"Hallo" ist das Pfandleihhaus des "Aufwiedersehn"...



Miniaturen des Absurden

Betrete mit der Miene der Abfälligkeit und erhalte Einlaß

Vom Jardin du Luxembourg zum Panthéon brauchte es schon mehr als platonisches Innehalten, um sich Gehör für Gesehenes zu verschaffen. Da...

Freitag, 18. August 2017

Politik in Zeiten von runden Bäuchen


Nach dem Hunger.

Nach dem Hunger, nachdem man seine Haare aß. An allen Köpfen – Alte, Junge, Kinder – Glatzen. Kühle. Dort am Kopf. Er schuldet mir noch sein Leben.

Sollte man die Erinnerung fragen. Was verdorrte Äcker von sich gaben. Was sie nütze waren. Nach dem Bedauern. Auf den verwaisten Feldern, schreienden Äckern, Furchen vom ahnungslosen Wind abgetragen mit seinem Wispern. Die Krume wußte, daß dort nichts mehr wüchse, außer Auswüchse. Nachdem die gestiefelten Schritte zurück zu den Buden und den Höfen und den Verschlägen kamen, den Raum betraten und die Plätze zählten und die Schemen an den Feuerwänden, die den Aufenthalt zahlten, als begliche man eine Schuld, so man sie forderte, war man nur Bauer. Oder Acker. Oder verzweifelt. Oder verdorrt. Oder verroht. Über Nacht: Erlöst.

Standen dort auf den toten Äckern Hirsegold. Am nächsten oder übernächsten Morgen. Und trauten die Bauern ihren Augen nicht – Bauernland, so weit das Auge reichte, links und rechts ein Baum, der war die Hoffnung, dahinter nur Wolken und fahriger Horizont –, als sie müde aus den leeren Aborten traten – ohne Plumps, zuvor auf Zöpfe starrten – ihren Augen nicht, nicht diesen verknoteten, als sie es dennoch taten.

Waren alle Ehrenfelder voller wunderbarer Ährenfedern und strichen damit den frühen Himmel Gold, als sie gegen das blaue Sonnenlicht kitzelten. Wie wunderdoll! Dieser verkrustete Anblick der Bauern tat. Im Morgenknurren standen sie davor: Und zählten die Garben.

Hielten die aufgedunsenen Bäuche gegen das Knurren, dann gegen die eingefallenen Backen, gegen kahle Bäume so im Dickicht, im Schatten eines Herbstes, im Morgendunst, und glaubten – zu ihren Füßen wäre ein neues Erntereich erkoren.

Sie froren. Kaum Haut über den Knochen. Aber zitterten vor Glück. Dem nur. Weil sie noch zitterten. Vergessen, wie viele Lücken im Maul sich auftaten. Aber jetzt war Galvan begraben. Gab er dem Boden das zurück, was er ihm entzogen. Galvan als Dünger. Nur Jahre später. Als Samen in die rote Erde gepflanzt sein Kopf, als Gebaren und toter Ähren trotz, den Widrigkeiten – ein Junge lief über die Felder, er rief seinen Namen – und Gefahren – brachte dennoch Glück –, Knochen aller Ahnen oder Fahnen Kriegerstolz – und so wehten im Laufen seine Haare, lange Haare, die man dem Jungen hatte gelassen, vielleicht weil man ihn schonen wollte, vielleicht weil man ihn später essen wollte – und wahr!

„Bläh!“, riefen sie dem Jungen entgegen. Der zum Zittern noch das Stapfen in den Boden stampfte. Die Bauern, die Mägde, die sich in Reihe bückten oder zu den Knien fielen vor den gebündelten Garben. „Bläh und furze so laut du kannst!” Und alle lachten. Wirbelte auf. Wind und Staub vermischendes Lachen draußen, an den Leibwänden, gab deren Lebhaft Kraft, nachgewachsen. In aller Stille. Neue Nahrung. Psst… Verbreite die Kunde.
„Verbreite die Kunde!“

„…verbreite die Kunde…“

Warum so viele Worte nötig waren?

Weil sie aus der Erzählung einer Geschichte ragten. Nicht aus der Nähe. Weiter. Oben.
„Verbreite die Kunde von den Garben.“, sagte Unser auf der Mauer stehend. Oben. In teurer Robe. Aus der Ferne. Aus der Nähe: Plätschern drang aus dem Bade. Vom Ungestümen darin wollte er nicht zehren.

„Laufe, renn’. Daß es alle erfahren.“

Und es war, als hörte der Bauernjunge. Er blickte auf. Die Sonne blinzelte. Hoch zu Mor. In der Nähe, in der Ferne. Und die hohe Mauer. Und nahm die Hand zu Hilfe. Nur ein Punkt.

„Nur ein Punkt. Laufe, renn’. Ich bin nur ein Punkt. Verbreite die Kunde. Unter den Punkten. Bringe sie in Bewegung. Laufe, renn‘.“

Unser schob den Jungen mit dem Zeigefinger an, oben, verrückte ihn wie eine Figur auf einer Spieltafel und ließ ihn los, als er glaubte, er selbst würde sich regen – oder den Finger hinterher ziehen –, strich über die Ähren, über die sich die Kundigen hermachten, streichelte die Spitzen mit seinen Fingern, dann griff er zu. Packte die Garben, die gestapelt wie Zelte waren und so verteilt auf den Feldern herumstanden, daß es kein Zufall war – oder wie Scheite waren. Und versetzte sie.
 Mit der Bewegung, die er machte. Als riß er Grasbüschel aus. Und nahm sie an sich. Das war sein Anspruch. Den er geltend machte. Hier von Mor, der hohen Mauer aus, dem Plätschern im Ohr, das im Hintergrund zu Rauschen wurde und zum schnellen Aufbruch mahnte. Nur die Punkte, die Punkte konnte er nicht fassen. Von hier oben nicht. Waren zu klein. Auch später als Ketten nicht. Wobei sie die einzelnen Glieder waren. Aber ziehen. Ziehen konnte er sie da schon. Zog sie zu Mor hin. Nur mit dem Gedanken, der sie zu Fäden machte. Aber erst lebendig. Durch den Ruch, den sie von sich gaben. Er fächelte den Duft zu seiner Nase hin, während er sich durch eine Nische und dort von einer schmalen Stiege vom Anblick trennte. Über Umwege. Eine geballte Faust nahm er noch mit nach unten. Wo Obliegenheit auf ihn wartete. Er preßte sie fester. Bei jedem Schritt. Entlockte aus ihren feisten Gliedern Knirschen. Doch hielt sie verstohlen. Dann… im Hof angelangt streckte er sie vor – nur, um sie selbst zu betrachten, und, vielleicht, um zu bedauern, daß sie nie so fein wie Todans waren, noch werden  – und öffnete sie: Goldgelbes Sonnenkorn rieselte aus der Innenhand auf den Boden. Es trennte die Spreu vom Weizen. Das Knirschen der Bauernsohlen. Die in den Innenhof drängten. Alles klebte daran. Er schlug die Spuren aus der Hand. Klapp-klapp!
Und erinnerte sich: Ja, es stimmte. Beifall war die höchste Form der Verachtung.

Vielleicht auch nicht. Dachte er. Als er Wacherot so auf dem Eselskarren herumstaksen sah. Von einem Ende zum breiten Fender. Durch das offene Tor. Bimbam und Bambam standen sich zum Verlieben gegenüber. Mit ihren Hellebarden. Die man ihnen zum Troste für das Neue übergab. Unser drehte sich weg. Und wischte sich die Hände ab. Beide. Taten es so. Wacherot. Mit gleicher Gültigkeit. Unser von der Brust zu den Hüften. Wacherots – draußen – blieben schmutzig. Dafür blieben seine Kleider rein. Beiden juckte der Hintern. Sie kratzten sich. Der Esel gab Geschrei. I-ah, i-ah. Ja, es stimmte.
 Die höchste Form der Achtung klang nur wie aufgeregtes Schnauben im Knarzen und Kratzen zwischen den beiden Ausblicken eines Karrens, vorne, hinten – ließ die sich auch nicht fragen, woher die Garben kamen, die auf den Feldern lagen. I-ah, i-ah. War der Esel der einzige an diesem Tage, der sagen durfte, was er wollte. Durch seine zotteligen Hasenlöffel hinaus reimte sich sein Sagen auf die Scharen. Nein. Es schien nur so. Wacherot sprach hindurch. Er packte beide Langohren und bog sie auseinander. Mehr als es dem Esel lieb war. Die Lippen zogen sich gleich über die Zähne zu einem Lächeln. Dann stellte sie Wacherot wieder auf. Vielleicht, um zu hören, was denn am Wegesrand geplappert wurde. I-ah, i-ah, sagte der Esel.
„Bläh und furze!“ Die anderen. So laut, daß alle lachten. Als andere vorne an der Reihe diese Kracher brachten und im Dimpfeldunst mit Händen fächelten.

So sie denn frei von Garben, Körben, Säcken oder bar zu ertragen waren – im Strom der Waren, der sich bildete –, aber den Duft des Magens in sich hinein schnatzelten – i-ah, i-ah, ganz froh – mit wunderbaren Nasen, die wundersam dazu geschaffen schienen… um selbst an der Reihe all der guten Erntewaren am Steiß des Vordermanns zu näseln. Mhm, schmatzten sie. Welch gute Prrts und Plupps das waren. Nach all den Haaren. Bläh und furze! Immer den Nasen nach. Blieben nicht ungerührt. Dadurch bewegt. Blieb für Wacherot, der Karren samt Esel blieb am Rand:
Den ersten an der Nase herum zu führen. Damit auch alles Wegtragen zu Mor führte. Zu den Toren, zu Bimbam und Bambam. Zu den Hellebarden. Zu den Haufen im Hof dort, zum Speien. Zu den Vorgängen, den im Gange dort.

Unser schüttelte verächtlich mit dem Kopf und hielt am Brunnen vorbei zur Küche zu. Dort war neben der einzelnen Tür eine zweite eingelassen worden, und beide flatterten nun wie ein Vogel mit den Flügeln. Weil die Küchenmägde dort heraustraten, griffen in den Stapel vor der Kornkammer und ins Kauen, rümpften die Nase und mit Körner zum Brote backen hinein. Schwangen die Hälften nach Belieben. Nach innen und nach außen. Zusammen. Oder gegeneinander. Um den Geruch durcheinander zu wirbeln Wie Liderklicken. Zappeliges Augenzucken bewegte zumindest die Luft vor der eigenen Nase. Unsers klackerten sich auf das Flattern zu. „ein Korn Verdauung…“, nuschelte er sich durch den Reigen. Er schlug ein Tüchlein aus dem Seitengreif der Robe und hielt sie den Freuenden vor, dann auf Mund und Stinkerei.
„…gibt dem Volk von Farn die Stimme zurück. Hm, wenn schon nicht die aus rotzlosen Kehlen. Dann die aus Mägen.“

Wie er sich irrte! Sollte er die Bimbams und Bambams mal fragen, die sich über die Pfütze vorm Torbogen wunderten, an Galvans Grab, nun, nur dem seines Kopfes, wo sich jede Petze und jeder Leib sein eigen Spuck verneinte, versicherten und sich ebenso verwundert gaben, und nochmal spieen, als die Bams wegguckten, aber folgte doch lieber dem Lockruf des Küchenvogels und dem Gesang des Backens der Brote. Klapp-klapp, klapp-klapp.

„Die armen Mäuler.“

Er kam nur langsam voran. Dann verhedderte er sich auch noch, mehr sein schöner neuer Knittelrock in einem der derben Füße. Die entschuldigten sich. Zogen ihn aber in den Strudel. Er zerrte gegen.
„Paß doch auf, du Dummbratz!“
Er wickelte sich um den eigenen Mittelpunkt. Endlich kriegte er den Saum zu fassen, zog und… scherte sich durch den Strom auf die andere Seite. Er klopfte ab. Klapp-klapp, klapp-klapp. Ah, der Vogel. Die Küchetüren sprangen auf. Er stapfte darauf zu. Erinnerte sich des Gedanken.
„…sind faul vom vielen Kauen auf den Strähnen.“
Lauter: „Auch vom Kauen auf der Hoffnung.“, blaffte er eine Magd an, die schrak hopsend vor. Und machte Platz. Er schritt über Spreu. Auf dem Knacken. Klapp-klapp. Beifall ist die höchste Form der Verachtung.

Auf dem Knacken der Käfer – so es gute Tage gab – und auf dem Knabistern der Heuschrecken, die sich eines Morgens auf den Ackerkrusten verirrten, deren Vorhandensein den Morgen nach dem Aufstehen sowie die Krusten gleichbald überraschte, gab es doch nichts zu naschen, nichts für Heuschrecken so man nicht unbedingt wie Heuschrecke aussah – wahrscheinlich hatte sie der ahnungslose Wind von den Bergen über Nacht hergetragen –, und sie warteten wohl auf den Wärmeschlag der Sonne, der die kalterlahmten Flügel zum Weitertragen belispeln sollte, um woanders nach dem Almosen zu fragen. Ratsch! Und knirsch! Und schaut! Heuschrecken baten nicht, Heuschrecken bat man nicht. Fingen die Bauern so viele ein, wie sie selbst erlahmt vom vielen Schlaf noch fangen konnten. Erschlugen sie mit den unnützen Schlegeln, holte sie aus den Verschlägen, die so ihren Nutz behaupteten, für den einen Tag wenigstens oder warfen sich gleich bäuchlings drauf. Und bäuchlings rein! Und ratsch! Und schmatz! Und kau! Kauten lange auf den Flügeln der Schrecken rum – halfen gegen den Durst und ließen den vollen Mäuler ihre Eitelkeit, wenigstens aus der Entfernung blitzende Zähne und von Nutzen zu sein. Die ungenießbar waren – satt sahen sich die Bauern an – und so dann auch nicht gerne vor Ort auf den Feldern von Farn bei all den hungrigen Mäulern, die noch kamen – ihren Schrecken taten. Sie flohen. Die Schrecken. Der Schrecken für die Bauern blieb. Band der sich keine Flügel für das Weiterkommen um. Gebunden in der Erde, auf der er stand. Staunte ihnen nach. Mit den ersten Strahlen. Gen Norden. Dort zum Meer hin. Was sie anzog?

Nicht der Turm. Der Hafen dort. Nicht der Fischmarkt. Die Schiffe dort. Das Flattern der Segel vor Ort. Warfen ihren eigenen Schatten dort. Warfen dort Anker. Auf die Gesichter dort, welche die Bäuche der Boote auf die Kaimauer spuckten. Hungrige Bäuche, baldiges Knurren, finsteres Blinzeln und Tätscheln der Wämse. In Händen derer der Tod oder vom Angeben davon. Schwere Schmieder, rauhe Lieder, Sold im Blut. Und an ihren haarigen Rüstungen – der König von Broa bestellte sie her – goldenes Gut. Streu. Vom Weizen. Vom Hafer. Von Hirse und Allerlei. Das tief im Rumpf der Boote lagerte. Dazwischen die Mannen. Weizengarben, Säcke voller. Die Knechte nun nach den Bäuchen aus den Schiffdärmen rausbröselten. Dabei – zwischen den gekerbten Mienen, den fremden Stimmen und Tonlagen, die in die Stadt einliefen, sich stießen und rauften und sich Treppe über Treppe so versorgten, je nach Gespür, je nach Gespartem, Bier, Braten oder Weibsgekarrtes – junge Gesichter. Die so fehl am Platz schienen wie der Totschläger in ihren dünnen Händen. Zwischen den Handel gerieten. Dem Händel zwischen Broa und Mor. Und angerempelt hinterher liefen. Den Älteren, den Stärkeren, den Grimmgestählteren, die ihre Sehnsucht hinter aufgelebter Tobsucht abgestumpften. Nun im Gerangel. Die Jungen. Weil die Äcker jetzt leergefegt waren. Aus den Ländern fern hinterm Meer. Für die Mäuler hier zu Füßen und der geplanten Magie der Größten lebten schon immer die Kleinsten. Deshalb kamen sie. Und sie lebten so schlecht, daß sie sich nicht mal Scham leisten konnten. Auf der Überfahrt Vergnügen bereiteten. Der Leibe unversehrt, aber zu Diensten den Waffenmännern an Deck waren und ihnen Becher und Schale herreichten und Lachen bereiten sollten, wenn die Alten die Wehmut packte oder der Wind die See anraunte und sie Angst hatten und nur das Lachen der Jungen aus lautem Halse die versteckte. Nach ihrer Angst fragte niemand. Ihr Lachen schien keine zu kennen. Doch lachten nur, weil sie nicht flennten. Wenn die Kämpen ihre Geschichten erzählten oder ihren Narben Gesichter gaben, die sich verzerrten, als sie mit Schneiden ins Fleische schlugen, ein Schritt in das Vergeben, und den Tod in den Händen schenkten. In den Wämsen der Boote. Auf der Überfahrt nach Broa trieb der Handel so seine Wege auf dem Gelege zu Mor.

Trieb er alles darauf zu. Zu den Händlern dort. Dort zu den Pfändern. Den, die mit Händen die Leben begutachteten, die ihnen in selbige fielen, als sie über Stege aus den Booten auf dem Kai plumpsten und eigene entgegenstreckten, weil sie die Hilfe gut gebrauchten konnten nach der langen Überfahrt, und die Rücken zum Knacken brachten und Geld liehen je nach Statur und Vorbehalt, zu überleben, und auf den Sold wetteten, der ausgezahlt wurde, wie so alles im Streben, erst am Ende jeder Helden- oder Torengeschichte. Tot. Oder lebend.

Mit Geld in Händen, glitten gleich die strahlend in den Bund, in ein Hurensäckchen, das dort im Schritt mit dem anderen baumelte, aber für die Frau, die Kinder, die Arbeit zu Hause gedacht war, wenn auch Denken nicht die Fron, und gegen Diebe schützen sollte, so an jenem Ort, aber allzu leichtfertig schnelle Beute für saftige Finger wurde im Eingriff, wenn warme Worte auf den Treppen Broas in Betten lockten. Oder leeren. Wenn der Pfänder schon zum Ende der Überfahrt auf die nächste wettete. Und dem Gesicht, meist ein junges, meist ein altes, einen roten Strich auf die Stirne malte, mit roter Erde vom Lande, und nicht weiter nach den Zähnen und dem Befinden fragte – und selbiges für die anderen Pfänder an der Reihe Augenmerk ersparte. Auf der Kaimauer. Dort. 

Gab es noch die Rotpfänder. Ganz am Wendepunkt der Mauer, die sich in entgegengesetzter Richtung weiter nach oben schlängelte. Dort ein wenig zur Seite gedrückt, an einer feisten Hauswand, dem des Hafenmeisters, griffen die Rotpfänder nach den Burschen von denen sie glaubten, sie würden tot noch Geld bringen. Zahlten vor Ort und Stelle das verkaufte Leben in zittrige Hände, traten ihren Feuersold ab, der für ihre Bestattung veranschlagt wurde und verdoppelten die Zinsen, für den Fall, falls sie lebend hier wieder ständen. Verwiesen auf eine Nische, im Wendebogen, dort. Kaum größer als ein Abort, der so auch ein Abort war. Zwei Bohlen über dem Meer. Dort auf den Strick. Um die Zinsen zu sparen. Und die Schulden für die Anverwandten. Den könnten die Zurückgekehrten verwenden.

In einer Ecke dort, dort etwas oben, auf einem Sims, weiter oben über dem Abort, nicht sichtbar für die anderen, vielleicht auch, weil alle auf dem Weg zu den Stadttoren dem Strick ihre Blicke verkauften und nicht hoch sahen, auf andere Weise, als daß etwas sichtbarer wurde, dort saß ein Bekannter, ob ein guter, das ließ sich im laufenden Gedränge nicht beantworten – da sie ihm keiner stellte, der ihn kannte –, dort saß er hinterrücks der Männer, aber oben – soviel zu seiner Scham –, um seinen Bodensatz nicht verlegen, noch zu verleugnen, in Lumpen, werkelte an seinem Beutel dort und stibitzte sich ein Brot nach dem anderen, das die Hafenmeisterei allen in die Hand hinein schenkte, indem er sein funkelndes Holzkreuz zwischen den geschicktesten Fingern bewegte, die man sich in Farn, in Broa in Mor oder anderswo vorstellen konnte, unter ihm die Mannsbilder, die sich selbst die Sicht versperrten, als wäre das Spielkreuz eine Schere, daran die Fäden – nicht der Strick – und daran sein Geschick, das eines jeden und auch gerne eine Wurst, die der Puppenspieler aus den Futteralen an beliebiger Stelle fädelte, die eine gute Frau zu Hause dort hinein nähte, ging die Naht auf, von der Reise, der Welle und dem Wasser brüchig, unbemerkt, von der guten Tat – zumindest tat sie dem Puppenspieler gut –, tat ein Hungerhaken sein Übriges.

Und feste! Biß er so hinein, zwei Hälften Leib, eine Wurst mit Naht, ein kleines Reich. Mit Schmackes! Zurrsurrte nun ein Schatten vor seinem geschäft’gen Maule. Sah man nur mehr dieses Kreisen. Und… eine Schrecke. Oh, wie saftig dieses Brot nun lockte und schmatzte und duftete und die Stoffe mit dem Atem in die Geilheit rieben, über zwei Zahnreihen, Krümel an den Lippenwulsten, Spucke und kaum mehr reinzukriegen in den Schlund, weil Spucke mehr und mehr mit jedem Kauen fehlte. Und zursurrte! Vor dem Mund, der Puppenspieler schlug nach ihr. Und neben dem Ohr. Und wieder hier. Zusurrte, weil das Kauen und das Hauen sie lockte.

Kau’ nicht und überlaß es mir. Leg’ es gleich zum Verzehr. Leg’ es hier. Ich stürz’ mich drauf, die Wurst, die laß ich dir. 

Schlug die Schrecke – und traf. Gleich die Flatter und dann am Kragen. Packte sie. Mit so herrlichen Krümeln noch zwischen den Fingern, daß der Geruch sie benommen machte, mehr vom Schlagen, begutachtete sie vor dunklen Augenbahnen und flitschte sie – wohl weil sie nicht so gut wie Wurstbrot schreckschmeckte – nach unten, in die laufende Menge. Flog aber weiter. Hoch, am Wendepunkt vorbei, ein Hosenbein nahm sie fort, jetzt auf den Tritt. Auf den nächsten. Noch’ne Stufe. Und wäre wohl auch gestorben, traten fest die Sohlen auf den Boden und verfehlten die Schrecke nur knapp, nur so nicht, dann daneben, während sie sich erhob und ihre Flügel pflegte, weil…

Aber dann geschah es doch noch hier. Zerquetschte sie ein Hüne, kam gleich übers Meer nach Broa, mit fremder Stimme, Segeltuch am Bund und Bier im Bauch. Sein erstes Opfer, kaum den Durst gelöscht. Den gab es hier am Stand für eine Münze. Der Hüne starb am ersten Tag, ich erinnere mich. Sagte der Standbetreiber. Er schuldet mir noch sein Leben. Sagte der Pfandverleiher. Mir den Tod. Der Rotpfänder.

Der Hüne wollte schlauer sein und kreuzigte seine Stirn mit roter Erde. Lebend noch. Nachdem die ersten Geldstücke, eins, zwei, an seinen Eiern schaukelten. Damit bezahlte er sein Bier. Mit roter Münze allerdings. Er ließ anschreiben, mit anderen Worten. Wonach sich nun ein Streit zwischen den Leihern entwickelte. So ein Hünentod sprach sich schnell herum. Auch unter den Schrecken. Und die fürchteten um ihr Geschäft. Wie eßbar Heu im Feuer. Wer löscht, wer ißt, wem gehört das Feuer?

Man einigte sich, daß der Rotpfänder dem anderen eine halbe Münze schuldete. Schließlich war der Hüne tot. Das Bier gesoffen. Und auch sonst deutete nichts auf ein Umbesinnen des Gefallenen hin, wieder aufzustehen, um den Streit zu schlichten. Noch sein Bier zurückzugeben. Er erfüllte seinen Kontrakt mit ihm, dem roten Strich, dem Strick, dem Abort über dem Meer, den anderen aber fehlte er nun lebend. Als Kunden, als Bekunden.

Du gabst ihm die Münze, die ihn besoffen machte, daher starb er. Wider Erwarten. Sagte der Pfandleiher. Nüchtern stirbt kein Mensch. Gab ihm der Standbetreiber Recht. Oder auch nicht. Er wußte es selbst nicht. Es ist nur recht und billig, sagte er, uns für unsere Unkosten zu entschädigen. Der Hüne war ein großer Hüne. So einer kommt nicht alle Tage. Zu Grabe. Bezahlt mit barer Münze. Nicht für die Bahre. Für die Münze. Der Rotpfänder weigerte sich.
Die Schuld liegt beim Leben. Sagte er und wiegelte ab. Er kam mit rotem Strich. Zu Grabe. Ich gehe nach dem Strich. Nicht nach dem Strick. Gehe ich nach dem Strick, könnte so ein jeder kommen. Ob selbst gemalt, ob anderweil. Zu mir kommen nur die Todgeweihten. 

Eine Menge versammelte sich, Unruhe machte sich breit. Topfschlaggesichter klopften sich an. Die Angeschwemmten redeten eifrig mit. Untereinander wogen sie die Möglichkeiten ab, betrachteten die Haltungen, die jeder der Betreiber einnahm, und probte sie für sich, verschränkte die Arme, wie der Rotpfänder etwa, legte sich mit der Mauer an, indem er mit ausgestrecktem Arm dagegen lehnte wie der Bierschenker etwa oder verbarg die angestrengten Hände in den Hosentaschen etwa wie der Pfandleber.

Obwohl nicht jedem klar wurde, bei aller Rederei und Armerei und Halterei, wer denn nun außer dem Hünen zu Schaden gekommen war. Und so trugen sie den Streit dem Hafenmeister vor. Gleich im Marsch drangen sie auf ihn zu – eins, zwei, drei, Seit an Gefeit –, gefolgt von der Bewegung, die sie in die Menge brachten. Nun, in die andere Richtung. Vom Schlachtfeld weg, zurück zu den Schiffen. Was nicht Sinn der Dinge war.

Was ist denn hier los! Sagte der Hafenmeister, als er seinem Standpunkt nicht traute und trat aus seiner Bude. Um gleich wieder hineingedrängt zu werden. Von der Menge. Als er sich umringt sah. Von den Folgern. Verschreckt schloß der Zipf die Tür, öffnete gleich aber die Lade daneben. Immerhin. Sein rundes Gesicht färbte sich absichtslos.
Ein Handlanger überredete ihn. Hier ist etwas los. Sagte der ihm. Streckte seine aus der Luke. Klatsch! Schlugen andere sie ins Innere. Du bist der Hafenmeister, Du richtest hier. Kein anderer! 

Einer reichte ein Tuch. Für die nasse Stirn. Die Hand langte aus dem Innern. Der Langer flüsterte etwas ins Ohr. Sch-sch! Der Meister wischte ihn beiseite. Die Menge sch-schte um Ruhe. Die Parteien trugen ihren Streit vor. Einer nach dem anderen. Geduldig gaben sich die Seiten. Beäugten sich aber mißfällig. Ausführlich erläuterte jeder seinen Standpunkt, der Schaden, der ihm durch den Hünen entstanden ist und was sie nun von ihm, dem Hafenmeister verlangten. Sie verlangten alle das gleiche. Der jeweils andere sollte seine Zeche begleichen, Pfand begleichen, Umstand begleichen. Die Zeche! Jaulten einige auf. Der Pfand! Andere. Den Umstand! Das dritte Gedränge.

Der Hafenmeister hörte sich alles ganz genau an, wieder wischte ein Tuch aus dem dunklen Innern der Bude über die Stirn, über die Augen. Er sah sich die Wartenden an. Die Wärme drückte hinein. Durch das kleine Luftloch. Fast hätte er sie anfassen können. Konnte es nicht fassen… fassen… er brauchte etwas Greifbares. Wo ist die Leiche? Fragte er erbleichend, faselnd fast, weil ihm keine Lösung einfallen wollte. Vor aller Augen schon mal gar nicht. Dafür war er nicht im Stande, hier, am Rande. Er teilte nur das Meer vom Lande, verzeichnete die Angelandeten, die Schiffe und die Säcke, die Waren. Dafür konnte er schreiben. Was er kannte, was er sehen konnte, daran konnte er Hand anlegen. Die konnte er zählen. Zwei Ladungen Hafer? Zu den Stallungen. Eine halbe Tonnage Weizenmehl? Zu den Bäckerstiegen. Fünf Bäuche Handlanger? Zu den Schnüren. Das Kriegen war sein Fach nicht. Er zählte die Körper. Mehr nicht. Wo ist die Leiche? Sagte er unentschieden. Und die Parteien sahen sich unschlüssig an. Das halten wir für gegeben. Sagten sie einvernehmlich. Den Tod.

Er ist das einzig sichere in unserem Streit. Sagten sie. Sichtlich atmete der Hafenmeister auf. Er stellte sich gerade, schloß die Lade, dann trat er aus der Bude. Er stellte seinen Bauch vor. Das verschaffte ihm Platz. Keine Leiche? Er wippte auf den Hacken. Ha, ha. Sein Blick stach durch die Menge. So, so. Sagte er. Und stellte sich auf die Spitze der Hacken. Ohne Körper gilt er noch als lebend. Das bedeutet für den Pfandleiher: Er könne noch wiederkehren. Der Pfandleiher stippte den Kopf in Schieflage und legte den Finger zum Denken an die Lippen an. Und was bedeutet das für den Rotpfänder: Er könne noch zum Strick kommen. Und das bedeutete für den Bierschenk: Er könne noch seine Zeche blechen.

Die drei beratschlagten sich kurz, wurden dann aber schon von der Menge überzeugt. Alle waren zufrieden. Hoben sich noch lange im Laufen die Handflächen auf Höhe der Brust. Oder Bauch. Wogen sie ab. Aber kamen bei allen Betrachtungen immer zu demselben Schluß. In die Stadt hinein trugen sie die weise Entscheidung des Hafenmeisters. Solange der Hüne als lebend galt traten keine Fragen auf.

Froh stiegen sie die langen Wege hoch, unterbrochen von niedrigen Stufen und verteilten sich zum Verabreden in Gaststuben hier, in ruhigen Stuben hier oder in aufwühlenden Stuben hier. Sie vergaßen gerne wohl, daß sie das Schicksal des Hünen teilten. Zumindest zahlten sie für ihn. In jeder Nacht, die sie blieben.

Übermütig rannte einer mit einer Dame die Steige herunter. Er rempelte den Puppenspieler an, der sich am Rande hochtastete. Brote fielen aus dessen Beutel. Und weil der fremde Krieger wie jeder fremde Krieger in einer fremden Stadt gerne zeigte, wie er sich gab und verbarg, wie er wirklich war – und weil die Hure in seinem Arm ihm Anhänglichkeit vorheuchelte, die es zu verteidigen galt –, trat er noch mal gegen den Beutel, dessen Inhalt sich so auf dem Weg verteilte. Lachend stiegen beide durch den Krempel und verschwanden lippensaufend hinter der nächsten Biege.

„Ja, rempelt mich nur an…“, murmelte er und rieb sich den schmerzenden Hintern.

„…ich lebe ja nur für eure Bedürfnisse…“

Er suchte die Brote zusammen, klopfte sie vom Dreck der Gosse, stopfte sie in den Beutel, zwei Köpfe guckten heraus, blonde und feuerne, ineinander verschlungen, miteinander ringende, die zwängte er mit Nachdruck ebenso wieder ins schwarze Innere, zurrte ihn fest zusammen. Ein Brot behielt er in der Hand. Schulterte und ging, ohne daß ihm bewußt war, wohin. Er biß hinein, quer davor, er kaute. Dort. Etwas höher. Er sah die Händedrücke. Er stand vor dem Roten Haus. Die Tür lud mit Gleichgültigkeit. Ein Schild erwartete Beachtung, die nur die roten Hände im Gang der Schnüre schenkten.

„Begleicht man seine Schuld,“, sagte der Puppenspieler und drückte die Klinke in die Begegnung einer unbestimmten Einladung, „liegend oder stehend, sollte man sich bewußt sein, daß man die richtige begleicht. Soviel Schulden gab es, daß man am Ende Rechnungen offen hatte, wie ein Zechpreller und abbezahlte mit Spülen und Putzen der Kaschemme, und dann findet man heraus, daß man in der falschen Kneipe saß, am falschen Tisch, der Nebenmann im Begriff war, die Schuld hinüberzuweisen, zu dem, der dort steht. Oder schon umgefallen war.“ Er spuckte aus. Den Kaubrei, den er hochbrachte, und biß noch mal ins Brot, richtig jetzt, kräftig – bevor er gänzlich eintrat –, daß sich die Schneidezähne verbogen.

Wie auch? Die Pfänder streuten ihre Münzen in die Männer der Hoffnungen, die nahmen sie entgegen. Die Grüße nicht, nicht das Willkommen. Nur die Erwartungen. Wünsche. War das Gold. Das Prasseln. Aus den Säckchen, in die Säckchen. War die glänzende, die matte Möglichkeit, die ihrer Habgier und ihrem Leben Sinn verhieß. Mit dem Klump, als sie darauf bissen, um zu prüfen, ob es von Wert sei. Auf verschlungenen Wegen. Draufbissen. Verschwanden mit dem Tauschhandel in Dickdärmen des freudeatmenden Habenwollens, den gespreizten Küssen einer Nutte, den gespreizten Türen einer Schenke, dem gespreizten Gelächter einer Runde, der gespreizten Erleichterung nach einer Umarmung, der gespreizten Verblendung ausgeschlagener Zähne durch einen Keiler, die ein Schmied, einer vom Lande, auf gespreiztem Sitz mit der Spitze eines glühenden Dornes und den Schmerzen eines Todes und den Grätenknochen eines Welses zurück ins Mundbett hämmerte, Fendric stand daneben, daneben stand Bilgram, und zwischen dem Schmied und seinem Schreien stand nur der Amboß, klack-klackklack. In Broa. Ins Bettlager ausgespuckt aus dem Magen von Segelbarken. Aus dem Meer, in das Meer. Im Gang der roten Schnüre. Auf Umwegen. Gegen gutes Gold. Das Zähne brach. Biß man zum Prüfen hinein. Und schwor im Verschwur des Handels mit der eigenen Abläßigkeit um das eine, das vom Streben blieb – Soldat ob, ob Salatbauer, ob Abortknecht, Gewulst, Gesindel, ob Königsort: Gunst.

„Gunst ist eine heikle Ware…“, murmelte Unser. Kaum merklich auf seinen Gängen, doch ernst genug und auf Silben festgebissen, die sich ebenso verbogen, als bissen falsche Zähne auf Soldbrot. Daß ihm derlei oft nun über die Füße stolperte, in anderer Gestalt, aber dem nicht unähnlich. Hier nun in der Küche, in Mor, die steile Treppe dort hinunter in den Bauch der Bratendüfte. Stolperer. Die sich eiligst nach ihrer bei dieser Begebenheit erkundigten, trotz der Fürze, trotz der Ablässe und des Wohlgefallens vom Vorüberrauschens auf dem Wege hin – mit goldner Garbe – und weg auf selbem Wege. Nur in entgegengerichtetem Laufe Truhe Gold. Der wahre Streben Gunst und Günstling für das kurze Glück beim Beißen. Die sich noch in so mancher Kellerritze finden ließe. Und da war auch noch die Herrlichkeit.

Dieses Becken mit den goldenen Fliesen. Dieses. Dieses alles, was man wissen mußte, wollte man etwas über den Keller in Erfahrung bringen. Auch an diesen Ort bestellte Unsers Drängen seine Gunstblicke. Ganz allein und heimlich. So ganz allein nun auch nicht. Weil er auf Mondrians Spuren wandelte. So ganz geheuer auch nicht. Weil er so ganz allein auf Mondrians Spuren wandelte. Nun, so ganz ohne Häme auch nicht. Weil der nicht an der neuen Tafel weilte – mit all dem schnöden Fraß der Bauernweide. Weil die Mägen sich nun wieder weiteten. Und ein Esser weniger immer besser war als einer mehr an derselben Tafel. Und ihn nun suchte – auf einem Verdauungsspaziergang. Dem der besten Gründe wegen: Der Verdauung wegen.

Eben. Und ihn suchte, in seiner Kammer, nachdem er nur unwillig die Holzschnitttüren aufschob, und ihn nicht fand. Erst recht nicht in der versteckten Welt dahinter. In die Unser nun gelangte, weil der Vorhang sich durch das Eintreten bewegte. Eben so wie bei Malverne, und sich die Frage in den Vordergrund zwängte – Unser zog den Bauch ein, um hineinzuhuschen –, ob dieser Durchgang sich nun verheimlichte oder ob er nicht doch die Aufmerksamkeit auf sich zog, allein durch das Treten in Mondrians Klause. Aber die Sterne. „Die Sterne…“
Schon entdeckte, sein Mund entsprang und entlud sich schwerer Fäule, hauchte an die Decke. „Die Sterne…“

Aus dem Silber all der lauten Tafelmesser, die so tönten, daß man ihr Verschwinden nicht beobachtete, nur froh war, als ihre Töne endlich im großen Saal vergingen. Man traute mehr den Ohren als den Augen. Und ein Gespür für das besaß – Unser –, was glänzte. Ganz allgemein. War es seine Gabe doch – auf unzähligen Steuerreisen im Blick geschult – auch in den düstersten Verstecken nach dem vor der Steuer Verstecktem zu fahnden. Bei den Bauern, den Wirten, den Schmieden, den Händlern, nur den Pfändern ersparte man derlei Last. Nach der Angst.

Warum diese Längen? Warum all diese vielen Worte? Jetzt, da sich das verteilte, was alles spaltete? 

Nichts mehr zu verteilen gab, außer das, was man nun als Lohn oder Pfändung verteilte? Weil sich diese Geschichte dem Ende zuneigte, unaufhaltsam, die Seiten dünner wurden, die noch vor einem lagen und dicker das, was schon gewesen war und schwerer, wo und man sich nicht von dem Gewicht entwöhnen wollte, weil man daran, wenn geschickt, gewöhnt war, wenn nicht, weil man sich schon an allem verwöhnte und den Aufenthalt begleitete, bis es sich nicht mehr lohnte, aufzuhören.

Fand so manches gute Stück im Nachttopf, erkannte am Geruche schon die Lage, die sich mit dem Metalle veränderte. In der Tür schon. Was sonst nur Galvan vermochte. Ersetzte man
Metalle mit liebreizenden Orten. Oder der Mist der Viecher war. Auf seiner letzten Reise im Mai, noch davor, das Darben sich schon damals bekannt machte, mit geknautschten Mützen in den Händen, gehalten vorm knurrenden Bauch der Leute, und mit ihm als Forderer vor Ort, und das Knurren gleichsam den Weg durch den Magen und den Darm in die Eimer fand. Kein Klingeln, kein Blitzen darin, nicht mal ein Seufzen. Leer, halb mit Haaren, halb mit nackter Not – gleich roter Erde. Die Mischung stopfte die Bäuche voll.

Und Unser? Konnte wühlen, wie er wollte. Und klagen, daß er nichts mehr roch. Soviel er mochte. Doch nichts. Weder Geld, noch Gold fiel ihm beim Durchstöbern dieser anrüchigsten aller Welten – die der einfachen Leute – in hadernde Hände. Filzenden, abtastenden, abstreifenden, säubernden Hände, die ihr Zittern nicht mehr hinter Etikette verbergen wollten, je weniger sie fündig wurden und je mehr noch erzürnten, als sie die Bauern schlugen. Wie ein Säufer nach dem Schmacht des Bieres verlangte, nicht dem Biere selbst. Nach dem Schmacht. Und all dieser das Zittern, all das ärgerliche Umherspringen, all das verdrießliche Zappeln bestimmte. Und dann diese Enge! In all diesen Stuben! In all der Hütten! All der Scheunen, Schober, Tennen! Wo sich die Luft hortete, als wäre sie Lagerstreu, das nur den Platz streitig machte gegen die Leere. Damit die Leere nicht gänzlich einsam war. Und aus anderem Grunde auch. Übellaunig war. Und mit seinen Mannen abzog. Sie immer öfter versetzte. Verließ. Gleich an Ort und Stelle. Oder in einer Quetsche quetschte. In Tarn und sie
anschreiben ließ. Um die Zeche zu sparen. Der Hundebiß setzte ihm zu. Mehr als ihm lieb war. Und aus anderem Grunde müde war. Immer müder. Und dürr. Und ungeduldig. Und.

Aber nun war er wieder rund. Mit spannenden Winkeln um einen erfreuten Mund, die einen satten Mann begleiteten, der satt allein deshalb schon sich freuen durfte, wenn er leichter aus dem Abort trat. Und die ernste Meinung vertrat, einhundert Entlein – und seien ihre Flüglein noch so zart – vertrugen sich mit seinem Zünglein nicht, der Masse wegen. Der Ausgewogenheit. Aber wie darauf verzichten mögen, nur weil sie Entlein, Flüglein oder einhundert waren. Ob Unser jemals einsam war? Nein.

Wer kannte dieses Gefühl denn nicht? Auf einen vollen Teller zu starren und beim Schlingen mit Mund und Zunge beim Tellerlecken schon Angst zu haben, es könnte nicht reichen – der Bund spannte derweil, der Nabel grinste verborgen, Einzelkinder und Prinzessinnen mögen da andere Erinnerungen haben – und noch schneller schlingen mit wachem Blick auf die Tellerränder der anderen, großen, weiten Augen, deren eigenem Schlingen, deren Münder und deren Zungen an den Enden, der Schüssel in der Mitte und dem nicht enden wollenden Begehren um des begehren Wollens. Diese Schüssel, die im Herzen des Tisches stand und mit dem Nachschlag und auf Unrast pochend, mit Hast auf letzte Krümel, den Verstand aus den Mägen prügelte. Erster! Zweiter! Fertig! Und schnell den Löffel in die Schale stach und den letzten Haps, mehr Kratzen als Schaben als Kartoffelbrei, mehr Schleifen als Rübenschleim auf sein Himmelreich – so weit vom Herzen, so nah am Munde – klatschte, klatschte, klatschte. Oder Entenbraten? Beifall ist die höchste Form der Verachtung.

„Gold.“, sagte Unser. Und zog das Oh vor dem El in die Länge wie ein Sänger schnell noch seinen letzten Ton vor dem Ende, vor dem Applaus.

„Nun, in deiner Kammer bist du nicht. Bist du in deinem Becken?“ Unterm Schweinestall. „Mein Glauber Mondrian, wo seid ihr?“ Die Treppe hinunter. Und stand vor dem Leuchten. Stand vor dem Bassin. Und wollte…weil ihn das Licht einschüchterte, schon drei Diener herbeirufen. Mit vollem Mund. Mit voller Schmacht, vollem Brand. Besann sich dann jedoch auf seine Manieren:
„Mit vollem Eifer spricht man nicht.“ Dann trat er näher, dann auf allen Vieren.

„Gooold.“, sagte Unser.
„…ooold“, sagte Echo. Sagte es nochmal, sagte es wieder.
„Gooold.“

„…ooold.“

Und wie schön dieses Oh in dieser Echoschüssel klang. So derb und satt, daß es das Ohoh mit dem Hunger verschlang. Auf einmal oh…ne Angst – und weg. Seltsam. Solch ein Ort aus Klang.
„Aus Gooold.“ Aus Fliesen, Atmung, Wasser, Rauschen auch.

„…ooold.“

Alt.

Aus Klang nur beim Lauschen. Ließ diesen Ort im Zweiklang baden, nüchtern. Und Unser schwamm. Durch das ganze Becken. Von Luft statt Wasser getragen. Und freute sich und breitete die Arme aus und dann wieder zusammen, Fersenschlag. Obwohl er nie schwimmen gelernt haben mochte. Und von einer Wand zur nächsten Wende. Und zurück. Und hin. Und wieder rein, dann hoch. Und tauchte und tauschte die Luft zum Schwimmen mit der zum Atmen. Und sauste und lachte und strahlte, bis… er außer Puste war und eine Pause brauchte, am Beckenrand und hielt sich daran fest. Wischte sich die Luft aus dem Gesicht, die Haare aus den Augen und schnaubte sie schniefend aus der Nase, damit er wieder Luft einatmen konnte. Baumelten die Beine währenddessen. Sah wohl dieses Loch. Da. In der Wand, auf die er absichtslos stierte. Das wohl zu einem Schlüssel paßte. Und auch ihn berauschte. Wohl jetzt aufleuchtete. Mit dem Glänzen in den Augen, das so Licht gab. Und funkelte. Forderte. Wollte.

„Wooolte.“
Doch war nicht dumm. Ließ diesen Ort mit sich im Reinen. Das Vergnügen genügte. Stellte sich auf die Füße. Fand festen Stand, ging rückwärts zum Aufgang. Stieg die Treppe wieder hoch.

„…ooolte.“

Wohl. Holte.

Und hoch. Dort bemerkte er den Tisch, schaute auf, in der Decke auch das Guckloch, abgegriffen vom Betatschen in fremde Löcher, in den Hort der Schweine, setzte den Fuß mühsam auf den Tisch, den zweiten und streckte sich, hielt sich selber fest und sah nun auch hindurch aus Neugier zu seiner Entlastung, aber nicht aus Gier am Blicken. Erschauderte. So tief, daß es ihn vom Tische stieß, Oh noch im Ohr, verließ den Vorraum ohne sich umzublicken, ohne ein Wort, auch kein Gedachtes, aber wurde von dem Ooolte begleitet, schloß die verborgene Tür, die ihn hier hin verleitete, drückte sie fest zu, stellte etwas davor, das er im Gang zu fassen bekam – ein Gangwächter fand sein Gehör, lauter schreiend, mit Schauder. Rückten fremde Hände, die das hörten von den schweren Kisten ab, die sie durch den Keller schleiften, später durch den Garten, und buckelten, von der schweren Last noch krumm sodann heran, mit offenen Handflächen und Schwielen voran und in dieser Lage, die auch jedes fremde Hören wohl verstand – in Günstlingsbeuge.
„Stellt es hier hin. Den Unrat. Macht schnell. Allen, den ihr findet. Macht die Gänge frei, räumt es in diese Diele. Stellt sie zu. Hier ist Platz. Kein anderer dient mehr dem Zwecke als dieser. Ein Saustall! Schmeißt den Driss in diese Ecke. Ich schau zu. Ooo…“, sagte Unser und erschauderte noch immer.

…ooordnung ist das halbe Leben. Der anderen Hälfte schaut man zu.“









*










Mittwoch, 16. August 2017

Professionelle Menschen


Die Lage der Journalistik in Zeiten des Bildes mit Seitentext


Es gibt sie nun: Diese professionellen Menschen.
Und es gibt sie nun: Diese riesengroßen, professionellen Kontaktanzeigen.

Neulich versetzte ich mich in die Lage, Worte in Schrift zu setzen.
Dies nahm ich zum Anlaß, keine Geschichte zu erzählen, sondern einen Text zu verfassen:
Der auch in jeder üblichen Zeitung stehen könnte.
Ich bitte, die Qualität zu entschuldigen. Denn es ist keine Kontaktanzeige.
Kontaktanzeigen sind gut geschrieben, meist langweilig beschrieben.
Dieser imitierte Zeitungsartikel handelt nur von einem Menschen, der nicht mehr will.

Dieser Mensch, der nicht mehr will, bin ich, und ich kann mich seit einiger Zeit nicht mehr des Eindrucks erwehren, daß alles, was ich nicht mehr will, medial Gesagte, Geschriebene, Gefilmte, Photographierte, nur noch eine einzige, riesengroße Kontaktanzeige ist:

Von dem, der spricht, schreibt, filmt oder photographiert.

Menschenwerbung, um einen Partner oder Freund für den Freundeskreis zu finden oder sich einem Partner oder Freund oder Freundeskreis anzudienen oder sich nicht die Blöße geben, man wäre nicht mehr hot genug, um möglichen Partnern, Freunden, Freundeskreisen anzugehören, selbst wenn man Partner, Freunde, Freundeskreise hat, wenn man es denn nur wünschte.

Schaltet man also diese riesengroßen Kontaktanzeigen. So kommt es mir vor.

Was Internet angeht, bin ich eher Dilettant und recht erfolglos. Was mich in dieser Hinsicht beruhigt,
denn eigentlich bin ich nur interessiert an erzählten, geschriebenen, erfundenen Geschichten.
Und erzähle erfundene Geschichten gerne, wenn ich sie denn schreibe.
Das Interesse an Menschen beruht bei mir nicht in der realen Person selbst, sondern nur an ihrem Habitus.
Das inspiriert mich manchmal, und dann schreibe ich. Über Menschen. Über Menschen, die wie Dinge sind.
Sie auch zu kitzeln, und darüber, wenn es Reaktionen gibt, eine Geschichte zu erfinden. Leider gibt es sehr wenige Geschichtenerfinder im Internet. Das mag daran liegen, daß es sehr wenige, fruchtbare Reaktionen gibt, die Menschen zu erfundenen Reaktionen reanimieren.

Fehlt das Phantastische.

Das mag auch daran liegen, daß Menschen wie ich nicht attraktiv sind.
Attraktiv sind attraktive Menschen. Leider werden attraktive Geschichten von unattraktiven Menschen erfunden.
Leider werden keine Geschichten mehr erfunden. Das mag daran liegen, daß sich unattraktive Geschichtenfinder von attraktiven Imagegebern inspirieren lassen, was nicht attraktiv für Geschichten ist, wenn die attraktiven Menschen nur mehr attraktive Kontaktanzeigen sind.

Dieser Text wird abdriften. Das weiß ich. Stünde er in einer Zeitung, wüßte ich es auch, wäre er nicht von mir geschrieben.

Ich weiß nicht, ob es immer um Narzissmus geht. Es geht aber immer um Narzissmus, weiß ich,
auch wenn ich nicht weiß, was Narzissmus ist. Aber es muß ja immer um Narzissmus gehen,
auch wenn man nicht weiß, wohin der führt, und ob der schlecht ist, wenn er einen
wenigstens in Bewegung versetzt. Denn der geht ja wohin. Wobei ich immer nur verharre.
Vielleicht geht es immer darum, jemand anderer zu sein: Die Schöne. In den schönen
Kleidern. Die Eloquente. In den fließenden Worten. Die man nicht ist. Dafür himmelt man sie an. Die geht ja wohin.
Und die Schöne - sie sind immer schön, und sind immer mehrere, und wollen immer wohin,
sind dann am Himmel.

Und verletzten einen, weil der Himmel zumindest beim Gucken ja einem selbst gehört.

Letzlich ist es immer nur eine riesengroße Kontaktanzeige, denke ich. Da, im Himmel.
Geschrieben mit einem Flugzeug am Himmel samt Motorenlärm einer Propellermaschine,
dessen Geräusch immer an den Sommer, sonntags, in klarer, warmer Luft erinnert. Und Vintage-Kleid.

Eine riesengroße, professionelle Kontaktanzeige.

Daher brauchen schöne Menschen den Himmel. Sie brauchen Platz. Viel Platz. Sehr viel Platz für ihre Werbungsbanner.

Oder 10.000 Follower. 100.000 Follower. Und wenn sie 1.000.000 Follower haben, denken sich diese schönen Menschen:

"Was soll ich denn noch machen?!" 

Damit sie endlich jemanden abkriegen. Mann oder Frau. Freund oder Sozialkreis.
Verzeihung: Den Himmel teilen können.
Sie sind schön, sie sind immer schön. Alle. Immer. Schön. Sind Star, sind psycho-yolo-philosophie-studiert, emanzipiert samt Frontboobs in Fashionposen, damit die russisch-ukrainischen Softcore-Models nicht alle neidischen Blicke abkriegen, aber mit Auftrag.

Irgendeinen Auftrag haben diese schönen Menschen immer. Und Auftrag klingt immer
wie Ausrede. Aber Ausrede ist ja nicht Auftrag. Den hat man immer.
Klingt aber nicht gleich.
Man muß nur 'Auftrag' sagen. Und nicht 'Ausrede'. Und es ausprobieren: Nö. Klingt nicht gleich.
Auftrag klingt nicht wie Ausrede. Aber was soll's.
Ist nur eine riesengroße Kontaktanzeige, denke ich.
Und die ist nie schlimm. Man braucht nur die richtige Ausrede dafür.
Den riesengroßen Himmel zum Beispiel. Den sie beschreiben. Bespielen. Bemalen. Für ihr Bild, für ihren Film, ihren Text.
Könnt' ja noch ein Besserer kommen: Ein besserer Himmel.

"Soll ich mir etwa Eier in die Vagina stecken und sie nackt vorm Kölner Dom auf eine
Leinwand flutschpressen?!"

Und dann pressen sie Eier aus der Vagina.
10.000.000 Follower. Aber immer noch keinen Menschen gefunden. In all der Menge.
Und wenn, dann müßten sie eigentlich die Kontaktanzeigen abschalten.
Darunter muß sich doch der Richtigere befinden. Aber nie dumm.
Muß nur die nächsten Follower finden. Darunter die besseren Menschen.
Die dann professionell.

Also wieder erst mal den neuen Film promoten. Etwas anrüchig geben.
Aber Auftrag nicht vergessen, was wie Ausrede klingt, aber ja Auftrag ist. Und Auftrag klingt nicht wie Ausrede:

Akt der Befreiung. Und auch 'Film' klingt wie 'riesengroße Kontaktanzeige'.

"Bei den nächsten 100.000.000 Followern werde ich den Richtigen
schön finden. Aber erst mal in meinem Garten jagen. Leute daten,
die weniger als 100.000.000 Follower haben. Filmstars. Männer. Aber nur 3 Monate.
Das macht mich feministisch stark."

Kontaktanzeigen. Überall nur riesengroße Kontaktanzeigen. Werbe-Erhaltung der Art.
Dann Journalisten daten. Zum Interview. Ist wie Rendevous, mit Kerzenschein.
Die Beleuchter sorgen für Licht. Sie sind die Kerzen. Aber Journalisten können nicht ficken.
Professionell fickt dumm nur gut. Aber Journalisten sind nicht dumm.

Und wenn man in Beziehung ist? Beweisen, daß man jederzeit jemand anderen daten könnte. Noch hotter als der letzte Scheiß ist.
Der Bessere ist des Guten Feind. Die Jüngere ist des Alten Tante.
Verwandt, und damit befangen. Unbefangen sind sie alle nicht.
Abgeklärt geben.

Als ich, ein Mann, der nicht ein professioneller Mensch ist, hörte,
daß eine Fernsehbewohnerin sich Eier in die Vagina steckt, habe ich das Beste getan,
was man tut, wenn jemand einem sagt, daß man sich Eier in die Vagina steckt: Ich habe aufgelacht.
Professionell bessere Menschen lachen nicht auf. Sie sind abgeklärt.

Sie notieren verächtlich, daß aufgelacht wurde. Bei Herren. Bei Willi Herren.
Das ist ein Zeichen von Schwäche.
Und schwach sind professionelle Menschen nie. Nur Männer.
Das klingt professionell. Das klingt nach anrüchig. Nach Frontboobs. Nach Frontline.
Aber nur mit Auftrag.
"Aber nur mit Kondom?", denken sich schwache Herren ihren Willi, sich verhört zu haben.
"Aber nur mit Auftrag."
"Klingt wie 'Ausrede'."
"Nein. 'Auftrag' klingt nicht wie 'Ausrede'."


Es sei denn, sie haben eine Ausrede: Buchvertrag, hm? Talkshow-Gast?
Die Kummerbund-Bauchbinde blendet ein:

"Wie ich als Professionelle eine Lüge vorlebte: Dabei war ich als Mensch nur Amateur!"
Und (10 Jahre später): "Ich möchte aufklären." 

Frontboobs, Frontline. Frontface.

Und als Amateur-Mensch denkt man sich, gleich kommt noch die Studie dazu.
"Wasser ist naß. Endlich. Jetzt auch wissenschaftlich bewiesen." Jetzt nur noch die Gegenstudien abwarten.

Kontaktanzeigen. Überall nur Kontaktanzeigen.
Profi-Menschen. Überall nur Profi-Menschen.

Olympia ist nichts mehr für Amateure.
Fürs nächste Leben vormerken: Sich beim Jobcenter als Gott bewerben.
Tarifvertrag, Urlaubsanspruch. Liebe am Arbeitsplatz. Unter Göttern.
So viele Götterberge müßte es wohl geben.
Kontaktanzeige weiter laufen lassen. Noch größer, noch mehr.
Für das Liebesdanach. Den Lebenswechsel.

"Ich habe mich verliebt." Man steht vor einem Spiegel. Man datet.
"Du siehst aber anders aus als im Spiegel."

Professioneller Mensch müßte man sein.
"Mensch müßte man sein.", denke ich und drifte, wie versprochen, ab. "Klingt interessant.", denke ich.
Aber das klingt nicht profi genug. Als Mensch für immer Amateur.
Dann doch lieber diese Sache mit dem 'Gott'.

Ein Berg läßt sich immer finden.
Ein Mensch steht auf einem Berg.
Das macht den Menschen schon zum Gott.
Dann Hand ausstrecken.
Dann abgeklärt verneinen, daß man längere Arme braucht, um den Himmel zu berühren.
Dann Profi-Mensch werden:
"Der Himmel berührt ja einen."
Wozu dann noch dumm auf einem Berg stehen?

Funktioniert auch in der Ebene.

Dann Profi. Endlich Profi.
Abgeklärt denken:

"Waren es denn Hühnereier?"

Professioneller Mensch zu sein läßt einen stark wirken.

Bin lieber schwach. Bin lieber abgehängt.
Dann müssen mich diese Profi-Menschen mit ihren professionellen Anhängerkupplungsautos nicht
irgendwohin abholen und irgendwie hinfahren, wohin ich nicht will. Und stehe einfach nur so da, wo ich stehen will.
Wie so ein abgehängter Mann, der einfach nur rumsteht.

"Es waren Hühnereier."

Boah, ey. Professionelle Menschen haben immer das letzte Wort.

"Wenigstens war es nicht zu Ostern.", antwortet man aus Humornotwehr.

"Doch. Es war zu Ostern."

Nie den Humor des Gegenüber unterschätzen. Er könnte noch mal witzig werden.

"Ich brauche dringend eine schwache Religion, die nicht das Ei verehrt."

"Die gibt es schon: Man nennt sie 'Essen'. Nur ohne Eier."

"Und? Kann ich deren Gott werden?"

"Nein. Dazu fehlt Dir die Hingabe."

"Und wo bekomme ich die?"

"Wenn Du Glauben im Sechserpack suchst, wirst Du ihn nach 6 verbrachten Eiern verlieren."

"Eier gibt es auch im 10er-Pack."

"Dann bleiben Dir 4."

"Vier was? 4 Glauben?"

"4 Eier."

"Ich glaube nicht an Eier. Ich esse sie."

"Dann wirst Du nie deren Gott werden."

"Freeway-Fanta gibt es auch im Sechser-Pack. Gilt das auch? Kann ich wenigstens deren Gott werden?"

"Nein. Das gilt nicht. Klingt 'Fanta' wie 'Eier'?"

"Klingt wie eine Ausrede."

"Nein. Klingt nicht wie 'Ausrede'. Klingt wie 'Fanta' und klingt wie 'Eier'."

"Waren es nicht Farbeier? Wo kriegt man die her, frage ich mich."

"Tz, tz. Daran merkt man, daß Du kein Profi-Mensch bist: Sie kommen natürlich aus der Vagina."

"Und... Willi Herren ist ihr Gott?"

"Nein. Puh. Willi ist nicht ihr Herrengott. Steh' einfach auf einem Berg, Mann!"


"Berge stehen mir nicht."

"Zu."

"Wie bitte?"

"Stehen Dir nicht zu."

"Was steht mir denn als abgehängter Mann zu?"

"Eier."

Boah, jetzt reicht's langsam.

"Aber die kommen doch aus der Vagina."

"Nein. Kommen sie nicht."

"Aber Du hast doch gesagt, die Eier kommen aus der Vagina."

"Die Vagina gehört der Frau. Und die steht Dir nicht zu, abgehängter Sexist."


Ich brauche dringend mein schwaches Leben. Und einen schwachen Himmel.
Und die schwache Erkenntnis, daß ich keine Macht entfalten will, nur weil ich Dummes über Menschen schreibe.
Profi-Menschen mit ihren Kontaktanzeigen schließen mich nicht ein, mich für sie zu interessieren.
Selbst wenn ich mit diesem Gefühl nicht allein sein sollte und es anderen so geht, daß sie sich für Kontaktanzeigen nicht interessieren, die nicht an sie adressiert sind, aber überall prangen.
Ich sollte vielleicht anfangen, Geschichten zu erfinden. Auch dort in Geschichten gibt es Menschen.
Es gibt sie nur nicht. Kein großer Unterschied. Zu den Menschen, die es gibt.

Auch ein erfundener Himmel ist blau.

Und in der Ferne ein Propellerflugzeug. So klingt der Sommer.

Man braucht nur erfundene Worte dafür.







*






Samstag, 12. August 2017

Damals, als ich noch an Märchen glaubte, schrieb ich eine Prinzessin in eine Geschichte und einen Zwerg in einen Spiegel


Die Schritte, die kleinen, doch emsigen Schritte führten zu einer Lichtung. Ein Kohlsaum als Nahrung, Gras in leuchtenden Farben, grün wie nichts saftigeres außer Leben, ein Stein in deren Mitte, darauf ein Zwerg, im Schneidersitz der Demut oder des Aufbegehrens, ein Fingerspiel beschäftigte die flinken Hände, Taschenspielertricks, gezückt am Ende: Eine Flöte, die er nun spielte.

Die richtigen Töne suchte er noch.

Der Zwerg schenkte ihr scheinbar keine Beachtung. Stattdessen übte er weiter. Lor kam bis auf zehn Schritte heran. Ein Spiegel in der Hand, wie ihn jede Prinzessin hielt, die sich im Wald verirrte. Zum Kämmen oder nächtens den Sternen zu winken. Als Prinzessin halte immer einen Spiegel. Beim Zwerg: Ein kleiner Lederbeutel baumelte an seinem Hals. Im Takt der Musik wog er. Wog schwerer. Störte. Kleine Finger versuchten, ihn aus dem Spiel herauszuhalten, wenn es eine Note ermöglichte. Beides mißlang. Das Baumeln zu unterbinden und die Noten finden. Ein kleiner Bogen lehnte entspannt neben einem kleinen Köcher am Stein. Winzige Pfeile rangelten um das Licht der strahlenden Sonne. Sie streckten ihre Köpfe heraus. Scharfe Schneiden. Nach einem letzten, krächzenden Ton – die volle Kraft der Tröte schwang noch nach, übel, bevor er die Flöte absetzte –, blickte der Zwerg auf und sprach mit feiner Stimme:

„Was für einen schönen Spiegel ihr da habt, Maid. Wollt ihr ihn tauschen? Ich besitze begehrte Dinge.“

Er streckte seine Hand aus. Unbequem kam sie näher als erwartet. Er lächelte verschmitzt.

„Nein? Ich werde euch dafür einen guten Preis machen…“

Lor schüttelte mit dem Kopf. Der Griff an den Lederbeutel schnürte ihr die Luft ab. Er zog an den Enden. Dadurch öffnete er den Knoten. Er griff hinein.

„Wartet, schöne Maid… ich gebe euch dafür einen seltenen …Diamanten. Seht ihr das Feuer darin? Es lodert. Man sagt, wenn man es sich ganz innig wünscht, dann entfaltet er heilende Kräfte: Er verschließt Wunden und macht Kranke wieder gesund.“

Funkelnd sah sie sich den Diamanten an. So schön war er, daß es schon weh tat, ihn so ungeniert zu betrachten. Doch dann:

„Ja, er ist wirklich schön. Doch hilft er auch gegen die schlimmste Krankheit, kleiner Mann?“
„Welche soll das sein?“
„Das Leben. Das Leben ist die schlimmste Krankheit. Unheilbar ist das Leben und führt zum Tod, unweigerlich.“

Der Zwerg war überrascht. Verärgert stopfte er den Edelstein wieder in den Lederbeutel.
„Wie ihr meint.“ Er überlegte. Dann fiel es ihm ein.

„Wie wäre es mit etwas anderem?“ Erneut steckte er seine kleinen Finger in den kleinen Beutel, schüttelte, hielt ihn ans Ohr, lauschte, schüttelte mit dem Kopf, schüttelte weiter, bis er das richtige fand. „Seht her!“, sagte er stolz. Etwas Großes, Glänzendes zog er aus dem Beutel. Es beschwerte sich über die ungewohnte Helle.

„Die Krone einer …Göttin! Setzt sie auf… und ihr werdet über alles auf dieser Welt herrschen: Über die Menschen, die Geschicke, die Hoffnungen! Und preisen werden die Menschen euch wie es sich nur für eine Göttin gehört.“

Lor beugte sich vor. Die Krone knisterte in den Zwergenhänden. „Ja, so ist es gut. Noch ein Stück… ein Stückchen noch …“ Zog sie an. Und näher. Doch dann. Blinzelte es am Augenrand. Der Spiegel in der Hand. Ihm verdankte sie ihr Leben. Ihr Spiegelbild stand Kopf. Lor schrak. Zurück. Sie sagte:

„Ruhm und Macht sind vergänglich. Und preisen? Wartet man nicht sein ganzes Leben auf jemanden, der mit all seiner Freude dann hinein platzt, gerade wenn man es nicht erwartet, und alles auf den Kopf stellt? Und man läßt es geschehen, obwohl es die eigene Welt auf den Kopf stellt, wie das eigene Bild im Spiegel, weil man sehen will, wie die Welt so aussieht, wenn sie auf dem Kopf steht. Und erkennt, daß man mehr als nur diese Blicke teilt. Und vielleicht jemanden findet, in dessen Blick man sich wiederfindet und dahinter eine Seele erblickt, mit der man verwandt scheint. Mehr als jeder erzwungener Bund vermöchte. Und sich fragt, warum man sich nicht eher gefunden hatte? Was nützt mir die Herrschaft über die Menschen, deren Geschicke und Hoffnungen, wenn ich zwar eine Göttin, aber selbst kein Mensch mehr bin? Es ist wie immer:

Was bleibt am Ende am wertvollsten? Schönheit, Verstand, Humor?

Schönheit? Beeindruckt mich nicht im Mindesten. Damit bin ich jeden Tag umgeben. Sie bleibt vergänglich. Eine schöne Seele dagegen überstrahlt jedes aufgesetzte Lächeln.
Verstand? Letztlich läßt sich alles lernen. Doch der Ursprung von Wissen ist nicht lernen, sondern beobachten. Und Humor? Ist die Intelligenz der Näher: Den Saum mit feinsten Nadelstichen zu stechen. Dort, wo am Ende die Naht im Verborgenen hält. Doch hochgeschätzt? Die unbedingte Liebe? Kommt der Sache schon ohne Näher näher… Das entwaffnende Lachen eines Kindes? Sicher. Beides ist mit am wertvollsten. Doch eines ist noch seltener: Der unbefangene Blick in die Seele eines Menschen.“

Der Zwerg sprang auf und kochte vor Wut! Ballte seine kleinen Fäuste, hüpfte weiter auf dem Stein umher und hin und her und wieder und wie, aber hielt sich mit Worten kalt zurück.

„Ich sehe,“, sagte er verbissen. „ihr versteht euch aufs Handeln, edle Dame. Doch ich biete euch jetzt etwas an,“, sagte er abschätzig und warf die goldene Krone ins Feld, wo sie im Grün versank, das Grün dann Göttin, und kramte tiefer in seinem Lederbeutel herum. „das selbst ihr nicht ausschlagen könnt. Hier! Er ist noch warm. Vom Erwarten…“

Aus dem wundersamen Beutel holte er einen rostigen Schlüssel hervor.

„Dieser Schlüssel hier… öffnet euch das Herz eines jeden Jungen. Oder Jungfer, wenn ihr es so bevorzugt.“

Der Schlüssel drehte sich im Handteller. Der Zwerg hielt ihn in die Sonne. Lor griff nach ihm.

„Was gibt es Kostbareres als die Liebe eines Menschen zu gewinnen?“, hörte sich Lor ohne Zögern sagen, während ihre Finger noch zweifelten:

„Dies ist wahrlich ein großzügiger Preis für einen alten Spiegel, edler Zwerg. Doch braucht die Liebe ein Schloß, um sie zu verschließen, oder gar Schlüssel, um ein Herz zu öffnen?“ Sie zog die Finger wieder zurück. „Und was für ein Schloß und ein Schlüssel muß das sein, die einen im Herzen eines anderen einschließen – und gefangen halten? Wie in einem dunklen Verlies. Was ihr mir bietet, ist ein Kerker. Ohne Licht, ohne Wiederkehr. Behaltet eure Sachen. Der unbefangene Blick ist das Kostbarste, was es gibt. Zu sehen, wie man wirklich ist. Ob der Blick gefällt? Was weiß ich. Aber ich kann nicht preisgeben, was mir nicht gehört.“

„Ah, gib mir endlich dein Antlitz!“ Der Zwerg stürmte plötzlich vor und sprang Lor an die Gurgel. Lor schüttelte ihn ab. Sie schlug ihm ins Gesicht.

„Mein Antlitz? Mein Antlitz wollt ihr haben? Ihr denkt, es bleibt darin, wenn ihr hineinblickt?“ Dümpelnd fiel der Zwerg zu Boden. Der Schlüssel daneben und der Lederbeutel. Er keuchte im Staub des Steines.

„Verzeiht mir,“, richtete er sich mühsam auf und sammelte seine Sachen, ohne sein Gesicht zu zeigen „daß ich euch mit diesen unwürdigen Dingen beleidigt habe. Ich bin klein und häßlich, nicht nur deshalb verdammt, auf dem Boden zu kriechen. Mit gesenktem Haupt tue ich das. Ich werde versuchen, einen angemessenen Preis für den Spiegel zu finden, den er verdient und der euch so zufrieden stellen wird.“

Dann kletterte er auf seinen Stein, kreuzte die Beine, hob die Flöte auf, führte sie zum Mund und blies gedankenverloren hinein. Noch einmal setzte er sie ab.

„Achtet wohl auf euren Spiegel. Es gibt viele, die ihn um euren Blick beneiden. Manch einer würde alles tun, um ihn zu erhaschen.“ Dann setzte er die Flöte an und begann, ihr die wunderbarsten Töne zu entlocken. Dann mit den Tönen Nebel. Kein Anblick mehr von beiden.









*