"Hallo" ist das Pfandleihhaus des "Aufwiedersehn"...



Miniaturen des Absurden

Betrete mit der Miene der Abfälligkeit und erhalte Einlaß

Vom Jardin du Luxembourg zum Panthéon brauchte es schon mehr als platonisches Innehalten, um sich Gehör für Gesehenes zu verschaffen. Da...

Freitag, 22. September 2017

Aus dem Leben eines Prügelknaben



„Den da.“

Sie war sich ihrer Sache nicht ganz sicher.

„Oder doch lieber den?“ Wieder schritt sie die Reihe der versammelten Knaben ab.
Das ganze dauerte seine Zeit.

Nun, während Noiset sich ihren Knaben widmete, hatte Mupo andere Sorgen. Ihm schwante nichts Gutes. Sollte er die Burschen bemitleiden? Er verneinte innerlich. Und stand abseits der Herrschaften im Nichts der Knechtecke, unweit der Tafel, aber weit von seinem geliebten Vorhang entfernt, der sein Inneres offenbarte. Man hätte ihn nicht öffnen sollen, erlaubte er sich den Gedanken. Beim zweiten ein Lächeln. Dann ein Gähnen. Nicht viele Zuschauer hatten sich bisher eingefunden. Der Saal kämpfte mit dem Morgenlicht.

„Vater, ich werde es nie wieder tun.“ Mit großen Augen trat Noiset an Galvan heran. „Ich war dumm und unbeherrscht.“

Mal hatten sie zu lange, mal zu kurze Haare. Mal waren ihre Hände zu sauber, mal nicht dreckig. Mal waren sie zu dünn, mal zu klein, mal zu speckig. Mal hatten sie zu viel von dem, mal davon zu wenig. Mal hatten sie dies, mal das. Was sie auch taten – und sie taten nichts –, taten sie nicht richtig. Geduldig ließen sich die Knaben begehen. Nur Galvan wurde jetzt ungeduldig.
Noiset. Einer ist wie der andere, keiner ist wie der andere. Alle sind sie gleich. Entscheide Dich!“ Müde rutschte er auf seinem Thron hin und her. Kleinlich beknabberte er ein Brot. Doch Noiset blieb ungerührt. Schließlich war dies keine Sache von Sekunden. Beizeiten durchdacht, weil für lange genehm, wollte sie wohl überlegt sein. „Oder doch lieber den?“ Die Wahl eines Knaben für die Prügel.

Noch mal von vorn:
Der Knabe ihres Wunsches mußte zuverlässig und zur Stelle sein. Nicht zu zart für schweres Tragen, noch zu grob in seinem Betragen. Keiner, der beim ersten Schubser bitter winselte. Doch auch nicht einer, der dabei nur gräßlich grinste. Der Hintern wohl genährt für schönes Klatschen, Schönheit nicht verkehrt. Zwar war Klugheit nicht vonnöten, doch zu unbedarft durfte auch er nicht sein. Solche, die nur guckten, wenn sie Haue nahmen, waren für Noiset nur schwer zu ertragen. Die ganz Kleinen waren auch für sie bequem, doch hielten nicht auf Dauer. Ein Umstand, der für diesen Umstand nun zum Tragen kam… Die Großen, zwar recht stabil gebaut, rochen meist schon aus den Mäulern. Man konnte sie viel besser schlagen, doch blieb ihr Inneres zu oft im Argen. Nun ja, sie wollte sehen, wie sie den Schmerz vertragen.

Schließlich waren die Schläge auch ihr gemeint. Nein, dieser sollte etwas Besonderes sein. Einer, für den sich die Knechtschaft lohnte, für den es auch ums Können ging. Bei dem man selbst noch trauert, wenn die Blasen auf dem Hintern blutgetrocknet waren. Einer, bei dem man noch selbst Hand anlegte. Für wenig mehr als gute Trauer. Nicht nur insgeheim beneidete sie Lor um Mupo. Er war so einer, das sah man gleich, der seine Arbeit noch gerne tat.

Nicht die der Schmiede, die der Bauern waren die Besten. Diese Burschen bezogen bei jeder schlechten Ernte ihre Prügel. Waren es also gewohnt. Doch, wie viele Ernten hat ein Jahr? Nicht viele, eben. Ein harter Schlag aufs Jahr verteilt ist besser als zwölf leichte. Eine gute Übung also. So waren sie es gewohnt, aber nicht gewöhnt. Die Schmiedeknaben konnte man mit Hämmern schlagen. Kein Wort, kein Winseln, zu verwöhnt. Für leicht verdiente Kost sollten sie noch dankbar sein. Können, dachte Noiset gelegen und schritt mit zeigendem Finger alle Burschen nochmals ab. Dann griff sie zu.

„Den da!“ Der Reihe nach zuckte die Reihe zusammen danach.

„Verzeiht mir, Vater. Das wollte ich wirklich nicht.“ Sie wollte noch etwas. „Wirklich, Vater, es tut mir leid.“ Galvan blickte kaum vom Essen hoch. Wieder störte Noiset mit großen Augen. Es ging um Golod.
„Nein, nein und nochmals nein!“ Kann man nicht in Ruhe speisen? Mürrisch gab er doch nicht bei, wie es sich Noiset erhoffte. Dann ging es wieder um den Knaben.
„Ich hoffe, es ergeht ihm besser, als dem letzten.“, sorgte sie sich fürsorglich. „Er war so klein wie gefällig.“
„Das hoffe ich auch. Nun geh und laß mich in Ruhe meine Dinge verrichten. Mupo,“, vom Knecht zum König erwachte gerade aus seinen Träumen, „du weist ihn ein!“ Ein Blick, ein Nick, ein kunterbunter Arsch. Schließlich konnte nicht ein jeder König sein. Dann zog der Kleine seine Hose wieder hoch. Gerade hatte der Saal den Kampf mit dem Morgenlicht gewonnen. „Komm mit!“, gehorchte Mupo und befahl.

„Gut, deine erste Prüfung hast du überstanden. Aber du mußt noch vieles lernen.“ Mupo schloß den Vorhang, pfiff und ging drei Schritte voran. Zu einer Treppe, die nach unten führte. Der Kleine, der ihm bis zur Schulter reichte, stolperte hinterher. Wachsam, die Backen angespannt, schloß er auf. Ein schräger Kopf klebte mit offenem Mund an Mupos Lippen. Er selbst blieb stumm. Mupo hielt, dann blickte er herab. Ein adretter, kleiner Knabe: Dunkle Haare, große Augen, runde Nase. Die linke Hand hielt den losen Bund. „Na ja,“, bedachte Mupo, „als erstes brauchst du neue Hosen.“

Aus dem Leben eines Prügelknaben:

Das letzte Mal, daß der Gürtel eine Hose trug. Hosenträger nutzten hier. Ein leichter Gurt für leichte Strafen, ein schwerer für viel mehr – beide lose um den Bauch gebunden. Unterhosen waren verpönt, der nackte Hintern bloß als Arbeitszeug. Nicht zu verachten, der richtige Zungenschlag für jeden Schlag. Ein Faible also für gute Noten. Nicht zu laut, doch keineswegs zu sachte. Im Winter trug man Hosen nur mit Latz, der Latz war hinten. Ach ja, ein Döschen Puder für den roten Arsch. Noch Fragen?

Der Kleine prüfte seine neuen Kleider. Dann blickte er zu Mupo auf.

Als nächstes, als da wären, galt es in richtiger Haltung zu verkehren. Der Kopf fast gerade, der Bauch gebückt, blieb der Rücken aufrecht stehen. Nur in leichter Beuge ließen sich die Beine sehen.

Mupo machte es ihm so vor.

Die richtige Technik war nun wichtig. Den Hintern ins rechte Licht zu bringen – das Gesäß besaß zwei Backen –, galt sodann als schicklich. Wollte man danach noch gehörig kacken, gab man mehr die eine als die andere her. Sauberkeit war auch hier geboten. Ein zarter Popo kam nicht von ungefähr.

 „Nachher zeige ich dir, wie man ihn ganz sauber wischt. Kannst du zählen?“ Mupo kramte Sachen aus den Taschen: Eine Schnur mit Knoten, ein Holz mit Leder, einen Knebel.

Hier mußte man nur bis Zwölfe zählen… aber das kam sehr selten vor. Bis Sechse sollte man sich schon sputen. Dreie waren die Regel. Bis Sieben, Acht und Neun war das Holz sehr nützlich. Bei Zehn bis Zwölf half auch das nicht mehr.

„Und der Knebel? Das erzähle ich dir ein anderes Mal. Komm her.“

„So, nun bist du gut gerüstet. Jetzt zeige ich dir dein Schloß.“
Mupo verließ die Knabenkammer wieder und ließ den Kleinen folgen. Nach dem Gang kamen zwei Türen.
„Die linke ist für uns gedacht, die rechte führt nach oben.“
„Nun schau.“, sagte Mupo und wählte eine aus. Wie ein Bild, das man zur Seite schob, um die verborgene Wand dahinter und deren Gilb zu zeigen, öffnete sich die Tür und gab den Blick auf Mägde frei. Ein geschäftiges Treiben besorgt von rosa Händen und lauten Schnörkeln hetzte rastlos durch den weiten Raum. Durch diesen hier und eine weitere Tür folgte der Blick dem Weg in den Bauch der Küche nach. „Sieh dir alles ganz genau an.“, sagte Mupo und nahm den Kleinen bei der Hand. So betreten betraten sie jetzt den Ort.

„Dort drüben gibt es noch viel mehr zu sehen.“ Köpfe lagen auf groben Tischen. Hinten lagen Beine. Derbe Hände würzten nach. „Schweine…“, Münder schmeckten ab, „…für das Mittagsmahl.“ Hier mußte man nicht darben.

Der Kleine löste sich von Mupos Seite und erkundete die Küche von ganz klein auf. Doch der Kleine sah nur die Mägde und deren Pickelbeine. Für ihn waren die Tische wie Regale. Von unten betrachtet kaum vorstellbar. Man müßte wachsen ohne schon zu altern. Von den Tischen bekam er nur die Kanten zu sehen. Hocker dienten so als Leiter.

Die Tische und ihre Kanten luden zum Bestaunen ein. Wenn die Tische hielten, was die Kanten ihm versprachen. Neugier half ihm auf hohe Hocker. Unten wieder sah der Kleine nur verschiedene Füße, die der Tische und verschiedener Weiber. Ein Tisch nach dem anderen mußte sich seinem Urteil stellen. Mittels Hocker und der Kanten inspizierte er die Platten: Diese hier hatte nichts zu bieten außer Teller und Geschirr. Die nächste lohnte auch die Mühe nicht, sie zu besteigen. Auf anderen erwartete ihn nur hübsches Mägdelächeln. Es schälte Kartoffeln. „Hier!“, sagte es und warf ihm eine zu. Und lachte. Ein anderes steckte dem Zweikäsehoch mit den großen Augen von hinten einen Käse mehr in seine Tasche rein. Dem Kleinen zog es zurück zum Boden.

Dort ohne Hocker ganz alleine sah er wieder nur die Füße, die der Tische und der Weiber, und auch seine eigenen. Wo die meisten Beine standen, das fand er schnell heraus, gaben die Tische nicht ohne weiteres auch das meiste her. Auch der Boden unter anderen Tischen ließ nicht immer auf den Vorgang darüber schließen. Töpfe und Kübel versteckten ihren Inhalt. Sie warteten mit Deckeln darauf, als Gang zu enden. Woanders lagen Federn. Dann lag nichts. Dann wieder Federn. Mupo erlaubte noch den letzten Tisch und stellte einen Hocker zu. Der Kleine nutzte die noble Geste und überwand mit ihrer Hilfe die erste Kante.

Kanten, so mußte man wissen, mußte man erst richtig packen. Im rechten Winkel gaben sie ihre Sicht erst preis. Der Kleine versetzte seiner Nase einen Ruck …und sah nun endlich neue Sachen. Knabenhände hielten ihn in Waage. Hühner, nackt mit Gänsehaut, sprangen ihm im Blick entgegen. Nas’ an Nas’, von Mensch zu Tier, ergab es sich im Gegenüber, daß man sich gegenüber lag. Zwei Dutzend Hühnerhälse mit Köpfen und auch Schlund trafen gepackt zum Bund wie Spargel auf des Kleinen offenen Mund. Gelbe Krallen an prallen Schenkeln ragten aus kleiderlosen Hühnerleibern. Dunkle Löcher, wo einst der geplatzte Kragen, verlangten Brust und Keule mahnend nach dem Leben, dem sie doch den Tod verdankten. Der Berg aus Hühnern schien sich mit dem Kleinen zu beweiben, der Kleine schien ihr Schicksal schon zu teilen, doch des Kleinen Schicksal schienen auch die Kleinen schon zu teilen. Dann kam Mupo und trug ihn weg.

Eine Tür brach auf. Eine Treppe führte steil am Küchengemäuer entlang nach oben und herunter. Feiste Männer trugen Ferkelhälften auf den festen Schultern und ließen sie unter Stöhnen über fettige Rutschen nach unten rauschen. Blut und Kot kroch aus Därmen. Wurst gewordener Traum, kroch der Duft durch hohle Nasen in den hohen Raum. Man trennte Kopf von Bein und schlug mit Hämmern auf die Köpfe ein. Nackte Mägdewaden stampften alles fröhlich quakend mit ihren Füßen zu Brei und falschem Braten. Man spukte, rotzte und befleckte – die Wurst von Mor, sie schmeckte. Auch die Männer, die die Hälften trugen, hinterließen ihre Spuren. Popel sah man nicht in Tücher wandern, essen durften dies die andern. Nicht nur die Stampfer hatten Pickel, Pickel hatten auch die Mampfer.
 Das Licht von oben, das den Tag begrüßte, blickte ungeachtet dessen herab auf alle Taten und bestrahlte so ganz nebenbei auch die nächste Tür unten im Wink der Treppe herbei. Mupo, noch im Glanze aller Sinne heller, nahm vorbei an funkelheißen Öfen den Weg durch diese Pforte hinein in des Schlosses dunklen Keller. Dort mit sich und seinen Beinen besetzte er den feinen Tritt des Bodens und schritt voran und ohne Worte. Der Kleine, von ihm und sorgsamst Pflicht getragen, blieb auch jetzt nur stumm, doch ließ sich, noch immer offen für alle Fragen, ungern nicht und sonst ertragen.

„Hier unten…“, Treppen wiesen in verschiedene Richtungen, „kannst du dich sehr schnell verirren.“ Kann man schneller noch den Verstand verlieren. „Du mußt jetzt achtsam sein.“, stellte Mupo sicher. In scharfem Ton ermahnte er seinen Kompagnon. „Verlaß dich nicht auf falsche Fährten. Falsches Rufen kann dich nur verwirren. Präge dir gut den Weg jetzt ein.“, sagte er und stahl sich eine Fackel aus der Wand. „Sonst wirst du für lange Zeit oder schlimmer noch verloren sein.“ Und weiter: „Ein Prügelknabe muß sich stets behaupten. Zügle deine innere Angst und bleibe still. Verlieren tun sich nur die lauten. Aus dem Gewirr der Gänge, kann ich dir verraten, wähle den mit dumpfem Rauschen. Das Geräusch ist Wasser. Woher es kommt, das weiß ich nicht, und, ganz wichtig, du mußt schon selber lauschen. Nutze dein Gehör, und mit Sicherheit, und einigem Geschick, führt es dich aus der Dunkelheit zurück ans helle Licht. Folgst du aber nur dem Licht der Fackel, kannst du dich nur selbst beklagen. Hier unten gilt das Gesetz der Schatten. Nun folge mir, und stelle, wenn du willst, alle deine Fragen.“

Nach einiger Zeit und langer Stille kamen die beiden Knaben zu einem Gang, der in einem anderen mündete. Mupo ließ die Fackel weg – er legte sie auf den Boden – und ging voran. „Warte hier.“, sagte er zum Kleinen – er wollte ihm nicht alles zeigen – und verschwand vor dessen Augen in einem dunklen Nichts.

Geräusche drangen aus der Ferne. Klimpern hörte er, und auch Knarzen. Kommt Mupo bald zurück? Beleidigt verbrannte sich die Fackel am nackten Stein des Bodens. Er wartete. Und wie man es ihm befohlen hatte, rührte er sich nicht vom Fleck. Dann war es still. Vielleicht sah er in den Schattenlichtern doch mehr als nur sich selbst und müdes Hadern. Mühsam kämpfte die Flamme um letzte Züge. Das Gesicht des Kleinen wurde schwächer. Ein Poltern! Es kam von anderer Stelle. Hatte der Kleine schon eigene Gedanken? Wenn ja, dann gingen sie in der Dunkelheit unter; weil die Fackel jetzt erlosch. Schritte? Kamen sie von vorne oder hinten? Lauschen, hatte Mupo ihm befohlen. Doch, was half es ihm, wenn er dabei nichts sah? Etwas kratzte. Da! Ein Licht. Dann wieder nicht. Ein Tocken. War es hinter ihm? Er horchte. Etwas wehte. Stoff, der sich in Eile befand. Nun blieb es stehen. Ein Ticken. Jetzt von vorne. Dann von neuem nichts. Der Kleine, der sich sonst nicht regte, machte einen Schritt zur Seite. Und ließ einen anderen zur Wand hin folgen. Zu dumm nur, daß er auf die Fackel trat. Verächtlich klopfte sie sich zurück ins Leben. Echo war ihr Name.

Darauf hatten Beine nur gewartet. Sie rannten und kamen näher. Treppen schienen ohne Stufen. Geplapper lauter Sohlen. Die Fackel, das stand fest, hatte den Kleinen wohl verraten. Dicht an die Wand gepreßt, vernahm er fremdes Schnauben. Zwei Ecken noch, dann schon nichts. Geflatter eines Umhangs. Der Kleine warf die Hände vor die Augen. Ein schwarzer Umriß. Tock, Tock – Tick. Licht.
 Wo die Wand im Rücken war, stand nun eine Fratze in neuem Fackellicht. Ein Arm mit Hand packte den Kleinen am Genick, zog am Kragen und verschwand mit ihm und allen Fragen aus aller und des Umhangs Sicht. Tick.

„Ich bin’s – Mupo.“, flüsterte Mupo und legte den Finger auf die Lippen. „Er kann uns nicht sehen.“ Beide lauschten. „Das ist Mondrian… aber er kennt nicht alle Gänge.“ Mupo freute sich. „Vor dem mußt du dich in acht nehmen. Komm.“
Er drehte sich um und ließ die geheime Tür hinter sich. Flinken Fußes schritt er voran. Hebel sah der Kleine, und auch Seile. Sie führten an der Wand entlang zu dunklen Löchern in der Decke. „Der Keller verbirgt noch viele Geheimnisse. Hier rüber.“ Er wechselte die Seite. „Es soll eine Kammer geben, die man nur bei Nacht und über den Himmel erreichen kann. Ein Weib soll darin gefangen sein. Oder so ähnlich. Weiß nicht, was das heißt. Habe sie noch nicht gefunden.“ Der Gang machte einen Bogen. „Komm weiter.“ Der Boden wurde steiler. Dann kam eine Tür, aber Mupo ließ sie links liegen. „Irgendwann habe ich eine Tafel gefunden. Da stand es drauf. Hat jemand weggeworfen. Na ja, so in etwa. Kannst du lesen? Egal. Komm.“ Sie erreichten das Ende des Ganges. Blanke Mauersteine verrieten, daß es nicht mehr weiterging. Mupo hielt die Fackel höher. Und dann – „Ich bin oft im Keller.“ – erschien im Strahlenschein eine versteckte Öffnung, die sich nur im rechten Licht betrachtet auch für die Augen öffnete. „Halt mal.“, sagte Mupo und gab das Licht an den Kleinen weiter.

Als wollte er den Rost aus müden Knochen schütteln, streckte er seine Arme aus und fand so ganz dabei noch im Schlafe eine Kante, die ihn wie im Traum der Schlummer packte und rasch nach oben zog. Dort auf dem Sims angelangt prüfte er, ob sich neben dem Unrat der Stelle noch anderes düsteres Getier am Platze befand, und entschied. „Gib mir deine Hand.“

Der Kleine schaute betroffen. Mit Kanten kannte er sich jetzt zwar aus, doch ein Hocker fehlte. Zu kurz waren seine Beine, zu klein die Glieder, als daß er selbst mit Mupos Hilfe sich schon oben sah. Unbeholfen streckte er der helfenden Hand die Fackel entgegen. „Paß doch auf!“, murrte Mupo, weil er sich nicht verbrennen wollte. Und keuchte, weil die Flamme ihm die Luft zum Atmen nahm.
„Nimm die Fackel weg! Ich komme runter.“

Wieder unten gab er dem Kleinen einen Schubs. „Gib her! Wir versuchen etwas anderes.“ Mit Schwung und übler Laune nahm er ihm die Fackel ab und warf sie hoch in das Loch der Mauer, wo sie erst noch tanzte und dann gekonnt zum Liegen kam. Er bückte sich. „Klettere auf meinen Rücken. Aber halt dich gerade! Jetzt steig nach oben.“ Wird Mupo mich bald schlagen? Der Kleine gehorchte und gab sich Mühe, nicht zu versagen. Er will mir doch nur helfen… „Du hast es bald geschafft. Nun greif die Kante. Ja, so ist’s gut! Jetzt zieh dich hoch.“ Dann ein Krachen. Es kam vom Gang. „Versteck dich!“ Mupo klang überrascht. Besorgt drehte er den Kopf nach hinten. „Ich schau mal nach, was da los ist. Vergiß die Fackel nicht.“ Da! Schon wieder dieses Tocken. Schon war Mupo aus der Sicht verschwunden.
 Stumm, wie beim ersten Mal, blieb der Kleine auf dem Sims zurück und lauschte. Von oben versuchten seine Augen, dem Gang zu folgen. Doch sie wurden von Düsternis geblendet. Allein die Fackel, hell im Lodern, blamierte beide nicht.

Mupo stand an der Tür, die er eben noch mißachtet hatte. Sie lag gut verborgen in einem Eck des dunklen Kellers, der selten besucht nicht jedem so gut vertraut war, wie ihm selbst, doch Interesse weckte. Sie war verschlossen. Warum auch nicht, hatte er sie doch eben noch gewissenhaft verriegelt. Doch etwas überraschte ihn. Lag hinter ihr nicht ein Hauch von Schwere in der Luft? Er blickte zurück. Warum brennt die Fackel noch? Hatte er dem Kleinen nicht gesagt, er sollte sie verstecken? Schwaches Lodern aus der Ferne mischte sich mit dem Schwarz des Ganges zu Lichtgeflatter. Kein starkes Schlagen, doch auffällig genug, um Gefallen daran zu finden. Ah gut, das Licht war weg. Vorsichtig legte er sein Ohr an das Holz der Tür.

In jeder Stille klingt der eigene Atem wie lautes Gedröhne. Der Wechsel von einem Bein aufs andere wie Gequake. Beides unterdrückte Mupo ängstlich, aber erschreckte dann bei jedem Schlag des Pulses. Auch ihn versuchte er zu bestimmen, obwohl er sich beschwerte. Holz am Ohr läßt jedes gute Haar im Innern zum Knistern bringen. Brandungsschaben, so voll Leben, daß man Angst hatte, andere könnten das schon hören, was man selbst doch nur im eigenen Kopfe hörte.

Der Abdruck von Gesabber, den der Mund beim Pressen an das Holz vergab, dampfte Blasen in die Masern. Unbequeme Kühle, durch luftgekühlten Speichel in den Lippenwinkeln, ließ Mupos Zunge aus dem Munde fahren und mit besagter Spucke zurück zum feuchten Ursprung tragen. Er schmeckte Baum und Fasern, Leim und altes Kahmgemäuer. Dann legte er die Hand auf den Riegel. So angespannt war er, daß seine Finger dabei in ihren Gelenken knackten. Der Riegel selbst aus Blei gegossen fühlte sich mit dem Schweiß der Hand wie Mehltau im Tau des Morgens an. Langsam schob er ihn zurück.
 Mupo stand im anderen Flur. Finsternis umgab ihn. Die Türe war jetzt offen. Mit jedem leisen Schritt, den er bis dahin machte, hoffte er sich zu verraten. Denn dem Schlag des Blutes, den sein Herz mit jedem Knarren seiner Sohlen schluckte, drohte schon als nächstes auch der letzte. Mühsam nutzte er die Augen, um zu hören. Und tauber noch die Ohren, um zu sehen. Nichts. Ein schwarzer Nebel in dunklem Gewand. Dann bewegte Luft – Mondrian schlug ihn mit der flachen Hand.

Der Kleine hockte auf seinem Vorsprung wie ein Hüpfer auf dem Gras. Von vorn betrachtet und von unten schien er durch den Augentrick des Loches in den Steinen der Wand zu schweben. Göttlich erleuchtet von der Fackel und ihrer Flamme in seinem Rücken. Kommt Mupo bald zurück? Erhaben durch den Knick des Ganges setzte er sich ins rechte Licht. Dann drehte er sich um. Versteck dich, hatte Mupo ihm gesagt. Und vergiß die Fackel nicht! Dann hörte er das Rauschen. Von unsichtbarer Kraft gezogen, trieb es ihn hinein in das Loch und das Dahinter. Ohne sich zu verbrennen stieg er über die Fackel, streifte sie mit den Beinen und stieß sie ohne darauf zu achten hinunter auf den Boden. Ein Verbund aus Ecken, dunklem Steingemuster, Geraden und auch Rissen erwartete ihn in dem Durchgang vom Hier zum Durcheinander. Ein Licht von neuer Qualität zerschnitt die Schatten seiner selbst. Das Gitter, rund und rostig, roh und rüttelfest, verbarg und barg, entbehrte, behrte und gebar:

Schau sie dir an und staune, kleiner Mann. Bringe dich in Regung. Ohne Schuld und Makel siehst du sie auf gleicher Höhe weiße Rosen pflücken. Im Arm als Kind der Korb, der sie empfängt, als Sinn im Leben, sich gern zu geben. Halte dich nicht auf, dich herzugeben. Ein Kleid ersetzt die Blöße nicht.

Schaue, kleiner Mann, und staune… Von Luftgezwitscher frohbedeckt scheint der Himmel (schon) herab auf Lor und diesen Garten.

Vor seinem inneren Auge begann sich das Gitterrost zu drehen. Mit beiden Händen hielt er sich daran fest. Die Welt stand Kopf, dann wieder gerade. Nichts schien, wie es war. Kein Rauschen mehr. Gedämpfte Laute verfingen sich in seinem Kopf. Durch einen roten Schleier hindurch erwartete Lor den Knaben:

„…wer bist du?…“, wurden die Laute von sanfter Stimme getragen.
„…wer hat dich geschickt?…“

War dies ein Traum, der benebelte? Fragen, die der Kleine so nicht hörte. Mit offenen Augen – der Augenblick nicht minder so gespickt – stand auch er nur da. Der Kleine begriff noch nicht, wer und wo er war. Lichter blendeten ihn. Nur langsam drehte er sich gerade und wurde dem gewahr.

„Komm.“, sagte Lor. „Hilf mir, den Korb zu tragen.“, und pflückte weiter ihre Rosen.

Mit offenem Mund hielt der Kleine Hof – und den Korb an ihrer Seite – und  sah, wie sich mit jedem Lächeln Lors eine Blüte mehr dort hinein bewegte. Ein stiller Vertrag zwischen beiden ließ Rosen in die Höhe und bald über den Rande quellen. Schwerer wurde er trotzdem nicht. Nun lächelte Lor dem Kleinen in die Augen. Zwinkernd nahm sie den Korb entgegen und ging voran. „Komm. Wir wollen daraus einen Umhang flechten.“

Auf grüner Wiese ließ Lor sich nieder. Summend saß sie auf den Fesseln und benutzte ihren Schoß als Schürze. Der Kleine folgte ohne Worte. Wenn dies ein Traum war, für wen war der bestimmt? Lautlos setzte er sich auf seine Hosen. In der Mitte stand der Korb.

„Öffne deine Hand.“, sagte Lor und nahm sich drei Blüten. Der Kleine zögerte, während er schon gehorchte… Vorsichtig legte sie ihm diese dorthinein.

„Nun gib sie mir.“ War dies die nächste Prüfung? Unsicher, dann sicher, gab er sie an Lor zurück. Wieder lächelte sie. Und begann sie zu verknüpfen. Ein Spiel, das der Kleine wohl verstand. Dieser Augenblick schien das Braun in seinem Auge zu sein.

Blüte an Blüte setzte sich Knoten an Knoten. Flinke Hände zupften. Fließend schnell, flott und flüssig, aber langsam im Entstehen – wie ein Gemälde zu verstehen, das ein Maler mit den Fingern malt – hielt sich Blüte an Blüte gekettet eine an der andern fest und hielt sich so zusammen: Ein Umhang weiß, was in ihm steckt.

„Schau!“, sagte Lor mit sanfter Stimme und hielt dem Kleinen eine weiße Pracht entgegen. Als die letzte Rose darin verschwand, strahlte selbst der Kleine. Und lächelte zum ersten Mal. Dann lachten beide! Aber hielten inne. Lor hielt den Umhang gegen die Sonne. Durch die Maschen hindurch blitzte erst der Schein, dann schwach der Kleine. Matt und dunkel verbarg er sich im Gegenlicht. Unschuldsschatten. Aus dummen Späßen wurde Ernst.

„Ich will sehen, wie er dir steht.“

Behutsam lockerte sie ein paar Rosen in der Mitte und schob sie so zur Seite, so daß dort ein Loch entstand. Dann hob sie den Umhang hoch und legte ihn um den Körper des Kleinen. Wortlos schlüpfte er hinein. Er passte. Lor verneigte sich demütig und hielt den Kopf gesenkt.
„Mein Ritter, eure Rüstung.“ Ungläubig besah der Kleine sein neues Kleid. Blütenkelche schimmerten aufgeregt im Zwielicht. Funkelknospengewand. Dann sprang er freudig auf und lachte. Hüpfte mit ausgestreckten Armen auf der Stelle. Dann drehte er sich im Kreise. Wie ein Schmetterling einem anderen hinterher, und lachte das Lachen eines Kindes.
Lor schraubte sich auf die Füße. „Warte, kleiner Mann.“, sagte sie. „Lauf nicht weg. Na warte!“, und hüpfte hinterher. Doch er lachte nur! Zu stolz, zu keck war er, daß er sich gar fangen lassen wollte. Im Kreis, als weißer Tupfer im Garten, unter den Apfelbäumen lief er umher. Verfolgt von Lor und beider Schatten. Fang mich doch, so fang mich doch!
O edler Ritter, du fängst mich nicht, du fängst mich nie! Dann fiel er auf die Nase.
„Er ist Noisets neuer Knabe.“, sagte Mupo mit blauem Auge, und Lor stürzte auf die Knie.

Es war eines der besten Zimmer. Es lag im oberen Teil des Schlosses und entsprach der Aussicht. Gelassen sah man herab auf den Hof mit seinem Treiben. Dort unten, wo man sich begegnete. Wo man verschwommen Mägde und den Brunnen sah. Sie schleppten Eimer und schwatzten. Wabernde Punkte. Doch, noch blieben die Vorhänge verschlossen. Noch sah man nur den Raum zwischen Scheibe und Gardine. Eine Spinne im Fenster saß fett in ihrem Netz und wickelte gerade ihre letzte Beute ein, und freute sich, da wurden sie jäh von Frauenhänden aufgerissen.
Weil die Sonne des Morgens nicht mehr so tief stand und blendete. Und das Netz zerrissen. Man hörte das Poltern von Umhergerenne, Geröchel. Geräusche eines Menschen, der nach Hause kam.

Der Blick durchs Fenster kam jetzt näher. Die Spinne legte ihre Beute an die Seite und begann, ihr Netz von neuem zusammenzutragen. Das Blau vom Himmel und Sandfarben fielen durchs Fenster ein. Ganz langsam, Stück für Stück, entwirrten sich die Fäden. Faden um Faden spann die Spinne ihre Bahn. Wie ein grobes Schachbrettmuster entspann sich ihre Lage. Von oben nach unten. Von links nach rechts. Vor und schon zurück…

„Komm nur.“, hörte man die Stimme sagen. „Keine Angst.“ Dann erschein der Knabe.

Der Blick selbst schweifte durch die Kammer. Dunkelrot, mit rostverziertem, teppichbelegtem Boden und ebensolchen Wänden lag ein Nimmerschimmer im Halb des Dunkels. Das bißchen Licht, das sich fern der Quelle bis hierher regte, schien nur durch das eine Fenster. Der einzig offene Vorhang warf müde Falten in das Zimmer. Eine schwarze Dogge hielt Hof zu ihren Füßen: Noiset lag wie auf einer Trikoline.

Der Kleine traute sich nicht näher. Er stand im Tritt des Raumes und wirkte lächerlich in seiner Rosenrüstung. Er mußte um eine Ecke schauen. Dann nahm er sich ein Herz. Angenehm gedämpfte Schritte warteten auf ihren Gang. Halbhell und doppelt schwarz teilte sich das Bild vor seinem Auge. Noisets Bettstatt war eingelassen in die Wand. Ein Altar als Wiege. Goldene Platten. Sternenförmig, halbrund. Vom Licht bestrahlt. Ihre Lippen formten einen Satz:

„Ich habe schon auf dich gewartet.“

Schatten fielen durch das Fenster. Vom Spinnennetz auf den Kleinen. Rillen.







*







Freitag, 15. September 2017

Im Gang der Schnüre


Ein Grund, zu streiten…

Ein Grund für Gier…

Ein Grund, zu lieben…

Ein Grund, zu hassen…

Ein Grund, zu trotzen…

Eine Zeile für die Tugend…

Ein Traum für das Vergessen.


Die Stricke geknotet. Mit den Teilen verbunden.

Ohne Grund: Das Scheitern…

Und Wacherot? Und Galvan?

„Das… erzähle ich, der Puppenspieler.“

Mondrian erschrak.
„Hah! Da ist doch jemand!“ Er sah ein Auge. Ganz klar. Erst, als sich das Lid öffnete, wurde das Auge wahr.
Mupo, bist du das? Ich sehe dich genau! Mupo, komme sofort heraus. Wo ist die Kammer! Wo ist meine Kammer! Warte, ich beobachte dich genau. Beobachte dich. Beobachte dich genau…“


Broa war eine jener Städte am Meer – mit ihren starken Kaimauern, den schmalen Häusern, den stolzen Menschen –,  die ihren Glanz der Brandung verdankten. Weil nach jedem Wellengang alles in neuem Licht erstrahlte. Die den Gestank der Fische mit dem Duft des Abenteuers verdrängte. In die man nicht ohne guten Grund trat. Weil in jeder dieser Städte das Leben in einer besonderen Haltung vorwärts kam. Vorgebeugt, mit den Händen in tiefen Taschen versunken. Der Blick entschwunden, doch klar für das zeitlich angebrachte. Das Zwielichtige dieser Gestalten war – die Frechheit, mit der sie einem glichen – auch gleich das Bemerkenswerte: In ihrem dunklen Behagen – ihr versetztes Aussehen, ihr schleichendes Auftreten – fand man sie schnell in engen Gassen wieder. Auf steinernen Stufen, die ins Nirgendwo verliefen. Wo die Pflaster bald nach einem Laken voller Tränen schmeckten und rochen, wo die Nasen Düfte folgten, nach dem Schweiß der Huren. Wer sich auf den Schein einläßt.
 Stießen die Freier unter Stöhnen ins Leere oder in gefaltete Hände geblendet vom Fuselschleier. Oder bellten Hunde an. Als Fremde in der Nacht. Katzen fraßen Ratten. Kauten auf dem Pflaster, auf dem nachts das Leben probte. Ausgekübelt in den engen Passagen. Die sich weiter schlängelten. Auf Platte. Bis zu einer Zisterne oben. Wo es endete.

 …die im Glanz der Brandung lebte. Zwischen zwei weichen Hügeln in einer Bucht gelegen. Ein nachträglicher Schutz: Der Turm, der schon von weitem wußte, wer sich näherte. Auch blickte der auf die Strände, jenseits der Buckel, die sich endlos gegen ferne Himmel schoben. Der Glanz der Versprechung lebte. Und vom Meer die Schiffe lockte…
 In den sicheren Hafen einzulaufen. Sicher durch die starken Mauern Broas, die den Winden trotzten. Kamen als Beifang die Matrosen. Die Heimatlosen. Die Ferneschweifer, die Wiederkehrer. Die Eintagsverehrer. Die Eintagskinder. Die Kindertränken. Die Waisenväter.
 Der stillen Wege, die dort endeten. Heimat. Als verschwiegener Ort – wie jeder – bekannt durch Geflüster, am Wegerand die rote Häuserwand einer Kaschemme. Und benannt nach den Dingen, die an der gegebenen Stelle verblieben:

Im Gang der Schnüre 

Wo nicht nur Huren ihre Körper von der Last erlösten. Hinter der Schenke ein schwarzer Lauf – fernab belebter Trassen. Die Reste einer aufgegebenen Zisterne. Erloschen, weil sich hier das Meer zu oft in Erinnerung spülte. Durch unterirdische Vorgänge. Und das Wasser vergiftete. Nicht mit dem Salz der Tränen. Aber für diese Zwecke mit sich nahm – im Wechsel der Tide –, was lieber im Grunde trank: Die Geburten. Der Eintagsverehrer.

Und die Nachgeburten: Die Flüche…

Nur die Nabelschnüre verblieben. Als Wünsche. Wie nasse Socken hingen sie an einer Wäscheleine. Gehalten an beiden Enden von schrägen Stäben schwebten sie mahnend über der schwarzen Öffnung der Zisterne. Wie gewaschene Strümpfe schwangen sie im Gegenlicht des Mondes – als wären sie abhängig wie die Wellen.

Wären da nicht die Wünsche gegen.

Der grobe Klotz war nicht prüde. Erschreckte auch mit der langen Narbe, die sich von der linken Braue übers Auge und die Wange zur Nase brachte. Derbe griff er den Huren an die Brüste und steckte seine Zunge in Munde …um sie aus dem Wege an die Wand zu drücken und Platz zu schaffen, für den der ihm dunkel folgte. Beider Ziel – diese Kaschemme. Zu dem letzten Haus auf der linken Seite der Gasse. Ohne Schild, doch bekannt durch diesen verschwiegenen Namen…

 Manchmal. Manchmal bei ruhiger See sah man sie schwimmen. Nur schwimmen, als wären sie frei. Die Kinder bei ruhigen Wellen – sah man ihre Leiber, und erinnerten dabei, weiter in der Ferne, an vorbeiziehende Boote.

 Eine leichte Steigung. In der Mittenrinne schwamm ein Tuch. Der gewiefte Klotz trat als erster an die Tür und klopfte. Die Wand daneben war rot gestrichen. Nicht ganz. War es bei näherem Hinsehen keine Farbe.

„Das Haus der roten Hände…“

Geschrei mischte sich unter das Gefasel weiter unten. Kam aber von oben.

 Das Haus der roten Hände, weil die Frauen auf dem Weg zurück von der Zisterne kommend mit ausgestreckten Händen Halt an den Wänden des ersten Hauses suchten, das dort kam, griffen diese Wand, noch warm – daher die Farbe – und wankten beiläufig nach unten…
An der Ecke, dort wo der Schein der Lampen heller wurde und das Treiben reger, richteten sie sich auf, glätteten fahrig ihre Blusen, zogen den weiten Mantel, den man sich schon mal besorgte, ins Gesicht, strichen sich durch die Haare, auch die Haare so nun rot, und traten wieder in das Leben ein – nur der Blick entsagte bar der Ordentlichkeit.
Warum dann diese Wege? Weil das Leben in Broa nur Stufen kannte. Die man rauf und runter rannte. Nicht gerade. Niemals gerade. Auf und ab. Niemals gerade. Wieder so Geschrei. Eine neue Stimme. Verstummen…

Die dritte Nacht. Der Ankerplatz leer. Das Schiff mit den Winden entschwunden. Lag die See nun in trauter Stille. Vollmond. Dicht über dem Horizont. Und wirkte dadurch größer. Roter Mond. Rotes Haus.

Der grobe Klotz trat als erstes ein. Der zweite schaute ins dunkle Ende der Gasse. So durchdringend war sein Blick, daß sich die Schatten teilten. Die Augen tiefer drangen. Vor bis zu dieser Zisterne. Er wartete, ob sich das Geschrei wiederbrachte. Stille. Nur diese Stille. War so laut, weil man das Rauschen der Ohren im Kopf jetzt deutlich hörte. Und dort platzte. Er nahm seinen Hut ab. Dann trat er ein.
„Der ist hier.“ Der Wirt zeigte auf das Ende des Tresens.
„Er spielt Geschichten vor. Er arbeitet so sein Essen ab. Wollte nicht bezahlen. Nun, ja… er ist gar nicht schlecht. Er hält die Säufer wach.“
Mit dem Rücken zum Lokal lag er auf dem Kneipentisch und umarmte sich selbst unter leisem Schnarchen. Oder wenn man wollte, lautem Atmen. Im Takt des Brummens hielt er sich so gerade auf der Kante. In zerschlissenen Kleidern, die einmal wertvoll schienen – kein Grund, sie noch zu schonen, und veränderte den Ton, so daß man Angst bekam, er könnte beim nächsten Seufzer fallen. Sein Fuß hing schon herunter. Er zuckte. Eine Fliege plagte seine Sohle. Der Strumpfwickel abgewickelt. Lag der Schuh dazu auf dem Boden.

Jenni schaute Vater und Mutter zu…
Sie tanzten zu Songbird in ihrem Verlangen …allem zu gleichen. Mit den Gedanken auf bloßen Schultern. Wo das lauteste der Lidschlag war, als Takt, nachdem sie sich liebten. Und sie weinten. And the songbirds keep singin’… And I love you, I love you, I love you, like never before…

Die Geschicke sind gewählt. Jedem sein Platze. Wie es zu Ende geht?

Wie es begann: Mit der Täuschung als Wiege…




In einer Kaschemme.

„Du, erzähl es noch mal. Du…! Puppenspieler, du warst doch dabei! Los, erzähl!“
Der derbe Bursche stieß den Rücken des Puppenspielers an. Er lag auf der Theke. Quer, vom Bier des letzten Tages noch träge und taumelnd. „Wo…?“
Er sah sich müde um. Mit der Fahrigkeit eines Blinden stritt er um bewegte Zusammenhänge. Er rückte sein Bündel zurecht. Unbequem hatte er darauf geschlafen. Er lockerte die Schlaufe. Seine Puppen blickten ihn durch die Öffnung an: Galvan und Malverne. 
„Ja… ich erinnre mich…“
„Mach’s nicht so spannend! Beeil dich. Hier, der Herr bezahlt. Erzähl ihm die blöde Geschichte… Wie Mor gefallen ist.“
„Wer… ah, ich sehe…“ Der Puppenspieler blinzelte. In einer Ecke der Kneipe hatte sich der Herr niedergelassen. Ein älterer Mann mit dreckschneefarbigen, schulterlangen Haaren. Schnee, in den Hunde gepinkelt hatten. Sehe ich so aus, als ob ich den Schnee je gesehen habe? 
„Ihr wollt es wissen? Das kostet…“ Er stieß den Burschen weg.
„Ach… laß mich! Du stinkst.“ Der Grobklotz, der jetzt für den Alten arbeitete, setzte sich neben ihn und griff nach dem Wirt. Er solle ihm ein Bier bringen.
„Mir auch…“
Der Puppenspieler stützte sich mit den Ellbogen auf und starrte den Schaum an. Er wartete die volle Zeit ab. Ununterbrochen. Unterbrochen nur vom Mundewischen, vom Zungelösen und vom Entlocken. Durch die Augenwinkel bespitzelte er den Herrn. Er leerte den Krug. Die Hälfte ging wie immer daneben.    
„Er guckt so traurig…“ Er lispelte. Seine Schneidezähne wackelten. „Ein Mißgeschick. Ich ließ mir neue machen…“ Er setzte sie gerade. Er wartete auf den nächsten.
„Sein Schiff hat ihn verlassen…“ Der Grobklotz spuckte in seine Suppe, die ihm der Wirt neben das Bier stellte. Dann biß er hinein. So grob waren die Brocken darin verteilt.
„Aha… Dann wird ihn meine Geschichte nicht aufheitern.“ Der Puppenspieler ließ das zweite Bier zischen. Er spie in die Hände und wischte sich über Stirn und Haare. Er drehte sich in die Runde. Der einzige Gast war plötzlich verschwunden. „He…“
Er saß einen Tisch weiter. „Saßt du nicht gerade dort drüben?“ Der Puppenspieler wunderte sich. Er stieß sich an den Kopf. Er wollte später etwas gegen seinen Dusel essen.
„Nun, es lag an …Unser.“ Noch einmal musterte er sein Gegenüber. Er trank einen Schluck, nur für die Zunge, gurgelte den Belag lose, schluckte und begann…

Unser, müßt ihr wissen, hatte diese besondere Gabe…

Unser kam zurück mit den Taschen voller Gold. Seine Steuerreise war erfolgreich. Erfolgreicher als jede zuvor! Trotz aller Umstände. Nanu, ihr wißt nicht, wer Unser ist?“
Plötzlich wurde die Wirtstür aufgestoßen. Nichts folgte. Dann kam ein kleiner, hagerer Invalide. Er humpelte sich quälend zum Tresen. Er setzte sich auf seinen angestammten Platz am rechten Ende – dort an der Wand war ein Nagel eingeschlagen, an den er sein falsches Bein – hautfurzend löste es sich vom Stumpf – aus Walknochen hängte. Der Wirt stellte ihm schon seinen Krug bereit. Der Invalide spuckte auf den Boden, wie es üblich war, dann saugte er das warme Bier.

Der Puppenspieler sah sich das Ganze an. Mit gespreizten Daumen in Gehrocktaschen. Dann drehte er sich wieder zu seinem zahlenden Gast. Der saß dafür wieder am linken Tisch.
„Wo war ich? Ah, ich… erzähle eine traurige Geschichte. Wollt ihr sie dennoch hören? Gut…“ Er schaute zur Tür. Er erwartete wohl noch mehr Publikum. Oder suchte er nach einem Ausweg? Das sah der Grobklotz ebenso und stellte sich an den Eingang. Schleimrotzend kreuzte er seine Arme um den Brustkorb und lehnte sich gegen die Wand im Rücken. Mit dem Bein sperrte er den Gang. Trotzdem schaffte er es, seine Suppe auszulöffeln. Der Puppenspieler zündete sich einen Glimmstengel an.
„Ihr spielt heute nur für mich…“ Er zuckte zusammen. Adamas stand neben ihm. Dicht. Der Hauch der Worte flüsterte sich an seinem Ohr vorbei durch das Lokal und schob den Qualm des Tabaks entlang der Theke, bis zu deren Ende und dann im rechten Winkel um sie herum. Was alle verblüffte, den Wirt, wie den Grobklotz, den Invaliden und den Puppenspieler ebenso.
„Na…“ Aber Adamas saß schon wieder. „…türlich.“ Der Wirt stellte einen Schnaps hin. Der Puppenspieler leerte den Becher mit einem schnellen Zug. Langsam atmete er die blaue Luft aus. Der Wirt schenkte einen zweiten ein. In dem Flirren ließen sich Bilder erkennen. Er trank den nächsten. Wieder pustete er den Dunst des Absinthes und des Tabaks in die Luft aus. Deutlicher wurden die Bilder. Gedankenverlangsamend starrte er sie hinein – und füllte sie mit Leben. Der Wirt verschüttete den dritten Schnaps. Der Grobklotz und der Invalide verfingen sich in dem rahmenlosen Gebilde. Nur Adamas blieb unbehelligt. Er warf seinen Hut in die Runde und trieb so die Bilder auseinander.
Der Puppenspieler stand mit dem Rücken zum Publikum und hantierte. Plötzlich sprang er herum. In Händen: Galvan und Malverne.

„Die Mär… kann beginnen!“

             …Was? Wo? Ich schreckte auf. Ich hörte ein vertrautes Geräusch: Münzenklimpern. War hellwach. Ach, ja… Ich wischte die Maden aus den Augenrändern und sah durch die Stämme Schatten und das Licht der Sonne. Ich ordnete den Unrat. Das stinkende Fleisch, das Buldric besorgte. Die Gedärme, den gelben Eiter. Nur die Maden, auch die Fliegen waren echt. Ein Opfer des Sommers, he, he. Ich stand auf und suchte im Unterholz nach den Kleidern, die Buldric zurücklegen sollte. Wo waren sie? Ich wühlte. Verdammt! Buldric, du Idiot! Hat sie vergessen. Könnte dich erwürgen… Ich stank wie eine ganze Schweinerei. Ich rieb mich mit Blättern ein. Dann schlich ich mich leise an. Ein Trupp mit Pferden kam am Wald von Mor vorbei.

„Es war Unser. Er kam von seiner Steuerreise zurück. Er sang ein Lied: Die Welt, die Du mit Füßen trittst, ist das Pferd, auf dessen Rücken Du rittst…
Und saß auf seinem Gold dabei. Buchstäblich. Gold, das er Galvan schuldete. Er war auf dem Weg nach Mor. Und ausgezehrt. Ein Mann der vielen Hüllen, wie ich hörte. Mal schlank, mal fettbeleibt. Je nach Art seiner Reisen. Die Männer, die ihn zu seinem Schutz begleiteten, hatte er absteigen lassen. Müde schlackerten sie hinterher. In zerschlissenen Hosen und sie stanken, weil sie durch den Dung der Pferde liefen. Stattdessen waren die Sättel mit Säcken voller Gold beladen. So viel hatte er eingenommen! Nur er selbst saß faul auf seinem Gaul. Und summte diese frohen Lieder. Hatte den schweren Reitsitz gegen einen Sack voll Gold getauscht: An dünnen Striemen um den Pferdeleib gebunden, hielt allein sein Gewicht den Sack noch oben. So, als wären beide miteinander verbunden, so wackelten sie Schloß Mor entgegen. Unser, müßt ihr wissen, hatte diese besondere Gabe…“

Ich rieb mir die Hände. Vielleicht fiel ja auch für mich was ab. Also… folgte ich ihnen…

Die Hälse streckten sich in die Höhe. Öffneten sich die großen Tore. Dicke Wachen sprangen heraus und schlugen die hungernde Meute in den Staub. Sie waren nicht der Grund für banges Warten. Ich hängte mich an den Trupp. Mischte mich unter seine Männer. So entkräftet waren sie, daß ich kaum auffiel in meinem Gestank. Man ließ Unser passieren. Wie durch ein Wunder schlüpfte ich mit hinein. Jetzt war ich dem Gold so nah, daß ich danach hätte greifen können. Buchstäblich saß er auf seinem Gold: Die Stücke gruben sich in seine Ritze. Umso steifer war der Empfang. Hätte mich nicht gewundert, daß er Münzen scheißt. Und tatsächlich! Als er vom Pferd stieg, fielen ihm ein paar aus der Fuge. Galvan stand auf der Treppe bereit. Er war außer sich vor Freude.

„Erzähl endlich! Was ist mit dem Jungen!“ Adamas sprang auf. Unwirsch gab er dem Grobklotz ein Zeichen. Der kam drohend näher.
„Geduld, Geduld, mein Herr… Ich komme gleich auf ihn zu sprechen. Warum interessiert ihr euch ausgerechnet für ihn?“
„Er ist sein Sohn.“
„Ah, ich verstehe. Ein Hirte seid ihr also. Ich hütete auch mal eine Herde… Nun, wie dem auch sei. Der Junge? Ja, der Junge fehlt noch in dieser Geschichte…

Ich trieb mich bei den Ställen rum. Dort traf ich alte Bekannte. Auch wenn sie sich noch so sehr vor dem Licht versteckte, erkannte ich sie doch an der Art, wie sie die schwarzen Haare zu Berge brachte: Noiset. Prinzessin Noïra, mit Verlaub. Laßt mich verneigen. Trat in ein
kurzes Licht und bündelte mit erhobenen Armen, die auch ihre Achseln entblößten, ihre Strähnen zu engen Zöpfen auf den Rücken.
Warum fragt ihr nicht, wer noch anwesend war? 
Nein, nun. Ich tauchte tiefer ein in mein Heubad, doch brauchte nicht die Augen zu schließen. Denn was beide miteinander taten, taten sie verboten, doch kaum verborgen. Wie wild sie vorgingen. Nahmen sie die Entdeckung gar in Kauf? Jederzeit hätte das Tor zum Hof aufgerissen werden können! Doch nichts. Nichts ließ sie diese Spannung spüren. Ich sah’s ihm an der Kleidung an, die er nun in Ordnung brachte – nach harten Stößen. Noiset, diese Nutte, brachte jeden um den Verstand. Ich spinne nicht! Ich sah sein Gesicht, als er am Heu vorbei aus der Hintertür verschwand. Den Schleim im Munde und für wahr! Er roch auch nach der Hure. Nur Golod wollte sie nicht mehr reiten. Traurig schimmerten seine Augen im verbrannten Pelz. Vergänglich ist nur eines: Das bißchen Aufmerksamkeit.“

„Der Junge!“ Adamas knallte seine Faust auf den Tisch. „Der Junge! Erzählt endlich von dem Jungen, Puppenspieler! Was geschah mit ihm?“
„Ah… der Junge. Ja… Was geschah mit ihm…“

Der Puppenspieler griff sich an den Hintern, der ihm wohl übel juckte.

„Der Junge…
Er war der Makel. Das kleine Fädchen, das aus zu feinem Stoff hervorragte. Nun ja. Das Haar in der Suppe – wenn ihr es einfach wollt. Seine Geschichte begann – langes Fädchen, faules Mädchen, ha, ha!, wie kann es anders sein? – bei einer Magd…

Es geriet dem Jungen nicht schlecht, daß er bei einer Magd namens Magda nächtigte… Ah, ich sehe. Ihr kennt sie wohl. Eure Schwägerin? Aha, so alt kam sie mir gar nicht vor… Wie ich hörte, ließ er sich die Verwandtschaft schmecken. Lag er nicht nur in allen Ecken, auch bei ihr in allen Löchern. Geht mich nichts an. Nicht meine Sache. Ich berichte nur. Was soll’s! Nun, Gerede unter Mägden… Ich wechselte die Stelle. Und schlich nun bei der Küche rum. Meine Neugier, mehr mein Magen stieß mich diese Treppe runter. Im Nebensaal putzten fleißige Hände Berge von Kartoffeln. Wie gerne hätte ich hineingebissen! Da kam noch eine. Schnell drückte ich mich durch eine Tür und fand ein dunkles Lager vor. Eine schmale Kammer, in der ich mich vor ihren Blicken versteckte. Voller Würste! Ich steckte ein, was ich tragen konnte und schmeckte. Schmeckte nach Keiler, hm… Die Mägde schwätzten und bereiteten die Töpfe. Dann schälten sie die Kartoffeln. Ich belauschte sie, während ich weiterkaute. Ihr wißt ja, wie das ist. Viel heiße Luft, doch eine war aufgeregter. Sie schimpfte laut und nannte immer denselben Namen: Magda soll zur Hölle gehen!

Mit ihren Geschichten treibe sie ein böses Spiel. Was sie diesmal erzählt? Sie flüsterte, daß ich es nicht verstehen konnte. Die Mägde erschraken. Zu ungeheuerlich war das wohl, was da beim Schälen zusammenkam. Gefrorene Stille. Kennt ihr Mägde nicht? Und… die Zähne flogen und die Münder prasselten gegen Lippen und die Brauen zuckten und die Messer raspelten und die Kartoffelschalen flatterten und die Hände ratterten und schälten und schabten und noch schneller zogen sie die Pelle von der Knolle und die Stimmen stießen durcheinander und schraubten sich in die Höhe – hörte etwas von Warzen und Löchern, Kutten und Köchern – und höher und lauter und gewagter, bis – es eine letzte sagte: ‚…und würde mich nicht wundern, daß Noiset es auch mit Galvan treibt.‘
Erstarren. Kein Zischen, kein Laut mehr. Und dann… Wie alle auf die Hände dieser Magd starrten. Hielt ihr Schälmesser in der Linken und pellte weiter und fragte in die Gesichter zurück. Sah nach unten. War der Daumen der Rechten bis auf den blanken Knochen freigelegt. Bewegten sich die Glieder darin noch munter und hielten an der Kartoffel fest. Dann erst …ließ sie das Messer fallen. Sah beiden nach – Bluttropfen und Messer –, schlugen gleichzeitig auf den Boden auf, stieß entrüstet den Atem aus: ‚Ach was! Galvan und Noiset? Das glaub’ ich nicht.‘
Dann fing sie zu schreien an. Vor Pein. Und ich sah meine Pflicht, in der Küche zu bleiben, als erledigt an. Ich stahl mich aus der Kammer, durch die erstbeste Tür, und eine Treppe führte mich nach oben – wo ich raus kam? In der großen Halle…

Ward ihr schon mal dort? Nein? Dann stellt ihn euch so vor: Dieser Ort, so großartig er auch ist, gleicht einer Gruft. Mit einer solchen teilt er auch einen steinernen Boden, Bögen mit plazierten Stelen, angeraut an Stellen, die Luft…“
„Der Junge…“
„…ergriffen von Worten. Erfüllt von Lob für Lebenstaten. Mein Herr! Der Junge stand vor der Tafel: Dunkle Haare, schmales Kinn, schwarze Kleider – darin der Geruch der Herde, schwere Stiefel, nicht wahr? Dann war er’s!“
„Das trifft auf jeden dummen Bauern zu.“, grummelte der Grobklotz.
„…stand vor der Tafel. In der Ferne. Vor Galvan.“ Der Puppenspieler riß seine Puppen hoch. „Doch ohne Malverne…“ Er übergab die Puppe der Königin dem Inneren seines Bündels. Einem Begräbnis gleich sorgte er für angemessene Würde, strich ihr dabei über die goldenen Haare, auch über ihre rosa Wangen, die des öfteren mal übel wurden, legte seine Hand auf die offenen, starren, blauen Augen. Und als er sie wieder wegnahm, waren sie verschwunden. Die Augen. Demütig schloß er den Beutel.

„…war diese Halle trist. Und der Junge? Er holte sich das Lob für seine Taten ab. Nicht von der Plage gehört, die Mor befallen hatte? Nein… nicht der Streit um die Tochter –  Malmignatten! Die gemeinsten aller Spinnen. Seid ihr je gebissen worden?“
Der Puppenspieler winkte ab.
„Das Wunder: Dieser Junge ließ sie einfach verschwinden! Da konnte der Glauber Mondrian noch so sehr an den Schränken rütteln. Keine war mehr da. Sein Trick? War vollkommen. Kein Beißen, kein wütendes Suchen: Er ließ Spinnen gegen Spinnen kämpfen. Wie einfach. Wie wunderbar! Wie durchschlagend der Erfolg. Opa Langbeine, harmlos, aber die Feinde der Malmignatten, gab es in Massen. Der Junge fing sie ein und bewahrte sie in einer…“

„…Dose.“

„Einer Dose, ja… Einer roten Dose. Man bedenke: Was, wenn man das mit Menschen mache? Wenn man Menschen gegen Menschen schicke? Und sie wie die Spinnen nutze. Sie in eine Dose stecke und sie benutze, hervorhole, wann immer man sie brauche. Wieder in die Dose stecke, wenn man sie nicht mehr brauche. Doch aufbewahre. Für nächste Male. Oder Spiele? Da ähneln Opa Langbeine meinen Puppen. Wie dem auch sei… Galvan gab ihm seinen Hirtenstab zurück und einen Wunsch frei. Ob er bleiben wolle. Oder noch zu seinem Schiff … mit den Taschen voller Gaben. Er entschied sich – auch wenn ich es nur aus der Ferne deuten konnte – für das …Röcketragen. Aus anderem Grunde aber, als es von nahem deutlich war. Ich bin sicher, mein Herr, daß euer Sohn nichts lieber wollte, als mit diesem Schiff zu segeln. Mit euch. Das sah ich seinem Blicke an, der an der Tafel vorbei nach oben schweifte. Doch. Oben bei den Fenstern und in der Nähe verharrte. Der erst diese Wand überwinden mußte, um einen Blick zu erhaschen. Wer ahnte damals schon, was sich hinter dieser Wand noch verbarg? Als ein schnöder Garten. Aber verzeiht! Ich schweife ab… Was dann geschah? Er tötete Galvan bei erster Gelegenheit. Das weiß doch jeder. Wirt! Ein schnelles Bier. Mir klebt die Zunge am Gaumen, daß mir übel wird. Und mein Magen kann einen Hammel vertragen.“

Adamas stand auf. Schwerfällig. Er gebrauchte seine Hände. Wortlos kam er zum Tresen und zahlte seine Auslagen. Der Puppenspieler hielt seine Hand auf. Doch Adamas beachtete sie nicht. Dieser zuckte mit den Schultern und griff sich den frischen Krug. Der Herr stand schon in der Tür… als der Puppenspieler absetzte und fragte: „Wollt ihr nicht wissen, was mit dem Vorhang war? An der Seite, links der Tafel. Aus… rotem Stoff. Ja, rot war er, nicht?“

Adamas hielt den Grobklotz zurück. Finster schaute er den Puppenspieler an. Zu finster für einen bloßen Lakaien.
„Warte.“
„Ein Stoff… der stillstand, doch nun, da die Lobeworte verhallten, sich bewegte, was seltsam war. Und nur ich bemerkte.“
„Ein Windzug, ein Hauch der Tore …oder bloße Einbildung.“
„Sieh an, der grobe Klotz war schon in Mor? Und kann reden? Man muß schon sehr nah der Tafel sein, um den Faltenwurf überhaupt zu beobachten. Warst Du ein Knecht dort?“
„Laß ihn! Erzähl, was in dem Vorhang war.“ Adamas stellte sich dazwischen.
„In dem Vorhang? Wann? Jetzt oder später, als es wichtig war? Ich rieche noch immer keinen Braten hier. Kein Hammel? Ein Schwein wär’ auch nicht schlecht. Nein… gleich einen ganzen Keiler. Der würde passen… Wißt ihr, wie Keiler schmeckt, mein Herr? Nach Wild? Nach Wald? Mmh, mit Kerbel und Pilzen… Über Buchenfeuer entborstet. Abgerieben mit Lindenblättern, damit die Haut nicht Schaden nimmt! Nein? Soll ich es sagen? Er schmeckt nach …Demut. Gehorsam, Gefügigkeit, Selbstverleugnung. Nach Demut! Wißt ihr, was das bedeutet? Er schmeckt nach allen Fragen. Nach allen! Und verlangt nach einer belebten Zunge, die es versteht, sie zu stellen. Doch… das war nicht der Grund für banges Warten. Der Vorhang bewegte sich in dem Moment, als die Sonne durch die hohen Fenster blendete. An der Tafel. Vor der der Junge stand. In der Hand seinen Stab. Mit dem er Galvan erschlagen sollte. Dem er den Tod selbst in die Hände legte. Und Galvans Haupt verschwand im Strahl. Sechs Zeugen. Drei an jeder Seite. Von leeren Plätzen eingesperrt – der König in der Mitte. Der Glauber Mondrian, Noïra, genannt Noiset, Lor, ihre Schwester, die Wächter der Tafel: Todan, Unser und Wacherot. Sie alle waren Zeuge. Wie er seinen Tod besiegelte. Was blieb, war der Augenblick. Der Blick mit dem Lor beschwindelte. Noiset bewertete, Mondrian beneidete, Unser beschwerte, Todan bedachte, Wacherot entwischte. Und  Lor …beschwindelte. Denn nicht um den Jungen ging es – um den ging es nie – sondern um das Mädchen.“

„Der König sei verflucht! Er ließ sein Volk verhungern. Um das Mädchen ging es nie, es ging nur um ihn. Immer nur um ihn. Verflucht sei er und der Rest der Tafel!“

„Verflucht zu sein ist keine Bürde, gesegnet zu sein schon eher. Lor war mit allem gesegnet, was ein Mädchen in ihrer Lage haben konnte: Sie war schön, sie war reich, sie war klug, sie war begehrt. Doch fehlte ihr die Macht, ein Leben zu führen. Ein anderes, als das ihr zugedachte. Es ging nur um das Kind. Das Kleid, das sie trug. Und…“ Er kramte wieder in seinem Beutel. Er setzte Galvan auf die Theke. Zu den anderen. Dem Krug, dem Becher, der Flasche… baute er die Tafel nach. Ein bißchen Rot. Neue Augen. Dann strich die kundige Hand darüber. Holte die Puppe aus dem Bündel. Und siehe da: Aus der Puppe Malverne wurde… Lor.

„…das Lügen.“ Adamas stellte die Dose dazu. Lynx’ rote Dose.

„Mein Herr, ich bin Puppenspieler. Ich erzähle Geschichten.“
„Dann erzählt von dem Vorhang. Und den Vorgängen dahinter.“

Die Puppen Galvan und Lor saßen nebeneinander. Mit leblosen Augen schauten sie in das Lokal. Und hielten einander an den Händen.

„Wißt ihr, wie es ist, zu lieben? So innig zu lieben, daß es wehtut, es nicht zu tun? Lor liebte ihren Vater mehr als alles andere im Leben. Alles andere. Alles. Versteht ihr? Was lag da näher, als ihr diese Liebe zu nehmen? Damit sie frei war. Für die Liebe… eines anderen. Was glaubt ihr, warum Lynx ihr den Vater nahm und sich selbst an seine Stelle setzte?“
„Das ist Unsinn!“
„Der Sinn ergibt. Galvan ließ ein Heer aufstellen und schickte junge Männer in den Tod. Für was? Damit er Lor behalten konnte? Für sich? Für mehr? Für Eitelkeit? Ha, ha… Nein, für den Augenblick – den sie beschwindelte. Den sie Lynx an der Tafel schickte. Und dem er so verfiel. Doch kennt ihr Liebe wirklich? Liebe ist ein Ungeheuer. Ist der hübsche Kopf, der in einem Schlammloch steckt. Der herausragt, mit blonden Locken, Wimpern, die bis zu den Brauen reichen, und zu dem man sich niederbeugt. Zu diesen Lippen, denen niemand widerstehen kann. In ein dunkles Schlammloch gerissen. Ohne Sicht und Wiederkehr. Liebe wirkt. Liebe ist – der hübsche Kopf eines Ungeheuers, das den Kopf aus der Kuhle streckt und auf Beute wartet. Stellt euch diese Locken vor, diese Augen, diese Lippen, diesen Teint, diesen Hauch des Atmens. In einem Garten vor. Unter einer Eiche ladend, Blüten ringsherum. Wer könnte diesem Ungeheuer widerstehen? Wer? Euer Junge war geblendet von der Sonne, als er Lor zum ersten Male sah. War nicht der erste, den sie mit ihrem Blick beschwindelte. Doch…“ Der Puppenspieler legte die Puppe Lor auf die Seite und zeigte sie sich räkeln. „…auch sie folgte nur einer Bestimmung. Der Vorhang? Spielte keine Rolle. War nur Beiwerk, schmückender Trutz zwischen den Welten. Ein Schutz. Ein Trick. Der in die Irre führte? Ich weiß, was er war. Wenn ihr mich fragt: Ich sah, was sich darin regte… Und nur ich bemerkte. Daß sich ein Wesen darin versteckte. Und daß, in dem Augenblick, in dem das Mädchen Lor mit ihrem beschwindelte, dort aus der Halle huschte. Ich folgte aus sicherer Entfernung, als sich die Tafel auflöste. Durch denselben Bogen. Und stand alsbald vor einer Entscheidung, weil es mir aus den Augen schlüpfte – vor einer Treppe. Die nach unten oder oben führte. Ich hörte Schritte. Sie drohten von der Halle. Schnell in eine Ecke. Doch brachte mich nur eines in Sicherheit vor den eiligen Blicken: Ich verschwand in dem roten Gangvorhang. Unser kam vorbei, dann eine mißtrauische Weile später Todan. Und wie durch ein Wunder blieb ich unentdeckt. Ich war überrascht, ob der Fülle. War mehr Platz als vorgesehen. Ich ließ die Schritte weichen. Noiset kam angerannt. Und dann, als ich mich noch tiefer in den Stoff einwickelte – sah ich in der Wand hinter dem Vorhang einen Durchgang. Einen Griff, eine Klinke, eine Tür! Aus feinstem Holz. Wo sonst nichts anderes hätte sein dürfen, außer Blässe.“

„Schweig. Schweig! Schweiiig! Halt endlich deinen Mund! Hörst du? Hör endlich auf!“
Der Grobklotz packte den Puppenspieler am Schlafittchen, fegte die Puppen auf den Boden und wirbelte ihn gegen die Theke.
„Da war nie eine Tür! Da war noch nicht mal eine Wand. Du erzählst nur Lügen!“
Er zerschlug den Krug mit lautem Pitsch und drückte ihn auf den Tresen. Er drohte ihm mit den Scherben nah dem Halse. Die Adern darin schwollen an. Als wollten sie ihn locken. Es fehlte nicht viel. Adamas ging dazwischen. Stieß den Grobklotz mit verborgenen Kräften in seine Ecke. Er stellte den Puppenspieler zurück auf den Boden. Der Puppenspieler wischte sich den Speichel an der Jacke ab. Die Adern blieben geschwollen.

„Ja! Rempelt mich ruhig an. Auch dagegen habe ich nichts. Ich lebe ja für eure Bedürfnisse…  Auch wenn es Unbehagen bedeutet: Diese Tür hat Bestand. Auch wenn es nichts als Kummer bereitet: Diese Tür hat Bestand. Auch wenn du es mit Schlägen leugnest: Diese Tür hat Bestand! Ich schwöre es bei dem Leben aller Mütter! Diese Tür war so wahr, wie ich hier stehe. Und dir die Manieren fehlen. Ich weiß es – weil ich sie passierte…“

„Nein! Nei-hein!“ Wieder packte der Grobe den Puppenspieler am Hals. Diesmal umfaßte er auch das Genick. Und drückte und preßte, doch fehlten ihm am Ende jene Kräfte, die das Sichtbare glauben machten. Adamas trennte beide.

„…so wahr, wie ich hier stehe! Diese Tür… führte mich durch eine Welt in eine andere. So wahr, wie ich hier stehe… und lebe. Und atme. Und erzähle! Sah ich den Grund für banges Warten! Ich war da… Ich sah alles. Ich bin Zeuge…

 Ganz leise schloß ich die Tür wieder. Wühlte mich aus dem Vorhangstoff zurück zum Hier. Mied die Gänge. Niemand bemerkte mich. Und floh aus Mor. Nach Galvans Tode kam ich her. Mehr gibt es nicht zu berichten.“

Der  Puppenspieler bückte sich, hob seine Puppen auf, wischte sie zurecht und setzte sie wieder an ihren Platz der Tafel.

„Und der Junge? Und Lor? Und Boric? Und all die anderen? Das war es? Das ist alles gewesen? Du Hund!“ Der Grobklotz spuckte ihm ins Gesicht. Dann drehte er auf dem Absatz und eilte zum Ausgang.

„In der Tat! Man muß sehr nahe sein, um den Vorhang zu bemerken. Ihr wißt sehr viel für einen Puppenspieler, Puppenspieler.“ Adamas kam jetzt sehr nahe. Tief blickte er ihm in die Augen.

„Warum glaubt ihr, daß ich Hirte bin?“
„Aber der Junge…“
„…ist nicht mein Junge. So wenig, wie mein Begleiter ein grober Klotz ist. Sieh ihn dir an, da an der Tür. Sieh genau hin.“

Als der Puppenspieler den Grobklotz so betrachtete wurde der immer schmaler. Bis ein schmächtiger Knabe übrig blieb. Kaum zehn Jahre alt. Er erkannte ihn. Schnell drehte er sich um.

„Ich kenne deine Gründe nicht. So wenig wie du meine. Nur eines ist gewiß: Nichts ist, wie es scheint. Worte täuschen. Umrisse täuschen. Bilder täuschen. Meine Täuschungen mag ich. Guten Abend, mein Herr.“ Er gab ihm eine Münze. Er hielt seinen Hut in der Hand und setzte ihn auf. Schweigend verließen die Männer das Wirtshaus. Der Puppenspieler blickte in das Lokal, die leeren Tische, die Stühle, ein leerer Tresen, an dem niemand saß. Kein Wirt weit und breit. Und kratzte sich am Hinterteil, weil es ihm gar fürchterlich juckte.

„Was meint, ihr, Adamas. Hat er die Wahrheit erzählt?“
„Er ist Puppenspieler. Er erzählt Geschichten. Ob sie wahr sind oder nicht. Es sind die Dinge, die nicht erzählt werden, die zählen.“
„Und Lynx?“
„Keine Sorge, Mupo. Wir werden ihn finden.“


*


„Ah! Wer da? Bist du es? Wo bist du all die Zeit geblieben? Will nicht mehr im Dunkeln spielen. Das Licht, woher? Ich sehe nichts. Macht es aus!“
„Keine Angst, Boric. Wir bringen dir Gesellschaft. Kannst ruhig mit ihm spielen. Er merkt nicht viel. Ist noch benebelt von den Schlägen. Fang ihn auf. Dann löse das Seil. Ja, so ist gut. Schlafe wohl, Boric. Wir kommen in einem Monat wieder.“
„Und das Brot? Und das Wasser? Halt, so geht das nicht!“
„Liegt alles bereit. Trägt der Junge bei sich. Aber weck ihn noch nicht auf. Laß ihn schlafen. Träume befehlen nicht. Und wie geht es deinem Strohhalm? Zeig mal. Stell dich ins Licht. Ah! Er wollte es nicht glauben. Aber er ist gewachsen! Wie lang mag er sein? Eine halbe Elle schon oder mehr? Mehr! Ich habe eine Wette am Laufen. Wenn er länger als dein Arm wird, Boric,  bekommst du Wein. Nicht den gepanschten. Den echten. Bis in einem Monat dann. Enttäusch mich nicht.“

„Wie bin ich hier her gekommen. Ja… jetzt fällt es mir wieder ein. Und Mupo? Blieb er unentdeckt?“
„Mupo? Wer ist Mupo?“
„Es ist so dunkel hier…“
„Warte, ich mach’ Licht. Die Wärter glauben ich bin nicht ganz dicht. Reimt sich sogar, haha.“

Wenn sich etwas bemerkbar machte in diesen Tagen, so war es nicht das Unbehagen oder Sorge um die Lieben, so war es bloße Ahnung, die unbekümmert machte in diesen Tagen. Auch im Garten längs der Büsche und im Rosenhain empfand man das Licht der späten Sonne als wohlgemeinten Rat der Laune. Als Wink, nicht zu hasten, zu verweilen bei der Eile und zu schweifen…

 Die Äpfel im Garten reiften früher heran in diesen Fragen als in allen Jahren. Sie wurden rot in diesen Tagen. Als Wink, nicht zu erfassen, zu ertasten bei der Lage ihrer Schatten. Makellos im Schein der Tropfenlichter Tau hingen sie voll und prächtig an dünnen Nabeln. Wie Trauben dicht im Laub zu lichter Enge, aus Blütentrichter Stengel, umspielt von rosa Wärme – ein Ruck! – der feinen Hände: Ließen fallen in einen tiefen Korb. Gehalten von Damastarmen. Glänzten in der roten Glut, auf den Blicken nur diese eine Frage:
Wer bei dieser Sache Früchte trug…

Auf der Leiter und im Kleide – Lor. Ließ den nächsten fallen. Fiel knapp an Lynx’ Kopf vorbei zur Erde. Begleitete ihr Lächeln Fall und Unbill über diesen Streich.
„Verzeih!“ Der folgende Apfel landete dumpf im Korb. „Ist mir nur so aus den Fingern gerutscht. Nicht meine Schuld…“, stichelte sie. „Solltest den Korb näher bringen. Warum eigentlich pflückt nicht der Knecht die Äpfel? Die Prinzessin hat noch genug Arbeit, sie zu verdrücken.“
„Weil ihr es so wolltet.“, antwortete Lynx knapp und überhörte Lors Gekicher. Ihn traf der nächste Apfel am Kopf.
„Au!“
„Oh! Verzeiht, mein Knecht. Ich sehe wohl den Korb schlecht.“
„Aber mich seht ihr wohl? Ihr trefft.“

Als Wink, nicht zu fragen in diesen Tagen. Für Lynx: Ob ein Schiff auf ihn oder anderes wartete. Er zückte seinen Stab und stocherte an Lor vorbei in dem Baum. Die Äpfel waren reif für ihre Jahre und fielen frei. Manche fielen zu Boden, manche in den Korb. Andere trafen wiederum.
Lor lachte auf: „Ihr auch.“

Als Wink zu verstehen, nicht mehr zu fragen. Für die Kinder: Weil sie sich liebten in diesem Garten. In diesen Tagen. Sich zu sehen. Für Mondrian: Hinter einer Mauer zu stehen. Und… zu widerstehen. Was für Männer schwierig war, für einen Glauber Prüfung und… ihm unmöglich war. Zu widerstehen. Hinter einer Mauer. Näher. Einem Baum – noch unentdeckt vom Zauber der beiden Verliebten. Als Wink, sich zu betragen in diesen Tagen. Um mehr zu nehmen. Bei Gelegenheit. Als eitel Sonnenschein.

Mupo warf Steine in die Augen. In den Frauenkopf erstarrt zu Qualen. Manche trafen, manche prallten ab. Fielen zu Boden oder gleich ins Becken. Für jeden nassen Stein einen Wunsch. Für jeden Treffer den Zorn der Spötter. Schritte im Rücken ließen ihn zusammenschrecken. Mondrian bog um die Ecke!
 Er näherte sich mit diebischer Eile. Schnurstracks auf den Steinkopf zu. Mit eiserner Härte. Spürte seine Schritte. Als Wink zu nehmen. Schlug die Schaufelhand nach vorne. Und drückte zu. Lange. Und lange. Bis der Atem fehlte. Dann rückte der Hebel moosernd glitschig in die andere Positur. Und links von ihm öffnete sich das verwunschene Tor. Mupo sah Mondrian verschwinden. Verschwommen. Wie jeder Umstand der Nähe, der Unklares zu Tage förderte. Für Mupo: Als Wink zu verstehen, mehr als nur ein Gesicht durch den Wasserschleier zu sehen. Mehr als nur eine große Nase, mehr als nur geschliffene Züge. Ein Gesicht zu sehen. Nur ein Gesicht zu sehen. Das ihn daran hinderte, müde zu werden. Hier unten im Bassin des Brunnens – zusammengekauert, unentdeckt vor Mondrians Wütaugen und erstarrt in Qualen. Blasen zu sehen, die mit ihm verschwanden. Weil die Luft zum Atmen fehlte. Und Gedanken als letzte Nahrung: Zu ertrinken – in einem Garten.

Folgte er ihm? Auf diese Weise? Zu schwach, sich zu bewegen, hörte er Lynx und Lor. Sie kamen zu den Augen.
„Nach Broa. Ein Schiff wartet dort auf mich.“
Broa? Der Turm dort macht mir Angst. Er steht an den Klippen und sehnt sich nach mir. Ich bin nicht dumm. Wofür die Männer sterben. Doch solange Vater lebt, wird mir nichts geschehen. Werde bei dir bleiben. Hier.“ Lor beugte sich vor und küßte Lynx.

„Das ist mein Pfand an dich.“ Was sie verband.

„Für jetzt… Für immer…“

„…und immer mehr. Lieb ich dich.“

Und Mupo starb.

Vor Angst. Ertrunken. Wie ein Kind im Leibe der Mutter. Die Handflächen geöffnet. Um zu stützen oder abzuwehren.
Am Rande einer Mauerwand. Ein Frauenkopf erstarrt zu Qualen.




Eine Minute.
Die Struktur einer Minute.
Die Struktur einer Minute ist eine Minute.
Eine Minute ist …das Leben.
Eine Minute ist gar nichts.
Sind sechzig Takte.
In absoluter Ruhe der Pulsschlag eines Leben.

Woher die Ruhe nehmen?







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