"Hallo" ist das Pfandleihhaus des "Aufwiedersehn"...



Miniaturen des Absurden

Betrete mit der Miene der Abfälligkeit und erhalte Einlaß

Vom Jardin du Luxembourg zum Panthéon brauchte es schon mehr als platonisches Innehalten, um sich Gehör für Gesehenes zu verschaffen. Da...

Samstag, 11. April 2015

Auf tausend Ahornsamen


Auf tausend Ahornsamen entwickelte sich das Gehabe, Greif auf ihren Schultern, verlieh der Blöße ihrer Flügel.

Griff ein in das Niederwollen, langsam, ohne zu entwirken, versah das Kreisen mit Enthaltung, vorher Wirbelwehen.

Auf tausend Ahornsamen landeten ihre Füße, im Stehen so festes Grollen, der Greif auf ihren Schulden, verlieh der Stille fortan Grüße.

Griff ein in das Niederschreiten, langsam, ohne zu entgleiten, versah das Weite mit Entfaltung, vor den Winden weißes Wehen.

Auf tausend Ahornsamen lasteten ihre Zehen, im Tasten erster Tritte, der Greif auf ihrem Rücken, verlieh dem Kommen kalte Würde.

Griff ein in das Gewebe, langsam, ohne zu entbitten, versah Nemesis und Taten mit Entsagung ihrer Worte Urteil so zu gehen.

Griff ein in tausend Ahornsamen.

Der Schlüssel nun in Sicherheit, und fürhin an ihre Wünsche so gebunden.

Kam nun keiner mehr durch Pforten, das Schloß durch schwarze Luft verschlossen.


Auf tausend Ahornsamen entwickelte sich das Gehabe.








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Samstag, 4. April 2015

Ein Mann auf der Lippe: Von Männern und Menschen


Sie bezog sich auf ihr Gefühl. Und ich würde nie auf die Idee kommen, die Unfehlbarkeit von 25jährigen in Frage zu stellen. Doch während ich auf der Lippe verharrte, wurde ich mein Gefühl nicht los, daß mehr dahinter steckte, als bloßes Unbehagen dem eigenen Alter gegenüber. Mehr dem eigenen Wesen einer Frau, auf deren Lippe ich nun wohnte, während sie lippenlog, weil ich mich ja auf den Lippen ihrer Lügen bewegte, und gerade mein Picknick-Deckchen sorgfältig zusammenfaltete, kariert war es, die Krümel vom Brötchen vom Lippenboden wegwischte, den Käse und die Wurst wieder einpackte, die Flasche Wein korkte, mein Essenslätzchen aus dem Kragen zog und nun alles in ihren Mundwinkeln verstaute – diese ließen Platz –, und es kam meiner Ordnung einer ordentlichen Haushaltsführung zugute, daß sie die Winkel unbestimmt der Regung wegen weder lächelnd nach oben, noch nach unten mürrisch der Welt mit ihren Regeln entgegen zückte. Gefühlsarm, wohl einer Lähmung gleichkommend. Bei der jede Segnung mit einer Regung Kraft kostete und nur auf eigen bewußter Anordnung geschehen konnte. Auf Befehl an sich. Feldwebel-Emotionen sozusagen. War nur zumeist der eigene Feldwebel nicht zugegen. Harrte man also als einfacher Gefreiter der Dinge in der Stube aus. Auf den Befehl. Wann auch immer dieser kam. Ich suchte mir eine Ecke auf ihrer Lippe, lehnte mich mit Kopf und Rücken gegen, wie weich die Lippen auf einmal waren, streckte meine Beinchen aus, eins über das andere, ließ die Füßchen wackeln, die Ellbogen als Lehne, die Hände im Nacken verschränkt und wollte gerade nach dem Völlemahl ein Nickerchen machen. Ein verdientes allemal.

Und kam zum ersten Mal seit langem, nach all den Beobachtungen, die ich machte, nach all den Eindrücken, die mir meine mißliche Lage verschaffte, die Gelegenheit zu nutzen, die Welt von dieser Perspektive aus zu erblicken, die dieser Frau, von hier oben, auf den Lippen Tau, zur Ruhe. Allmählich. Machte ich mir Gedanken. Und war mein Gefühl im Bauche auch ein ermüdendes – Käse und Träubchen taten ihr Übliches –, so erfuhr sich doch auch Neues. Was auch immer sie jetzt so machte – sie verschwand in einem kleinen Raum, eine Ablage, ein Spiegel; wo auch immer wir waren, es bereitete mir kein Behagen –, half es, Abstand zu nehmen, eher zu gewinnen, einen Schritt nach hinten zu weichen – hier: sich noch ein Stückchen näher mit dem Rückchen gegen die Lippe zu lehnen –, um mehr zu erblicken, mehr zu erkennen, mehr zu begreifen. Kam es mir gelegen, dabei die Äuglein zu schließen, nur ein wenig. Damit mit dem letzen einströmenden Lichtchen auch das Verstehen belichtet wurde, wenn es auf das Abgedunkelte von verdrängten Fragen traf.

So kam zum Tragen, daß – aber dazu später – ich in neuer Kleidung in meinem Schläfchen vor dem inneren Äuglein eine Zeitung aus der Starre faltete. Sah ich mich so unter einer Linde fläzend, die Sonne zückte Strahlen, die Zweige knisterten, die Vöglein ziepten, Frühling sprießte und war nichts anderes neben dem Baum als ein Feld zugegen. Fühlte ich mich mit dem Blatt in den blätternden Händen der Welt gleich urteilsfähig gewachsen. Wenn man nur allein mit sich in Gedanken idyllisch war. Was natürlich Unsinn war. Und tat es der Lesbarkeit von Texten gut, Absätze einzufügen, damit dem Verstehen nichts im Wege stünde, außer Intellekt und nichtigere Gründe, so tat es auch den Gefühlen gut, Rücke einzuplanen. Die Gefühle und die Gedanken waren frei. Nicht, wenn es Annahmen gab. Ich ließ mir berichten, daß es richtig war, dies zu denken und jenes Denken zu unterlassen. Wie sollte man sich da auf sein Gefühl verlassen? Daß es schon einen Unterschied machte, im Richtigen oder Falschen zu sein. Daß es eine Menge Arten gab, nicht wahr zu sein. Kleinanzeigen und Vermischtes. Rasenmäher günstig abzugeben. Der Zirkus war jetzt in der Stadt. Viel Meinung war zugegen, in dem Blätterrascheln dieser Linde, doch über Gefühle las ich wenig. Erschien es mir aber wichtig. Zumal ich nun auf den Lippen dieser Frau, die log, nun lebte und ein Schlummerchen wählte, um mich von ihrer Anwesenheit zu erholen. Ich hatte mir ja nicht die Lage auf ihrer Lippe ausgesucht. Eines Morgen wachte ich dort einfach auf. Durch einen Zauber, dessen Reiz mir verschlossen blieb. Erinnerte ich mich an einen anderen, erinnerte ich mich an unsere Beziehung. Als ich noch nicht klein war und wir in menschlich gleicher Größe zusammenlebten. Und sie entschied, wie sie ihre Gefühle dosierte. Gleich entschied, was wahr und was falsch war. Als ob es eine Meinung über Gefühle gab. Der man zustimmen konnte oder sie ablehnen. Und ich oft hilflos daneben gestanden hatte, um aus ihrer regungslosen Mimik klug zu werden, weil sie sich nur nach innen bewegte und alles reden darüber nur ein beliebiger Leitartikel in der Zeitung war, der einen Standpunkt vertrat, ihn aber nicht belegte. Erlebte sie Gefühle nur, wenn sie eine Reaktion von mir erfuhr. Und erlebte nur ein Fühlen, was keines war, wenn sie diese in falsch oder richtig einteilte. Definierte sie gleich selbst, was richtig oder falsch war. Und hatte dann eine Erregung. Dadurch erst. Und mußte immer Attraktion sein, mehr noch bleiben. Ein Umstand wohl, der wichtig war, für all diejenigen, die Ihre Gefühle verlieren und für die, die sie für immer verloren haben.

Gefühlsautisten sind Gefühlsartisten. Platzierte ich meinen eigenen Artikel in die Zeitung aus Papier und Druckerschwärze unter meinem raschelnden Bäumchen und kratzte mich am Bäuchlein. Er fiel unter den anderen Blättern so gar nicht auf. Unter neunhundertneunundneunzig Artikeln war er der Tausendste, der sich ein Gefühl erlaubte, nur wollte er nicht richtig sein, wie alle anderen zuvor. Setzte ihn gleich unter die Meldung: Der Zirkus war jetzt in der Stadt. Nach den Erlebnissen mit dieser Frau. „Sind Gefühlsartisten. Sie schwingen sich von Trapez zu Trapez, so wie es kommt, und hoffen, vom Netz weiter unten und Applaus aufgefangen zu werden, so sie nicht die Stange treffen. Daß sie noch für ihr Versagen belohnt werden, erschien als Parvenü am Rande. Als Glückskind der Manege. Verbeugung, ab, und keine Regung in der Miene. Selbstlosigkeit ist ihnen fremd. Aufmerksamkeit Mittel zum Zweck, die eigene Belanglosigkeit in den Schatten zu stellen. Scheinwerfer aus, die Zuschauer gegangen, dann aus Selbstmitleid, in stiller Ecke des Zirkuszeltes leise zu weinen.“

Und würde es mit den Jahren besser werden? Ich stellte mir diese Frage. Unter meiner Linde. Womöglich wägte ich die Wahrscheinlichkeit der Dauer des Verharrens auf ihrer Lippe ab, wie lange es wohl noch dauerte – Zuversicht kam als Größe hier zum Tragen –, bis ich ihr von dieser entschlüpfen könnte und vor allen Dingen wieder auf normale Größe kommen würde. Ging sie doch an jede Sache akademisch heran und nicht mit Erfahrung. 35jährige Gefühlsautisten sind wie 25jährige Gefühlsautisten. Sie sind nur zehn Jahre älter. Fürchtete ich. Fehlte also die Fähigkeit zur Selbstreflexion, sich selbst, in Frage zu stellen. Selbst mit den Jahren. Hieße das wohl für Gefühlsnarzissten – verliebt ins Abwesendsein derselben zu sein –, sich selbst zu verneinen und käme dies einer Verzichtserklärung gleich. Darauf zu verzichten, nicht angemessen zu reagieren, darauf zu verzichten, kein Mitgefühl auszudrücken, darauf zu verzichten, sich selbst in den Mittelpunkt zu stellen, darauf verzichten, relevant zu sein. War sie sich das Wichtigste. Und war es wohl gesund, sich selbst wichtig zu sein, ein wenig zumindest, so war sie sich aber wichtiger als alles andere in einer Welt, in der sich immer mehr noch wichtiger wähnten. Und die sich dann noch wichtiger und nöcher, und weitere umso mehr. Einem Wettstreit gleich um Wichtigkeit. Nur, daß man sich nicht Potenzieren konnte, nur einfach war. Ein einzelner Mensch. Und war es nicht gesund, auf Dauer jedenfalls nicht, sein Wesen zu duplizieren. Um mit den vielen Ichs gleichsam glücklich zu werden. Wurde es einfach zu eng in einer 2-Zimmerwohnung. Und im Draußen?

Sie trat jetzt aus der Kammer, eine Kabine. Befanden wir uns im Lichte dezenter Frauen wieder. Zwischen bunter Kleidung. Ein Widerspruch könnte man meinen. Als schlichter Mann zumal. Und sei er schlicht noch so klein wie ich. Kleiderbügelrascheln. Abtasten, was könnte wohl die andere meinen. Konzentriertes, man könnte sagen, gefühlsloses Ausprobieren. Gelähmte Mundwinkel. Samstags bei H&M. Daher mein Unbehagen. Und täuschte man sich mit seinen Gedanken, daß es an anderen Umsatztagen anders wäre. In Händen das neueste Kleid für 14,99 €. Bunt. Als Versprechen für die Zukunft, zumindest auf die Hoffnung auf den Sommer, nicht wie Gefühle, ungetragen zu werden. War es dieser Frau, auf deren Lippe ich mich nun von meinem Nickerchen verabschiedete, gähnte und ich alle Ärmchen streckte, wichtig, allen mitzuteilen, was richtig oder falsch war. Entschied ich mich gegen eine Meinung.

Aber nicht gegen ein Beschauen. So war es wohl. Die Welt zu retten mit 14,99 € am Leib. Die Näherinnen in Bangladesch – soweit ging die Solidarität unter Frauen dann doch nicht – würden es ihr wohl mit Kußhand danken. Hatten sie alle Hände voll zu tun, die Nachfrage von Frauen ohne Gefühle zu bedienen. Nicht von Männern wohlgemerkt. Von Frauen. War von Männern und Menschen in diesen Gedanken nie eine Rede. Fühlte sie nichts, als sie dieses Kleid bezahlte. Es ging nur in ihr Eigentum über. Wie Gefühle anderer, über die man verfügen wollte. Was sie sehr häßlich in einem schönen Kleide machte.

Es tanzen immer die häßlichsten Frauen mit den kürzesten Röcken auf den wackeligsten Tischen.


So stellte ich sie mir im Inneren vor.









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Wie es weiter geht: Der Esel und ich. Der Esel nennt sich stets zuerst.