Sie bezog sich auf ihr Gefühl. Und ich würde nie auf
die Idee kommen, die Unfehlbarkeit von 25jährigen in Frage zu stellen. Doch
während ich auf der Lippe verharrte, wurde ich mein Gefühl nicht los, daß mehr dahinter steckte, als bloßes
Unbehagen dem eigenen Alter gegenüber. Mehr dem eigenen Wesen einer Frau, auf
deren Lippe ich nun wohnte, während sie lippenlog, weil ich mich ja auf den Lippen
ihrer Lügen bewegte, und gerade mein Picknick-Deckchen
sorgfältig zusammenfaltete, kariert war es, die Krümel vom Brötchen vom
Lippenboden wegwischte, den Käse und die Wurst wieder einpackte, die Flasche
Wein korkte, mein Essenslätzchen aus dem Kragen zog und nun alles in ihren
Mundwinkeln verstaute – diese ließen
Platz –, und es kam meiner Ordnung einer ordentlichen Haushaltsführung zugute,
daß sie die Winkel unbestimmt der Regung wegen weder lächelnd nach oben, noch
nach unten mürrisch der Welt mit ihren Regeln entgegen zückte. Gefühlsarm, wohl
einer Lähmung gleichkommend. Bei der jede Segnung mit einer Regung Kraft
kostete und nur auf eigen bewußter Anordnung geschehen konnte. Auf Befehl an
sich. Feldwebel-Emotionen sozusagen. War nur zumeist der eigene Feldwebel nicht
zugegen. Harrte man also als einfacher Gefreiter der Dinge in der Stube aus. Auf
den Befehl. Wann auch immer dieser kam. Ich suchte mir eine Ecke auf ihrer
Lippe, lehnte mich mit Kopf und Rücken gegen, wie weich die Lippen auf einmal
waren, streckte meine Beinchen aus, eins über das andere, ließ die Füßchen
wackeln, die Ellbogen als Lehne, die Hände im Nacken verschränkt und wollte
gerade nach dem Völlemahl ein Nickerchen machen. Ein verdientes allemal.
Und kam zum ersten Mal seit langem, nach all den
Beobachtungen, die ich machte, nach all den Eindrücken, die mir meine mißliche
Lage verschaffte, die Gelegenheit zu nutzen, die Welt von dieser Perspektive
aus zu erblicken, die dieser Frau, von hier oben, auf den Lippen Tau, zur Ruhe.
Allmählich. Machte ich mir Gedanken. Und war mein Gefühl im Bauche auch ein
ermüdendes – Käse und Träubchen taten ihr
Übliches –, so erfuhr sich doch auch Neues. Was auch immer sie jetzt so
machte – sie verschwand in einem kleinen
Raum, eine Ablage, ein Spiegel; wo auch immer wir waren, es bereitete mir kein
Behagen –, half es, Abstand zu nehmen, eher zu gewinnen, einen Schritt nach
hinten zu weichen – hier: sich noch ein
Stückchen näher mit dem Rückchen gegen die Lippe zu lehnen –, um mehr zu
erblicken, mehr zu erkennen, mehr zu begreifen. Kam es mir gelegen, dabei die
Äuglein zu schließen, nur ein wenig. Damit mit dem letzen einströmenden
Lichtchen auch das Verstehen belichtet wurde, wenn es auf das Abgedunkelte von
verdrängten Fragen traf.
So kam zum Tragen, daß – aber dazu später – ich in neuer Kleidung in meinem Schläfchen vor
dem inneren Äuglein eine Zeitung aus der Starre faltete. Sah ich mich so unter
einer Linde fläzend, die Sonne zückte Strahlen, die Zweige knisterten, die
Vöglein ziepten, Frühling sprießte und war nichts anderes neben dem Baum als
ein Feld zugegen. Fühlte ich mich mit dem Blatt in den blätternden Händen der
Welt gleich urteilsfähig gewachsen. Wenn man nur allein mit sich in Gedanken idyllisch
war. Was natürlich Unsinn war. Und tat es der Lesbarkeit von Texten gut, Absätze
einzufügen, damit dem Verstehen nichts im Wege stünde, außer Intellekt und
nichtigere Gründe, so tat es auch den Gefühlen gut, Rücke einzuplanen. Die Gefühle und die Gedanken waren frei.
Nicht, wenn es Annahmen gab. Ich ließ mir berichten, daß es richtig war, dies
zu denken und jenes Denken zu unterlassen. Wie
sollte man sich da auf sein Gefühl verlassen? Daß es schon einen
Unterschied machte, im Richtigen oder Falschen zu sein. Daß es eine Menge Arten
gab, nicht wahr zu sein. Kleinanzeigen und Vermischtes. Rasenmäher günstig
abzugeben. Der Zirkus war jetzt in der Stadt. Viel Meinung war zugegen, in dem
Blätterrascheln dieser Linde, doch über Gefühle las ich wenig. Erschien es mir aber
wichtig. Zumal ich nun auf den Lippen dieser Frau, die log, nun lebte und ein
Schlummerchen wählte, um mich von ihrer Anwesenheit zu erholen. Ich hatte mir
ja nicht die Lage auf ihrer Lippe ausgesucht. Eines Morgen wachte ich dort einfach
auf. Durch einen Zauber, dessen Reiz mir verschlossen blieb. Erinnerte ich mich
an einen anderen, erinnerte ich mich an unsere Beziehung. Als ich noch nicht
klein war und wir in menschlich gleicher Größe zusammenlebten. Und sie
entschied, wie sie ihre Gefühle dosierte. Gleich entschied, was wahr und was
falsch war. Als ob es eine Meinung über Gefühle gab. Der man zustimmen konnte
oder sie ablehnen. Und ich oft hilflos daneben gestanden hatte, um aus ihrer
regungslosen Mimik klug zu werden, weil sie sich nur nach innen bewegte und
alles reden darüber nur ein beliebiger Leitartikel in der Zeitung war, der
einen Standpunkt vertrat, ihn aber nicht belegte. Erlebte sie Gefühle nur, wenn
sie eine Reaktion von mir erfuhr. Und erlebte nur ein Fühlen, was keines war,
wenn sie diese in falsch oder richtig einteilte. Definierte sie gleich selbst, was
richtig oder falsch war. Und hatte dann eine Erregung. Dadurch erst. Und mußte
immer Attraktion sein, mehr noch bleiben. Ein Umstand wohl, der wichtig war,
für all diejenigen, die Ihre Gefühle verlieren und für die, die sie für immer
verloren haben.
Gefühlsautisten
sind Gefühlsartisten. Platzierte ich meinen eigenen Artikel
in die Zeitung aus Papier und Druckerschwärze unter meinem raschelnden Bäumchen
und kratzte mich am Bäuchlein. Er fiel unter den anderen Blättern so gar nicht
auf. Unter neunhundertneunundneunzig Artikeln war er der Tausendste, der sich
ein Gefühl erlaubte, nur wollte er nicht richtig sein, wie alle anderen zuvor. Setzte
ihn gleich unter die Meldung: Der Zirkus
war jetzt in der Stadt. Nach den Erlebnissen mit dieser Frau. „Sind
Gefühlsartisten. Sie schwingen sich von Trapez zu Trapez, so wie es kommt, und
hoffen, vom Netz weiter unten und Applaus aufgefangen zu werden, so sie nicht
die Stange treffen. Daß sie noch für ihr Versagen belohnt werden, erschien als
Parvenü am Rande. Als Glückskind der Manege. Verbeugung, ab, und keine Regung
in der Miene. Selbstlosigkeit ist ihnen fremd. Aufmerksamkeit Mittel zum Zweck,
die eigene Belanglosigkeit in den Schatten zu stellen. Scheinwerfer aus, die
Zuschauer gegangen, dann aus Selbstmitleid, in stiller Ecke des Zirkuszeltes
leise zu weinen.“
Und
würde es mit den Jahren besser werden? Ich stellte mir diese
Frage. Unter meiner Linde. Womöglich wägte ich die Wahrscheinlichkeit der Dauer
des Verharrens auf ihrer Lippe ab, wie lange es wohl noch dauerte – Zuversicht kam als Größe hier zum Tragen –,
bis ich ihr von dieser entschlüpfen könnte und vor allen Dingen wieder auf
normale Größe kommen würde. Ging sie doch an jede Sache akademisch heran und
nicht mit Erfahrung. 35jährige Gefühlsautisten
sind wie 25jährige Gefühlsautisten. Sie sind nur zehn Jahre älter. Fürchtete
ich. Fehlte also die Fähigkeit zur Selbstreflexion, sich selbst, in Frage zu
stellen. Selbst mit den Jahren. Hieße das wohl für Gefühlsnarzissten – verliebt ins Abwesendsein derselben zu
sein –, sich selbst zu verneinen und käme dies einer Verzichtserklärung
gleich. Darauf zu verzichten, nicht angemessen zu reagieren, darauf zu
verzichten, kein Mitgefühl auszudrücken, darauf zu verzichten, sich selbst in
den Mittelpunkt zu stellen, darauf verzichten, relevant zu sein. War sie sich
das Wichtigste. Und war es wohl gesund, sich selbst wichtig zu sein, ein wenig
zumindest, so war sie sich aber wichtiger als alles andere in einer Welt, in
der sich immer mehr noch wichtiger
wähnten. Und die sich dann noch wichtiger und nöcher, und weitere umso mehr.
Einem Wettstreit gleich um Wichtigkeit. Nur, daß man sich nicht Potenzieren
konnte, nur einfach war. Ein einzelner Mensch. Und war es nicht gesund, auf
Dauer jedenfalls nicht, sein Wesen zu duplizieren. Um mit den vielen Ichs
gleichsam glücklich zu werden. Wurde es einfach zu eng in einer
2-Zimmerwohnung. Und im Draußen?
Sie trat jetzt aus der Kammer, eine Kabine. Befanden
wir uns im Lichte dezenter Frauen wieder. Zwischen bunter Kleidung. Ein
Widerspruch könnte man meinen. Als schlichter Mann zumal. Und sei er schlicht noch
so klein wie ich. Kleiderbügelrascheln. Abtasten, was könnte wohl die andere
meinen. Konzentriertes, man könnte sagen, gefühlsloses Ausprobieren. Gelähmte
Mundwinkel. Samstags bei H&M. Daher
mein Unbehagen. Und täuschte man sich mit seinen Gedanken, daß es an anderen Umsatztagen
anders wäre. In Händen das neueste Kleid für 14,99 €. Bunt. Als Versprechen für
die Zukunft, zumindest auf die Hoffnung auf den Sommer, nicht wie Gefühle,
ungetragen zu werden. War es dieser Frau, auf deren Lippe ich mich nun von
meinem Nickerchen verabschiedete, gähnte und ich alle Ärmchen streckte, wichtig,
allen mitzuteilen, was richtig oder falsch war. Entschied ich mich gegen eine
Meinung.
Aber nicht gegen ein Beschauen. So war es wohl. Die
Welt zu retten mit 14,99 € am Leib. Die Näherinnen in Bangladesch – soweit ging die
Solidarität unter Frauen dann doch nicht – würden es ihr wohl mit Kußhand danken.
Hatten sie alle Hände voll zu tun, die Nachfrage von Frauen ohne Gefühle zu bedienen.
Nicht von Männern wohlgemerkt. Von Frauen. War von Männern und Menschen in diesen Gedanken nie eine Rede. Fühlte
sie nichts, als sie dieses Kleid bezahlte. Es ging nur in ihr Eigentum über.
Wie Gefühle anderer, über die man verfügen wollte. Was sie sehr häßlich in
einem schönen Kleide machte.
Es
tanzen immer die häßlichsten Frauen mit den kürzesten Röcken auf den
wackeligsten Tischen.
So stellte ich sie mir im Inneren vor.
*
Wie es weiter geht: Der Esel und ich. Der
Esel nennt sich stets zuerst.