"Hallo" ist das Pfandleihhaus des "Aufwiedersehn"...



Miniaturen des Absurden

Betrete mit der Miene der Abfälligkeit und erhalte Einlaß

Vom Jardin du Luxembourg zum Panthéon brauchte es schon mehr als platonisches Innehalten, um sich Gehör für Gesehenes zu verschaffen. Da...

Dienstag, 26. Mai 2015

Die Kasse stimmt nicht!


„Sammeln Sie Treuepunkte?“

„Nein, danke.“

„Sammeln Sie Treuepunkte?“

„Nein.“

„Sammeln Sie Treue…“


Mann auf Montage. Mal hier, mal dort. Mal kam er ganz spät in der Nacht zurück. Mal wochenlang auf Achse. „Ich sehe ihn ja selbst kaum mehr, hihi.“ Sagte sie, um sich die Schmach zu ersparen, zuzugeben, daß sie. Und. Sowieso. Nur war. Wie die anderen. Wie die, die doch nur dafür gemacht waren. Wie jede Kassiererin im Ilga-Markt in der Hinterstraße. Chips von Lays, die bestimmt niemand essen mochte, für 1,11 € im Angebot. Leerdamer für 1,33 €. Den mochte man noch weniger. Dem Kind zuhause ersparte sie die Einzelheiten eines Lebens auf dem Standstreifen, an dem sie nun saß, und bereitete es lieber mit selbstgebastelten Hausaufgaben auf ein Leben in einer dieser Zubringerstraßen vor, die so viele Möglichkeiten für Firmenparkplätze offen ließen, und nicht für Abzweigungen gemacht waren. Bloß keine Abzweigungen. Oder Ablenkungen. Oder Abschweifungen. Als nächstes wird sie ihrem Kind einbläuen, wie man richtig verhütet. Da reichte nicht nur eine Tüte. Ihr Kind wird niemals Kinder haben. Das war der Plan. Wie der Mann abhandenkam, das behielt sie lieber für sich. Und ob da auch ein Plan dahintersteckte. Sie zeigte den Schmerz nur schimmerlich. Wann immer jemand seine Lieblings-Chips aufs Warenband legte und sie diese abkassierte. Oder seine besonderen Haribo. Oder Kümmelkäse. Heute war wieder so ein Tag. Die EM war im Gange, und irgendeiner brauchte unbedingt Lorenz Chips Western Style, um den erwarteten Sieg gegen Portugal zu beknabbern. Nicht im Angebot. 1,89 €. Üblicher Preis. Man mußte schon auf Silvester warten, bis die mal wieder im Angebot waren. Lays reichten nur für Niederlagen. Nicht im Angebot war auch ihr Lächeln. Auch wenn es sich mehr als nur einmal im Jahr anschickte, sich blickenzulassen. Aber nur halbtags. Und gegen Bezahlung.


„Wollen Sie den Bon?“

„Ja, gerne.“

„Sammeln Sie Treuepunkte?“

„Nein, danke.“


Nicht jeder sagte Danke. Der nächste Kunde, die nächste Magengrube. Sie hatte schon längst aufgegeben, sich Gedanken über die Essensgänge der anderen zu machen. Wer nur abkassiert, der hat nur mehr den Strichcode im Blick. Und ob der verdammte Scanner endlich piepte. Die Nummern für Getränke hatte sie im Kopf. Backwaren mußte sie nachgucken. Nur wer ständig Alkohol brauchte, den notierte sie sich. Gab es doch nicht immer einen Grund zu feiern. War auch kein Trost, daß es anderen noch schlechter ereilte. Und waren die genehmen Kunden auch nur Strichcodes. Und piepten auch nur. Es bleiben so viele. Von ihrem Sitz aus huschten sie wie beliebige Striche vorbei.

Es gab auch unangenehme Kunden. Aber die bleiben nicht mal an ihrem Kittel haften. Mit Pflaster war ein anderer Name überklebt. Dort drauf hatte sie ihren geschrieben. Keine guten Aussichten für Karriere im Ilga-Markt in der Hinterstraße. Blieb der Markt unter ihren Fähigkeiten. Wie üblich. Wie das bei jeder Kassiererin so üblich war. Und wie wenig Beachtung man ihnen doch nur schenkte. Oder nur übellaunig war. Weil die zweite Kasse nicht schnell genug öffnete. Sie mußte erst die Werbung abwarten, bis die Durchsage durch die Gänge hallte. Da blieb auch für eingeplante Pausen wenig Zeit. Egal. Ihre Schicht endete.

Sie nahm die Geld-Kassette aus der Kasse, sammelte noch Pfand-Bons ein, die sich so im Laufe eines halben Tages angesammelt hatten – nicht eingerechnet die, die sich in ihr Leben eingeschlichen hatten, ganz anderswie –, verließ ihren Platz und hetzte zum Aufenthaltsraum nach hinten. Erst mal einen Schluck aus der Cola, die abgestanden, aber wenigstens zuckerfrei war, ein Blick auf die Wanduhr, die schon bessere Zeiten bei Kassiererinnen gesehen hatte, dann noch Kasse zählen. Der unangenehmste Teil des ganzen Tages. Fast so unangenehm, dem Filialleiter einen schönen Tag zu wünschen. Wenn die nicht stimmte, dann könnte ihr noch so gutes Anderes widerfahren, dann war die Kacke so richtig am Kondensieren, und brachte noch nicht mal Glück, wenn sie sich ungewollt mit einem Schuh verlobte.

Sie war spät dran. War aber Hetze gewohnt. Die letzten zehn Jahre hetzte sie von einem Ort zum nächsten Abhaken und überholte Usain Bolt im Sprint, der dafür eine Menge Ovationen und noch mehr Lob und sogar Geld einheimste. Blieb aber gewissenhaft. Und diszipliniert. Was für keinen Ausgleich auf der Gefühlsplatine sorgte. Ihr Kind war ihr Gefühlsauftrag. Leben, das sie schenkte. Und Geschenke gibt man nicht zurück. Erst die Scheine, dann die Münzen. Dann würde sie sich erst mal fünf Minuten lang den Reichtum von den Händen waschen.

1,89 € fehlten.

Scheiße. Kein Grund für Panik. Nur verzählt. Die Zeiger auf der modrigen Uhr tockten. Also noch mal von vorne. Erst die Scheine, dann die Münzen. Dann würde sie sich erst mal fünf Minuten lang die Scheiße und das Glück von den Händen waschen.

Am Ende blieb: 1,89 € fehlten.


Und alles, was sie an diesem Tag nur noch mehr haßte, war, daß es überhaupt diese verdammten Chips gab.








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Freitag, 22. Mai 2015

Zwölf Männer fingen einen Floh


Sie fingen ihn gleich so:

Der Erste schnappte ernst nach Luft – und fing ihn mit den Fingern ein.
Der Zweite tat es ihm mit einem Schnippen gleich.

Der Floh sagte erst „Hallo“, sah sich um – schon war er wieder auf dem Sprung.

Der Dritte wollte anders sein. Und schaute dem Vierten in die Wäsche rein.
Es juckte und er kratzte.

Der Floh sagte erst „Hallo“, sah sich um – schon war er wieder auf dem Sprung.

Der Fünfte nahm ein Glas zur Hilfe, stülpte es dann über.
Vergaß, es auszuleeren. Schon war seine Chance wieder rum.
Der Sechste setzte eine Lupe drüber: Der Floh badete im See der Gefühle.
In fetter Milch, auf einer Rahmblase und winkte.

Erst sagte er „Hallo“, sah sich um – schon war er wieder auf dem Sprung.

Der Siebte wollte schneller sein. Und setzte sich ans Schießgewehr – pa-pa-peng!
Der Achte dachte, er sei schon wer …und stellte sich davor – pa-pa-plumms!

Erst sagte der Floh „Hallo“, sah sich um – schon war er wieder auf dem Sprung.

Der Neunte brauchte mehr: Beim zweiten Schnall – ein Fall.
Der Zehnte nutzte sein Gespür für Stille, der Elfte für die Hälfte einer Pille.
Der Zwölfte elf der Arten wie zuvor.

Der Floh war immer höflich und sagte: „Hallo“.

Sah sich um – schon war er wieder auf dem Sprung.

Nur einer fing den Floh nun wirklich.

Nur der eine Hund – ein Streuner, treuer Wegbeschleuniger – war wirklich schlau.
Sein Köpfchen hell.

Er ließ den Floh einfach…

…in sein Fell.


Erst sagte der Floh: „Hallo“,
Dann: „Hier gefällt es mir!“
Winkend biß er in den Wedelschwanz hinein.

Auch der Hund war höflich,
Sagte schon „Hallo“ und sah sich um.
Er wartete, bis alle Zwölfe in seine Richtung staunten.

„Als Bissen gefällst Du mir!“, raunte er.

„Hüpf! Hüpf!“


Und drückte seine Schnauze rein.







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Montag, 4. Mai 2015

Andorra


Es gibt Orte, die bezirzen mit nichts als ihrem picture perfect Style. Paris ist so ein Ort. Zumindest jenseits der Vororte. Die Pont des Arts war es mal. Bevor all die Liebesschlösser ihre Last auf die Schultern dieser Brücke entluden. Oder Las Terrenas. Mit diesen Korallenriffen, die so surreal unter Wasser schwebten. Oder Aspendos. Zurückversetzt in eine Zeit der Antike. Oder Langkawi. Mit seiner gelassenen Schwüle.

Und es gibt Andorra.

Andorra ist der bizarrste Ort, den ich je aufgesucht habe. Von San Sebastian kommend Richtung Carcassonne, am Fuße der Pyrenäen entlang, die ihre Zehen tief in die Südsonne krallten, bogen wir kurzentschlossen ab, wohl weil wir wahrscheinlich nie wieder die Gelegenheit nutzen würden, diesen Ort zu besuchen, und fuhren die steile Straße in die Berge hinauf, ohne zu wissen, daß die besten Fritten unseres Lebens auf uns warteten. Karges Grün um uns herum, Geier über unseren Köpfen, die so aussahen wie Adler, und dann inmitten dieser Stille, die nur die Pyrenäen ausstrahlen – ein Stau. Lauter Franzosen, die in Andorra billig einkaufen wollten. Benzin vor allen Dingen, war Andorras erster Eindruck, der einer Tankstelle. Aber vielleicht tat ich den anderen ja Unrecht, vielleicht wollten auch sie nur diese unwiderstehlichen Fritten essen, die in Andorra La Vella bei McDonald’s auf uns warteten. Da reist man um die halbe Welt und wo geht man essen? Bei McDonald’s. In Thailand gab es mal einen skurrilen Reisburger. Oben Reis, in der Mitte das Fleisch und unten wieder Reis. Das alles in Form eines Burgers. Und geschmeckt hat er auch nicht wirklich.

Andorra begrüßte uns mit bunt gekleideten Menschen, dort im Tal, die so bunt waren, wie man sich lebendig gewordene Menschen aus Tim und Struppi-Comics vorstellte. Daher das Bizarre. Und diese begrüßten uns, als wären wir aus dem s/w von Tote tragen keine Karos entsprungen. So verschiebt man seine Perspektive. Und begrüßte mit dem Nichts der Lässigkeit bekleidet, die man trägt, wenn man ungesehen aus der Morgendusche steigt. Aber wo war ich? Ach ja. Bei den Fritten. Die Fritten bei McDonald’s in Andorra La Vella waren dicke Scheiben, die man mit Schale frittierte. Und die eine Würze hatten, die benommen machte. Die man mit hungrigen Fingern aß und die man schon, da man sie gegessen hatte, nochmal essen wollte. So unwiderstehlich waren sie. Ähnliches geschieht nur bei Rouladen mit Rotkohl und Klößen und dicker, fetter, dunkler Soße. Menschen dagegen – und verheißt ihre Fast-Food-Gefühle-Verpackung noch so Appetitliches – sind für mich nicht unwiderstehlich. Sie erinnern mich immer an den faden, geschmacklosen Reisburger in Thailand. Sie verlangen den vollen Preis, doch bleiben den Geschmack der Exotik schuldig. Sie geben vor, andorranische Fritten zu sein oder Saté aus gegrilltem Hühnchenfleisch mit Minzsoße, aber sind doch nur mürrische Ackerrüben aus deutschen Landen.

Tim und Struppi-Menschen, Fritten. Mehr braucht es nicht, um sich wegzuwünschen.


Andorra war der bizarrste Ort, den ich je besucht habe.







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