"Hallo" ist das Pfandleihhaus des "Aufwiedersehn"...



Miniaturen des Absurden

Betrete mit der Miene der Abfälligkeit und erhalte Einlaß

Vom Jardin du Luxembourg zum Panthéon brauchte es schon mehr als platonisches Innehalten, um sich Gehör für Gesehenes zu verschaffen. Da...

Sonntag, 1. Mai 2016

Stella heißt Stern


Stella heißt Stern. Stella saß in einem Café im Sommer im Streicheln eines gepunkteten Kleides, die Beine zum Zeigen überschlagen, die Menükarte zum Verbergen, und darin die Bestellungen des Zügelns zum Verschweigen. Stella konnte alles werden in diesen Welten, die einem zum Leben auffordern und dann abblitzen lassen, weil man das falsche Lächeln auflegte beim richtigen Mann. Stella konnte richtig fies sein. Stella konnte richtig schön sein. Dabei entschied schon mal das Tagesangebot in der Menükarte, was Stella sein konnte. Konnte nicht so einfach nur schön sein.

Stella bestellte sich von einem Kaffee, von einem Stück Kuchen zum nächsten Streuselkuchen zum nächsten Malzkaffee zum nächsten Nachmittag. Das war Stellas Leben. Und vielleicht war es nicht ihre Schuld, daß sie lebte. Aber sie lebte nun mal. Und aß. Und trank zum Kaffee noch ein Schluck Wasser. Und vielleicht lag die Schuld bei anderen. Und vielleicht ist ein Vielleicht alles, was einem bleibt, wenn andere darüber entscheiden, ob man Kaffee trinken darf und Streuselkuchen essen.

Ich traf Stella in der Trambahn. Ich war es gewohnt, mich in der Trambahn zu verstecken. Menschen in Bewegung schauen andere nicht an, wenn man die Bewegung mitmacht. In der Trambahn nicht. Weichen sich Blicke aus. Lebte ich davon, von ausgewichenen Blicken. Die Hüte ins Gesicht gezogen, zog Berlin die Blicke von innen der Trambahn nach draußen. Aber dann kam Stella. Und Stella war so schön. Und Stellas Blick zog meinen nicht nach draußen. In ihrem Lippenblick, leuchtend rot, lag zu sehr das Begehren. Sie küßte mich.

Brachend, Berge, ausgezogene Körper, Knochenmenschen, brachend Gestank, übereinander geworfen, entleerte sich aus ihnen noch nicht einmal die Scheiße, wenn die Mägen eingefallen und leer, brachend Arme, brachend Längen, brachend Beine, Augeneier, brachend aufgerissen, brachend geschoren, brachend verdammte Hitze, brachend Verstand, Zertrümmertes, brachend auf die Knäul eingeschlagen, auch dann noch, damit sie handlicher waren, war ich, der sie schleppte, und fluchte, daß sie auch dann noch schwer waren, als sie es nicht mehr waren, kaum schwerer als ein Kind, aber fluchte, keiner hörte mein brachend Fluchen, aus den Duschen, aus den Stapeln, aus den brachend Fuhren zu den brachend Öfen. Dann.

Als ich auf den Karren warf, den nächsten, noch den nächsten, und noch den nächsten, und sie stapelte, damit sie verdammt noch mal nicht beim Ziehen durch den Dreck herunterfielen, und zu der Hitze zog, durch den Dreck, und fluchte, und ohne Regung, und ohne je zu reden, und die Körper, Knochenmenschen, so vor den Ofen stellte, den Karren, damit es mir einfacher war, und vom Karren griff, wahllos, wie in eine Lostrommel der schönen Zeiten im Tiergarten oder dort Cakes, die man Kackes aussprach, später Keks, und kaute und spazierenging, und alle Berliner, oder Wannsee, und badete, und mit bloßen Händen nach Fischen schnappte, und auch einen mal fing, und ihn lachend in die Höhe reckte, wie alle Berliner, und ihn über den Umweg des Himmels, in den ich ihn schmiß, ins Wasser entließ, und der sich über seine Freiheit noch beschwerte, wahllos griff ich in die Körperkarren, und in den nächsten, aus dem Stapel, und den nächsten, wahllos, und die aufgesperrten Augen ohne Lider, die sich weghungerten, und griff hinein in den nächsten, nach dessen Kopf darunter der nächste Schädel, und darunter der nächste Kopf und darunter der nächste Fisch, den ich über den Umweg des Himmels ins Feuer des Wassers schmiß, und mich beschwerte, daß sie doch schwerer als ein Kind waren, schwerer als meine geliebte Nichte, die ich am Kurfürstendamm in den Himmel hievte, und das Eis, das ich ihr kaufte auf meinen Hut tropfte in der Hitze dieser Liebe, unter den nächsten Schädel vor dem Ofen, aus dem Karren der Lostrommel kam Stellas wunderschönes Gesicht zum Vorschein, und lag nun vor mir, die Haare weggeschoren, gebettet auf Knochenbergen, und dieser brachend rote Lippenstift auf den geöffneten Lippen, lag sie vor dem Begehren nach Kaffee und Streuselkuchen in jedem Sommer, und auch wenn ich es gewohnt war, den Blicken zu entgehen, um mein Leben zu retten, nur einmal nicht, und diese brachend roten Lippen in Lippenschrift, auf dem Karren, vor dem Ofen, lagen, und dem Leuchten in ihrem Gesicht, zog es vor den Blicken der anderen meinen Kopf nach unten, zu ihr hin. Und küßte diese Lippen. Vor aller Augen.


Dann brachend.










*









Mittwoch, 27. April 2016

L


Lisa hat ein Problem.

Nun, da Laura dasselbe hatte und der Sommer sich dort zeigt, wo er am schönsten ist – am Eisbecherstand, oder im Fernsehen –, sollte ich Lisa jetzt mehr Aufmerksamkeit widmen.

Lisa – die dasselbe Problem wie Laura hatte, das zweite war, daß sich eine Dame nie mit einer zweiten verglichen sehen will; aber das ist aus meiner unbefangenen Sichtweise, die sich mir im Laufe der Zeit ausgeprägt oder eingebildet hat, nun wirklich vernachlässigbar – ist entzückend. Das stammt nicht von mir. Das Wort. Entzückend. Und es war auch nicht für Lisa bestimmt, aber es stimmt. Lisa ist nun mal entzückend.

Und während ich mir schon vorstelle, wie wir unsere Kinder aus den Tagesbeschäftigungsstätten des Bildungsangebotes wechselseitig abholen, unseren geregelten Tagesalltag organisieren, um müde am Tage oder am Abend zwischen den vielfältigen Beschäftigungsfeldern wie Schreiben und Fernsehen hin und her zappen, als wäre dies bei Menschen so ohne weiteres ohne weiteres so einfach möglich, nagt ein kleines bißchen, klitzekleines bißchen Lisas Problem an meiner Kopfhaut.

Ein fast nicht verspürbares Jucken. Nicht weiter wichtig. Aber vorhanden. Und so kratze ich es. Nur ein bißchen. Ein klitzekleines bißchen kratze ich an meiner Kopfhaut. Hm, nur das Jucken bleibt.

Während also unsere Kinder heranwachsen, uns stolz über den Kopf wachsen und uns in weiterer Hinsicht – dieses Wort kommt entzückenderweise verhäuft vor – auch nicht allzu peinlich sind, wir ihnen selbstredend vor ihren Freunden natürlich auch nicht, während wir unserer Beschäftigung nachgehen, stemme ich mich gegen den schon ausgeprägten Juckreiz, den ich mit den Jahren allerdings erfolgreich – also vor ihren wunderschönen Augen – zu unterdrücken versuche. Wären sie nicht so wunderschön, so unterdrückte ich ihn wohl weniger ausgeprägter, aber umso effektiver, damit Lisa sich keine Sorgen darum machen müßte, was denn nun Lisas Problem, klitzekleines Problem sei.

Nun, daß sie dasselbe Problem wie Laura hatte, das ist offenbar kein großes Geheimnis mehr. Und für unsere Beziehung spielte das im weiteren Verlauf auch keine weitere größere Rolle. Aber es juckte. Mit der Zeit. Erst die Kopfhaut. Dann am ganzen Körper. Und während ich mich vermehrt duschte, nachdem ich Lisa zur Begrüßung drückte, nachdem sie von ihrem Fernsehjob zurück in unser behagliches Nest zurückflog oder zur Verabschiedung, wenn sie zu ihrem Job flatterte – und ihn asymmetrisch gut beherrschte, wobei ich mir ihre Asymmetrie wohl eher einbildete, weil sie ihre Kopfhaut samt Frisur so asymmetrisch schön trug, daß ich sie bei ihrer Arbeit vor der Kamera kontrollierte, es ihr aber verschwieg, daß ich es tat, damit sie sich nicht so ohne weiteres kontrolliert vorkam, auch wenn es sich nicht vermeiden ließ, daß noch zwei, drei andere Zuseher den Fernseher einschalteten, um ihr bei der Arbeit zuzuschauen –, versuchte ich, dieses Jucken eher auf mich zu schieben, mir also ein Problem zuzuschreiben, daß zweifelsohne nicht meines war – nämlich Lisas – und dieses so auf mich nahm, damit sie eines weniger hatte und ich endlich mein Jucken loswürde.

Während also unsere Kinder studierten und in dieser Zeit der Praktika, Auslandssemester und Umbrüche ihre Partner wechselten, häufiger als ihre Facebook-Freunde, und sich für sie alles zum besten ihrer Eltern – also uns – entwickelte, nahm ich Lisas Problem, die sich mehr und mehr in das Sommerprogramm der Wetterschau entschuldigte, an. Sie kam zu einem schreibenden, sich ständig waschenden Hausmann, der sie alsbald, als sie zur Tür herein kam, zur Seite nahm, ihr einen Knutscher auf die Wange drückte, nachdem er dieses schmale Persönchen lange drückte – und rubbelte sie ab, kratzte sie am ganzen Körper, fing mit den Oberarmen an, arbeitete mich zu den Handgelenken vor, dann beide Seiten des Rumpfes, dann den Rücken, dann die Oberschenkel und so weiter. Dies wiederholte ich einige Jahre.


Bis Lisa – die dasselbe Problem wie Laura hatte – sich endlich ihr Problem eingestanden hatte.














*







Es gibt auch noch Lor, Lia, Linda. Irgendwelche Vorschläge, welche Baby-Vornamen ich sonst noch nicht verwenden darf, hm?
Ich habe wohl eine Vorliebe für Namen mit L, Chloe, Balia. Und wer sonst noch?
Amateurhaft beschreibe ich, wie schamlos intim Fernsehen geworden ist:

Frontales Gesicht, Großaufnahme, lange Blicke.

Und wie Fernsehen in die eigenen intimen Wohnräume eindringt, schon in körperlicher Nähe, als simulierte es eine private Beziehung mit dem Fernsehzuschauer und täuschte sie ihm vor samt gemeinsamen Einzug ins Lebenszimmer, um dranzubleiben beim Lebenskuscheln. Das Gesicht ganz groß und lange Blicke:

Hey, vielleicht wird ja noch was draus zwischen uns beiden. Dir und mir, süßer Flat-Screen.

Frontales Gesicht, Großaufnahme, lange Blicke kennt man aus privaten Beziehungen.
Die sind sehr intim. Und interagierend. 
Üblicherweise wendet man den Blick ab, um intime Blicke abzumildern, wenn fremde Menschen sich gegenübersitzen. Fernsehgesichter wenden sich nie ab. Gleiches gilt für Instagram-Gesichter, die sich nur frontal zeigen. Nah. Näher. Noch näher.
Daher schon fast das Körperliche. Als Zuschauer ist man dem ausgeliefert. 

Also warum daraus nicht gleich eine Beziehung machen? 

Verschriftet. Juckend. Netzhaut an Netzhaut.

Fernsehen geht mittlerweile weit über das 'Gesicht-Zeigen' hinaus. 
Es nutzt Reiz- und Silhouetteneffekte schamlos aus, die man sonst nur aus der Brutpflege und Paarbildung kennt.
Fernsehakteuren fällt das zu Intime gar nicht mehr auf.
Nur, wenn man drüber schreibt und sie damit ironisch konfrontiert.
Dann empfinden sie es als zu intim und beschweren sich. Und fühlen sich im Recht.
In einer rechthaberischen Paarbeziehung.

Kann Literatur intim sein?

Während man sich selber ob dieser erzwungenen Nähe schon kratzt. 
Läuseküsse nenne ich das. Läuseküsse mit L.
Vom Fernsehen übertragen. Juckt es einen schon. Beim Hinsehen schon.
Beim Netzhautkuscheln. Dieser Nähe wegen.

Juckt es Ihnen nicht auch schon?

Es sind halt empfindsame Gesichter. 
Also lieber nicht zu lange bei einem verweilen und umschalten.
Sonst erröten sie noch.

Und wer will schon Rotstich auf seinem Fernseher?

Natürlich mag es auch reflektierte Menschen unter ihnen geben. Die sind rar:

Und umso toller. 

Die machen sich auch schon längst Gedanken, wie sie ihre Beziehung mit sich führen wollen, während andere ihnen dabei zusehen. Vielleicht besitzen sie Humor und Biographie. Und haben sich eine oben erzählte Abreibung verdient. Humor und Biographie reibt Blicke ab. Wo sonst nur Verwünschungen anhaften.