schwung in den Verkehr einfädelte, nicht ohne vorher mit einem Lächeln in ein fröhliches Lebensliedchen einzustimmen. „Argh!“

Ich rutschte auf den Knien, der Arm im Gullydeckel und wußte, daß jeder, der entlang kam, auf meinen Arsch schielte. Ich bekam ihn nicht heraus. Die letzten acht der 49 Jahre nicht. Dann faßte mich plötzlich eine Hand an der Hand, schüttelte diese und der Gullydeckel sagte:

„Guten Tag!“

Die Hand hielt mich fest, ließ dann los, als ich daran zog, und ich fiel hintenüber.

„Keine Angst! Ich bin’s nur. Der Gullymann. Ich lebe hier.“

Blasse Finger umklammerten die Gullydeckelrippen. Der Gullydeckelmann zeigte sein fahles Gesicht.

„Willst Du den Schlüssel haben? Dann biete ich Dir einen Tausch an.“ Er hielt ihn glänzend vor.

„Du mußt mir nur einen Gefallen tun.“

Er versteckte den Schlüssel wieder in der Hand, als ich danach griff. Einfach werden würde es also nicht.

„Ich sitze nun schon seit Jahren hier unten.“

Und er erzählte, wie es dazu kam und warum und erzählte, wie er in all den Jahren überlegte, wieder herauszukommen. Und ich hörte ihm gar nicht mehr zu. Und  Petite Marie von Francis Cabrel legte sich über seine Ausführungen. Und der erzählte von einem Mädchen, was er alles für sie tun würde und von Florida und daß er auf sie warten würde und ich hörte dem Lied in meinem Kopf lieber zu, als mich mit dem Gullydeckel weiter unten zu unterhalten. Und er erzählte und er erklärte und er hob hervor, was ich alles nicht wissen wollte, wunderte mich nur, woher ich denn nun Musik in meinem Kopf hörte. Und ob ich schon reif für die Klapse sei. Kam mir der Mann im Gully gar nicht mehr so seltsam vor. Nur, daß jetzt diese Musik spielte. Wie sich herausstellte, kam die Petite Marie aus den Radiolautsprechern eines Autos, das hinter meinem Auto hielt. Und ich war heilfroh, daß ich geistesgesund war. Blieb der Gullymann.

„Was denn für einen Gefallen?“, kürzte ich seine Lebensgeschichte ab.

„Wir tauschen die Plätze. Für eine Stunde. Ich komme heraus. Du gehst in den Gully hinein. Will mir nur mal wieder die Beine vertreten. Und mich mal wieder richtig strecken. Frische Luft atmen. Dann tauschen wir wieder. Und Du bekommst Deinen Autoschlüssel zurück.“

Ich schaute mich um. Und ich schaute auf meine Uhr. Und ich überlegte, ob ich meine Erledigungen für den Geburtstag um eine Stunde aufschieben konnte. Ich mußte wohl. Ohne Autoschlüssel ging ja eh nichts.

„Ach. Was soll’s.“ Ich stimmte ein.

„Abgemacht! Und wird nicht abgedacht!“

Der Gullymann packte meine Hand und schüttelte sie. Dann schob er den Gullydeckel auf. Heraus kam ein schmales Männchen. Aschfahl und grau. Die Jahre im Gully hatten ihre Spuren hinterlassen. Wir tauschten die Plätze. Ich zwängte mich hinein. Und hatte das Gefühl, als ich hinabstieg, daß ich auf einen Schlag zehn Kilo verlor oder daß sich der Gully auf mich einstellte. Hatte dort mehr Platz, als erwartet. Der Gullymann schob den Deckel zu. Und es machte mich schon ein wenig mißtrauisch, daß er sich freudig die Hände rieb. Dann hüpfte er weg und ich verlor ihn aus den Augen. Vielleicht könnte ich ja draußen warten, bis er zurückkam. Ich prüfte den Deckel und drückte von unten gegen. Aber er ließ sich nicht bewegen. Ich saß hier unten also erst mal fest.

Und nun gab es zwei Wahrscheinlichkeiten. Erstens, es käme, wie man dachte und der Gullymann ließe mich hier zurück. Er bräche sein Versprechen. Ich käme nie mehr aus dem Gully raus. Und ich wäre ja selbst schuld, darauf eingegangen zu sein. Was ich nicht verübeln würde. Zweitens, der Gullymann käme zurück, er hielte sein Versprechen, wir tauschten die Plätze wieder und ich bekäme meinen Autoschlüssel zurück. Es wäre nur eine weitere Erfahrung in meinem bald 50jährigen Leben. Und es gab noch dieses Drittens.

Und dieses Drittens spielte sich jenseits aller Versprechen ab.


Einen Tag später.

Der Kuchen stand bereit. Die Kerzen steckten drin, warteten darauf, angezündet zu werden. Eine 50 aus Marzipan sollte den Tag versüßen. Der Tisch im Garten war gedeckt. Kaffee war gemacht. Kleine Kinder liefen um die Stuhlbeine herum. Ihre Kleider verfingen sich mit den Beinen, und sie stolperten. Und die kleineren der Kleinen machten es ihnen nach, weil sie das für den Teil des Spiels hielten. Die Tochter schielte auf ihr Handy, wie üblich, Tante und Onkel verteilten Besteck auf die Platzgedecke.

Die Kleidung verschlissen, der Mantelarm aufgerissen, das Gesicht verschmutzt, die Haare zerzaust. 80 € für den Arsch. Die Schuhe auch verloren. War ganz außer Atem. Ich mußte erst mal schlucken. Whiskey gab es nicht, also das andere. Wasser. Ich schaffte es noch. Und saß nun an der Geburtstagstafel. Ich schnappte der Tochter eine Zigarette weg. Hatte zuletzt als Teenager geraucht. Alle Augen auf mich gerichtet.

„Du glaubst nicht, was mir passiert ist…“

Und dann schwieg ich. Wer nur die halbe Wahrheit erzählt, der hat schon eine ganze Lüge ausgesprochen. Und ich wußte, daß ich das Wichtige, das Entscheidende weglassen müßte, um meinen Zustand zu erklären, damit er auch nachvollziehbar war. Wie ich aus dem Gully herauskam, wie ich all meinen Mut aufbringen mußte, wie ich sogar das Gesetz brechen mußte und beinahe einen Mord beging, war letztlich nicht mehr wichtig. Es war aber dieses verdammte Drittens, das konnte ich sagen. Das jenseits aller Versprechen Menschen aus vertrackten Situationen löste. Das man nicht erklären konnte. Das einem nur widerfahren konnte und dem man widersprechen sollte. Wenn man ein reines Gewissen behalten wollte. Aber jetzt saß ich hier. Den Autoschlüssel in der Faust versteckt. Meine Schwester zündete die Kerzen an. Meine Tochter startete den CD-Spieler. Wie vom Zufall bestellt, spielte er Downtown von Petula Clark. Ich blickte noch mal in die Runde. Tausend Anfänge. Und kein Ende.


Dann pustete ich.







*







Donnerstag, 12. Februar 2015

Windbeutel


Rührend, Tränen in den Augen, den Kopf über der Schüssel geneigt, fügte sie salziges Wasser dem Teig hinzu.

Im Jahre 2076 machte man sich nicht die Mühe, auf seine Ernährung zu achten.

Die Lebenserwartung betrug 133 Jahre. Die Körper tunte man mittels Ersatz-Collagen. Models machten schon lange nicht mehr in Fashion oder Schmink-Werbung. Sie verdienten jetzt ihr Geld damit, daß sie ihre Körper in Lizenz vertrieben. Allein die Patente brachten ihnen Millionen.

Sie hatte gerade ihre dritte Seelenwanderung hinter sich. Irgendwas mit Karma. 2000 Credits an eine Adresse in Nepal überwiesen und man fühlte sich danach rein wie ein Panda-Baby. So jedenfalls versprach es die Werbung. Man transferierte seinen Quellcode via Interlink an Wirtskörper auf der ganzen Welt. Dann fand man sich an einen Strand auf Bali wieder, zwischen den Ruinen von Machu Picchu oder den Lavaströmen von Big Island, Hawaii. Ohne das Haus je zu verlassen und ohne Blasen an den eigenen Füßen zu bekommen vom vielen Umherlaufen zwischen all den anderen Seelenwanderern, Schweiß oder Durst und nicht auf Toilette gehen zu können. Ein riesen Geschäft. Der letzte Schrei. Ein Schmu wie sich herausstellte.

Lagen doch die Wirtskörper in einer stickigen Hinterhof-Kaschemme in Bangladesch. Auf dreckigen Feldbetten. An virenverseuchten Kabeln angeschlossen. Und waren die armen Seelen nicht wirklich vor Ort. Kein Strand auf Bali, kein Machu Picchu, kein Hawaii. Der Trip nur vorgegaukelt. Hatten zwielichtige Geschäftemacher den VR-Code des Lebens gehackt und Echos von früheren Seelenerlebnissen auf Emo-Sticks gebrannt. Die spielten sie dann ab. Mit allen Übersetzungsfehlern und No-Comment-Hall. Niemand bekam seine Credits zurück. Ein riesen Theater in den virtuellen Medien.

Ich fand sie an der Bar im Marriott in Shanghai. Aufgedunsen und mit Poren so groß wie Löcher von antiken Bürolochern, als Papier noch in Mode war. Sie machte nicht den Eindruck, daß Seelenwanderungen ihr bekommen würden. Sie nippte an einem Daiquiri Squat und führte diese Art von Selbstgesprächen, die einen an den Rand des Bemitleidens brachten. Wie lange mußte das her sein, daß sie ihren eigenen Körper auf eine richtige Reise schickte? Ihrem Ausdruck nach zu urteilen, schon sehr lange. Der Barkeeper wendete sich schon ab, als sie nach dem siebten verlangte. Ich ertrug ihre Anwesenheit ohne Leidenschaft.

Sie war in Begleitung eines gewürzroten Kleides aus Seide und Mother-of-Pearl-Ohrringen. Alles Dinge also, die lebendige Tiere schon einmal in ihrem Leben abgestoßen hatten. Sie werden wohl ihre Gründe haben. Sie war angezogen, als würde sie auf die Party ihres Lebens gehen, saß aber nun an der Bar rum, die der Barkeeper abwinkend schon aufgegeben hatte, und wartete wohl darauf, angesprochen zu werden. Niemand tat ihr den Gefallen. Das kompensierte sie mit Selbstdialogen. Sie war vielleicht 90. In dem Körper eines Models. Aber von Verbitterung aufgedunsen. Lizenzen müßte man haben.

Aus Mitleid bestellte ich dasselbe Getränk. Es ist oft so, daß man in der Anwesenheit dieselben Dinge tut, die man bei anderen sieht. Unbewußt. Und so murmelte ich etwas vor mich hin. Ich selbst nahm keine Notiz von dem, was ich sagte. Aber sie verstand es als Aufforderung, sich mir zuzuwenden. Der Alptraum begann.

Wir zogen durch Karaoke-Bars, die zu keiner Zeit aussterben würden, schon gar nicht im Jahre 2076, brüllten chinesische Edel-Schnulzen in hallende Mikrophone und torkelten dann aufgekratzt weiter. Bunte LED-Fassaden, Lampions und Laser-Feuerwerke. Wir fielen in eines dieser Kitsch’n’Kiss-Häuser, in denen die Zimmer Namen trugen wie ‚Chateau‘, ‚Pompeii‘, ‚Cave‘ oder schlicht ‚1999s Living Room‘. Sie wählte ‚Kitchen‘ und als wir das Zimmer betraten, standen wir wirklich in einer Küche. Mit allem ausgestattet, was eine Küche ausmachte, Herd, Spüle, Kühlschrank, Küchentisch. Und allen Lebensmitteln, die man sich in einer Küche vorstellte. Sie wühlte in allen Schränken. Holte dann Schüssel, Schneebesen, Mehl, Milch, Butter und Zucker hervor. Band sich eine Schürze um und rührte diesen Teig. Sie weinte. Sie fügte die Tränen dem Teig hinzu. Und nach einer Stunde duftete es in der Küche nach den Windbeuteln ihrer Jugend.

Wir saßen gemeinsam am Tisch wie ein Ehepaar und aßen sie. Dann hatten wir Sex.


Einen Tag später erwachte ich in einer stickigen Hinterhof-Kaschemme in Bangladesch. Auf einem dreckigen Feldbett. An Kabeln angeschlossen. Meine endete. Die nächste Schicht übernahm. 2000 Credits waren ihr die Windbeutel wert. Sie buchte mich nie wieder.









*




Donnerstag, 5. Februar 2015

Ein Mann auf der Lippe: Katalogmenschen


„Das Innere geht nach dem Äußeren.“

Tattooarm. Irgendwelche bunten Schmetterlinge, Vögelchen, Ästchen. War ihre innere Mitte, Mitte 20 zu sein. In Berlin, nicht ganz in Mitte.


„Das schönste Make-up ist ein nacktes Lächeln.“

Widersprach jedoch der Spiegel.

Geschminkt wie aus einem youtube-Tutorial entsprungen warf sie sich einen Handkuß zu. Aus Eitelkeit wohl. Wohl aus Stolz, etwas zu entsprechen. Weil, wenn nicht schon jemand, sie sich wenigstens selbst so liebte. Und wohl um einem Bild zu entsprechen. Wenigstens einem Bild. Das sie auf einem dieser Bilder-Portale im Internet sah. 2D. Und wollte es zu Leben bringen, in 3D, im Badezimmer, oder im Stehspiegel der aufgeräumten Wohnung. Eine solcher Wohnungen, karg, nur Details, die schmückten, um karge Bilder für diese Bilder-Portale machen zu können, aber in denen man nicht leben konnte. Zumindest nicht zu zweit. Dafür fehlte alles Bunte. Wild und wirr, wie das Leben nun mal mitunter war. Entsprach die Wohnung dem Inneren ihres Kopfes. Aufgeräumt. Eingerichtet. Einem Katalog entsprungen. Und dachte ich, der ja nun auf ihrer Unterlippe wohnte, während sie log, war die doch bunt, durch Lippenstift, jetzt endlich wäre meine Chance gekommen, von eben dieser über der ihr aus dem Spiegel entgegengestreckten Hand herunterzuspringen, da kam ich dem Spiegeltrug dahinter. Wie dumm von mir. Täuschte mich dessen Illusionen. War es nur ein Spiegelbild der Hand und der Handkuß gar nicht jemand anderem gewidmet. Nur ihr selbst. Dem Bild, das sie von sich machte. Karg und aufgeräumt. 2D. Wie einem Katalog entsprungen. Mit dem Wesentlichen eingerichtet, wenn es einem denn wesentlich war.

Was mich ärgerte, überhaupt darauf hereingefallen zu sein. Ein Mann, der sich in Illusionen spiegelt. Und war er noch so klein wie ich, und waren es nicht seine eigenen, der fällt nicht gerne auf das Offensichtliche herein. Das Oberflächige. Und waren es die Illusionen einer Frau, mit mir auf ihrer Lippe. So zog sie die Hand im Spiegel zurück, ihren Arm in 3D mit den Schmetterlingen drauf, Vögelchen, Ästchen, und ich blieb auf ihrer Lippe gefangen.

„Das Schönste.“

Sagte sie. Wild und munter nicht. Und gelächelt hat sie auch nicht wirklich. Zum Glück. So pressten sie sich wenigstens nicht gegeneinander. Mit mir dazwischen. Die Lippen eines Lächelns. Wurde es doch zunehmend ungemütlich auf ihrem Lippenwulst. Und war Schneewittchen noch so tausendmal schöner als sie, so lebte diese nicht in der Zeit der Katalogmenschen, die hunderttausendmal häufiger angesehen wurden durch eben diese Tutorials. Waren diese auch nicht den Launen einer bösen Schwiegermutter ausgesetzt, nur dem Wetter. Sah man diese niemals draußen posieren. In ihren Tutorials. Die Scham der Straße. Nur vor Spiegeln. Oder diesen Spiegeln heutzutage, mit denen man noch telefonieren konnte. Wenn man diese Funktion denn versteckt hinter den Touchscreen-Tastaturen samt Autokorrektur entdeckte. Autokorrekturmenschen müßte es genauer heißen, dachte ich hier oben auf meiner Lippe, während sie die perfekte Augenbraue malte – Frida Kahlo oder Chloé Sevigny zum Trotz –, die auch zwischen Hackesche Höfe und Starbucks an der Rosenthaler Straße bestehen mußte. So perfekt verließ sie das Haus. Nicht ohne sich vorher durch die Haare zu fahren und diese große, schwarze Brille auf die Nase zu setzen, was sie klug aussehen lassen sollte, doch nur ein modisches Accessoire unter Berliner Katalogmenschen war.

„Das Innere geht nach dem Äußeren.“, verstand ich wohl falsch. Meinte sie doch eher das Äußere von anderen, und daß sich ihr Inneres nach diesen Äußeren der anderen richtete. So mußte es wohl sein. Bei diesen Menschen, die man nie im Supermarkt um die Ecke traf. Nur vom Hörensagen her kannte. Was machen denn all diese Katalogmenschen, wenn sie ins Alter kommen, wenn sich der Gilb der Jahre in ihren Gesichtern widerspiegelte?, fragte ich nur aus Neugier. Ziehen diese dann auch innerlich um?  Vom Kargen ins Fade? Weil sie selbst nicht mehr zur Wohnungseinrichtung passen? Und es fiel mir auf, daß immer ein Spiegel zugegen war. Um wohl den Verfall zu dokumentieren oder eher sich zu vergewissern, daß er noch nicht eingetreten war. Noch nicht. Noch nicht. Noch nicht. Und ich erschrak. Weil ich gerade bemerkte, daß ich sie nicht wiedererkannte. Aller Beteuerungen zum Trotz im Spiegel. Fühlte mich nicht auf ihrer Lippe heimisch, sondern wie auf einer fremden Frau, nach all den langen Jahren unserer Beziehung.

„Katalogmenschen bestellen ihre Gefühle im Katalog.“, dachte ich laut und konnte es mir nicht verkneifen, sie an der Lippe zu kitzeln. „Geliefert wird an die falsche Adresse. Oder man ist nie Zuhause. Oder man muß sie sich selbst an der Pack-Station abholen. Schlimmer noch in der Filiale. Dort muß man lange anstehen. In einer langen Schlange dort. Vor einem all die anderen.“

Noch ein Blick auf die Aufgeräumtheit der Wohnung, dann wendete sie sich dem Leben zu. Sie traf sich heute bei Starbucks mit einer Freundin. Dazwischen lag Berlin. Wild und wirr und bunt. Und mehr noch grau. Und viele, viele blaue WhatsApp-Häkchen später bestellten sie sich zusammen einen Caramel Macchiato und einen Chocolate Mocha.

Nicht derer zwei. Da waren ihre schlanken Körper gegen. Später noch zwei schmale getoastete Toastscheiben ohne Lätta oder gar Butter mit Mozzarella und Cherry-Tomaten, aber dafür brauchte sie noch frische Basilikum-Blätter vom EDEKA gegenüber, um das Essen auch zu posten. Das war das ganze Essen einer Frau, auf deren Lippe ich mich bewegte, die log, an einem ganzen Tag.

Das Gespräch mit der Freundin verlief in üblichen Bahnen: Man beklagte, daß der Tag in üblichen Bahnen verlief. Mit absurden Folgen für eine Frau, Mitte 20, die das Wilde, Wirre wollte, aber aufgeräumt und karg wie diese Katalogmenschen und in 2D angemalt war. Im Gesicht und auf dem Oberarm. Eingerichtet in Gefühlen wie in diesen Katalogwohnungen, in denen nicht das Leben wohnte. Aber die man ständig putzen mußte. Damit sich wenigstens die Möbel wohlfühlten.


EDEKA gegenüber. 2 Stunden später.

„Kann ich mal vorbei!“, fragte sie nicht höflich, wie man es gewohnt war, sondern sagte sie pampig, demjenigen, der an der Kasse anstand und darauf wartete, daß sein Einkauf abkassiert wurde.

So, als müßte sich derjenige, der da stand, dafür entschuldigen, daß er an der Kasse anstand, daß es wenig Platz dort gab und daß es eben kein Ausgang war, wenn man einen Supermarkt verlassen wollte, da sie innen erst merkte, nachdem sie ihn betreten hatte, daß man nicht das fand, was man vorzufinden wünschte. Hier: Basilikum-Blätter. Das Essen-Posten stand auf der Kippe. Und wie konnte es derjenige, der das Prinzip verstand – Einkauf, Kassengang, bezahlen –, wagen, einfach so an der Kasse am Warenband zu stehen? Warten bis er dran war und den Ausgang, der kein Ausgang war, blockieren? Und sie konnte es wohl nicht fassen, daß derjenige nicht sofort auf das Kassenband sprang, weil er sie auch nicht bemerkte, erst als sie es ihm wütend von hinten zu verstehen gab. Wie konnte der es wagen, zu existieren?

Der war keiner ihrer Katalogmenschen. Und wußte es auch nicht zu schätzen, daß eine dieser Katalogmenschenfrauen ihm nun an der Kasse eines Supermarktes begegnete. Und sei es nur, um seine Anwesenheit zu bemängeln. War keiner dieser Autokorrekturmenschen, die schon eigene Fehler erahnten und automatisch korrigierten, was mitunter zu bizarren Ergebnissen führte, und sei es nur, um Platz zu schaffen, wo keiner war, damit sie endlich diesen Supermarkt verlassen konnte, der keine Basilikum-Blätter hatte. Das Essen-Posten stand auf der Kippe. Getoastete Toastscheiben mit Mozzarella und Cherry-Tomaten und dekoriert mit Basilikum-Blättern. Das Dekorieren war das Wichtige. Und machte sie das noch wütender, weil sie nichts zum Dekorieren hatte und der es auch gewagt hatte, der Supermarkt, sie nicht zum Einkauf zu etwas anderem zu bewegen und sie so den Laden doppelt umsonst aufgesucht hatte, in Berlin-Mitte, Mitte 20, karg und angemalt, mit schwarzer Brille auf den Lippen, aus denen gehauchte Flüche kamen und nicht mehr so perfekter Lage ihrer schwarzen Haare und Falten in sonst so perfekten Wohnungs-Augenbrauen. Und sowieso. Stapfte sie wütend von dannen. Mit einem Cowboy-Gang, der, man mußte es sagen, viel Kraft kosten mußte beim Gehen, bemerkte ich von meiner Lippe, wenn man wie sie so auf ihren Gang achtete. Ihn sich also bei jedem Schritt bewußt machte, mußte das sehr anstrengend sein, immer darauf zu achten – Sitzt meine Oberschenkel-Lücke? –, um wohl irgendwas auszudrücken, oder einfach aus Selbstunsicherheit heraus, wie immer, dachte ich auf ihrer Lippe, lief es darauf hinaus, und so wohl nie locker einen Weg ohne Basilikum aus Supermärkten finden könnte. Berlin-Mitte. Mitte Zwanzigjährige.


„Immer dieser Al-dente-Wahn! Ich mag meine Nudeln weich.“

Sie fand noch eine Fertigpackung Spaghetti. In der kargen Katalogmenschen-Wohnung. Eine andere Form von Autokorrektur. Sie wärmte sich an der Farbe der Soße.

Das Posten fiel heute aus.

Mitte 20 zu sein, machte wütend. In Berlin, nicht ganz Mitte. Und wohl auch anderswo.

Das Innere überlebte nicht immer das Äußere.


Und ich kämpfte mit den Resten zwischen ihren gefletschten Zähnen.

Ich fand dort noch Basilikum-Spuren von der Würzmischung.







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Wie es weiter geht: Notfallplan rote Unterwäsche – ein fremder Mann kommt zu Besuch