Ich bin däumlingsklein. Zaubergewirk hat mich geschrumpft. Ich sitze auf der Lippe einer Frau. Zwischen ihren Lippenwulsten. Meine Beine baumeln herunter Richtung Kinn. Oben und unten könnten mich jederzeit zerquetschen. Ihr Lippenstift ist bräunlich rot. Als hätten ihre Lippen schon andere Däumlingskörper zerquetscht. So dort zwischen den Küssen begleite ich ihren Tag. Ich erlebte mit ihr schon so einiges. War schon mit ihr beim Zähneputzen, war schon mit ihr in der S-Bahn. Wenn meine Füße drohen einzuschlafen, stehe ich auf und laufe auf ihrer Lippe hin und her. An den Zahnreihen vorbei. Ich habe dabei die Hände in meinen Hosentaschen. Ich bewege mich so auf den Lügen, kippelnd, ihrer Lippen. Lüppeln geschminkte Lippchen nicht? Meine Füßchen hinterlassen Spuren im Lippenstift. Man werfe das mir nicht vor. Ich kam durch Zauberfall in diese mißliche Lage. Manchmal rattere ich auch gegen ihre Zahnlatten. Heute war es schön. Heute gingen wir in den Club...
Der Kuß war innig und deep.
Die Gesichter griffen ineinander wie gut geölte Walzen eines
Automatikgetriebes. Sie gingen nun in den nächsthöheren Gang über. Aber das
mechanische Gefühl ließ sich nicht verbergen. Dann trennten sich die Lippen
wieder. Adaptive Voll-LED-Scheinwerferaugen leuchteten den Club nach Verkehrszeichen aus. Ich trat aus der Spalte zwischen der
Lippe der Frau, auf der ich ja nun wohnte, während sie lippenlog - sie entließ ein Gewohnheitslächeln
in Richtung Gegenverkehr -, dann konnte ich endlich wieder atmen.
Dann
kollidierten die Lippen wieder, ich kämpfte mit dem Zungenverkehr des
unbekannten Mannes auf der Gegenspur und bereitete mich auf den nächsten
Erstickungstod vor.
Wie viele Tode auch vorgesehen waren, als es auf die
Verteilung ankam, ich dachte nur:
„Nur ein Tod pro Leben!“
Dann verging auch
der Tod wieder. Atmen war etwas Feines. Man sollte es nicht als gegeben
ansehen. Manchmal erstickt man nicht am Leben, manchmal nur an Atemnot.
Sie umklammerten sich jetzt und sie legte ihr Kinn
auf seiner Schulter ab. Und nun könnte man meinen, daß sie im Nebel des Clubs die Augen geschlossen hielt, um
sich noch näher dem Mann zu wähnen. Was der fremde Mann wohl wähnte. Doch sie
hielt die Augen offen – ich prüfte auf
der Lippe nach, indem ich mich weit herauslehnte – und suchte schon nach der
nächsten Mitfahrgelegenheit, während der unbekannte Mann sich sicher innerlich
schon zu zweit und fummelnd im von ihm bezahlten Taxi sah. Was mich dazu
veranlaßte, mir vorzunehmen, falls ich je wieder aus dieser für mich
unangenehmen Lage herauskäme – auf ihrer
Lippe zu verharren –, und ich selbst die Schulter wäre, an der sich eine
Frau wärmte, Rückspiegel dort anzubringen, um nach hinten zu gewährleisten, daß
kein anderer mir in die Parade hineinführe. Käme es mir albern vor, aber nach
der Erfahrung mit dieser Frau, auf deren Lippe ich mich nun streckte und gähnte
und mir ein hartes Bett herbeisehnte, weil die Nacht sich in die Länge zog, während
sie lippenlog, wäre ich mir nicht sicher, wäre kein Mann sicher, zu glauben, eine
Frau hielte an der Schulter eines Mannes nur die Augen zu.
Erinnerte ich mich,
einen Bericht gesehen zu haben, daß auch Primatenweibchen stets nach anderen
Männchen Ausschau hielten und der gemeinsame Augenblick des Lausens nur dem
Zwecke diente, das eine Männchen zu bevorraten, bevor das andere nützlicher
erschien, um sich zu paaren, um zum ersten zurückzukehren, um sicherzustellen,
das das zweite sich mit dem Nachwuchs herumplagte. Waren meine Gedanken keinem
Vorwurf geschuldet. Gab es sicher Gründe für Frauen so egoistisch-evolutionistisch
vorzugehen, zumindest sich nicht von einem schnöden Schimpansenweibchen zu
unterscheiden, obendrein unterschied sie nur der Lebensraum Urwald und ein Master in Witschaftsingenieurswesen nebst
ein paar Tausend Jahre Evolution und Verdrängungspsychologie. Aber sonst. Sie
lauste jetzt den unbekannten Mann – sie
fitzelte ein paar Fusseln von seinem Hipster-Motto-Shirt – und brachte ihn
schon mal so als Versorger in Erwägung.
Immerhin. Ob er der biologische Vater
ihres einzigen Kindes werden würde, sei dahingesagt. Am Morgen war ich Zeuge,
wie sie die Pille nahm. Als sich der Abend näherte, um zum Club aufzubrechen, wie sie vier abgezählte Kondome in die
Handtasche zu ihren Absichten legte.
Sie ließ ihn jetzt stehen und nahm mich mit auf
ihrer Lippe auf die Toilette. Nun, sie stand davor. Vor ihr eine Schlange.
Davor eine nächste. Davor noch eine Schlampe. So verächtlich musterte sie die
Schimpansenweibchen vor der Damentoilette, daß sie es bereute, sich eingereiht
zu haben, obschon sie dringend mußte. Und es kam ihr umso herabwürdigender vor,
daß der Eingang zur Herrentoilette gleich nebenan war und die
Schimpansenmännchen beim Herausgehen oder Hineingehen gleich viele mögliche
Arten von Weiblichkeiten auf einen Blick im direkten Abgleich vergleichen
konnten. Der Alptraum einer Frau. Grausam. Wofür man den Männchen gleich die
Schuld fürs Glotzen gab. Aber nicht grausam genug, um sich nicht jede Stunde am
selbigen Ort einzufinden und sich diesem Vergleich zu unterziehen.
Drinnen in der Damentoilette wurden meine Illusionen erschüttert. Nicht
in Bezug zu den immerwährenden Vergleichen, die Frauen untereinander zogen – und immerzu betonten, wie wichtig es sei,
„Sei Du selbst!“ zu betonen, b e v o r man das Aussehen der Konkurrenz von 1 bis 6 innerlich
benotete; Mädchen lernten schon früh, wie man vom Lehrer gute Noten bekam fürs
Betragen, auf dem Pausenhof sah das schon anders aus –, das ahnte ich
schon, als ich noch nicht auf der Lippe dieser Frau lebte, die lippenlog, weil ich
mich ja auf den Lippen ihrer Lügen bewegte und kippelte, und groß war, sondern im Anblick des
Grauens des Inneren der Damentoilette, die ich mir vorher im Gegenzug zur
Herrentoilette immer vorstellte als reinen Quell der Freude mit Wasserfällen,
Regenbogen, Bassin, Harfenmusik und jungfräulich hellem Juchzen, doch versifft war wie die
dreckige Lache einer Hafendirne, die für einen Zehner ihren Schlüpper lupfte.
Rot stellte ich ihn mir vor. Rot deshalb, weil, nun ja, rot die Farbe des
String-Tangas war, der Frau, mit der ich nun in der Kabine hockte. So rot, wie
der Hintern eines Pavianarsches. Und auch wenn ich jetzt mit den Primatenarten
durcheinanderkam – erst Schimpansen, dann
diese –, so kamen mir gleich die verfickten Bonobos in den Sinn. Und auch das ergab für mich Sinn in diesem Club, der für seine artgerechte Anmachverfickung bekannt war.
Nach Dutzenden prüfenden Blicken im
Toilettenspiegel, ob noch alle Vorsätze am richtigen Platze waren, verließ sie
den Affenhügel, und drang wieder in die Zivilisation der Parkplätze mit ihren Drums und Beats und diversen Verkehrsvorhaben ein. Wo hatte sie den Mann geparkt? Ah, da.
Oh, er unterhielt sich
gerade mit einer billigen Blondine.
Wozu
es Waffenscheine gab? Nun, um nicht die Art in Gänze auszulöschen.
Blieben
die Fäuste. Für eine Frau hieß das: Blieben die, die auf der Zunge eine gesamte
Boxmannschaft ergaben: Sie trat von der Seite ran, stellte sich in Position
und. Sie schwieg.
Schlug ihn aber mit den Augen nieder. Für die Blondine blieb
der Technische K.O.:
Sie fuhr sich
mitteilsam über die Brüste.
„Ah, da bist Du ja. …‘ne alte Bekannte aus der Agentur.
Warst aber lange auf dem Klo. Wohl voll da.“
„Ja. ‘Ne Schlange.“
Sollten Frauen sich in die Augen blicken? Nur, wenn danach nicht
die Augäpfel an Fingernägeln klebrig herunterhängen sollten.
„Will nach Hause. Geh’n wir?“
„Äh… ja.“
Sollte
man zu einer Blondine „Wir sehen uns.“ sagen, wenn eine Dunkelhaarige
danebensteht?
„Wir sehen uns.“
Der Mann im Allgemeinen ist ein Explosionsmotor. Die
Zündabfolge bestimmt die Motorsteuerung. Sie erfolgt im Allgemeinen
automatisch. Oder auf Gaspedaldruck.
Sollte man nicht.
Aber das war wohl der Unterschied zwischen Mann und
Frau. Daß die Frau ein Affenweibchen ist und der Mann ein Auto. Daß ein Auto
einen Affen zwar transportieren konnte, aber auf einen Baum klettern konnte ein
Auto nicht.
Mir auf meiner Lippe war es gleich. Ich war ein
Däumling, der darüber nachdachte, was ihm mehr nutzte: Die Nacht auf den Lippen
einer Frau zu verbringen. Oder die Nacht auf den Lippen einer Frau zu
verbringen, die von Männerlippen zerknutscht wurden, mit mir dazwischen und ich nur
schlafen wollte.
Er brachte sie im Taxi nach Hause. Er bezahlte. Sie ließ es zingerfeigisch geschehen. Mit
heraufkommen durfte er nicht. Das Taxi brauste wütend davon. Die Rücklichter
leuchteten rot wie ein Pavianarsch.
Sie schminkte ihn sich ab. Die Kondome
landeten in der Betttischschublade. Den roten String tauschte sie gegen eine
Pyjamahose mit Schafen. Er landete schmüppelnd im Wäschekorb. Ob mahnend, konnte ich nicht mehr
überblicken. Ich schlief auf ihrer Lippe ein. Vielleicht selig. Aber das wußte
ich auch nicht mehr. Ich wußte nur, ich träumte und schlief deep.
Wie ein sheep. Nur ohne Pyjamaschafen. War nett von ihr, mich auf ihrer Lippe zu verschonen. Rötlich braun schmatzten ihre Lippen im Schlaf. Ich fühlte mich träumend wie ein Mundersatz. Wie Lakritzschnecken. Fürs fehlende Küssen Mundersatz. Immer hin und her zwischen ihren Lippenwüsten. Immer muß was dazwischen dafür herhalten. Was zu schnabbeln waren immer andere Lippen. Selbst im Schlaf. Loppen, die mich zwischen den Wulsten hin und her lutschten. Süßigkeiten wurden für erwachsene Frauen erfunden, damit sie was zum Küssen haben. Alles konnte man lutschen, was klein genug war.
Ich war klein genug, um mir keine Gedanken zu machen. Dann, endlich, schlief ich wirklich mit ihrem Schnarchen ein. Ich tröstete mich damit, daß ich keine Kalorie war, weil man mich nach dem Zähneputzen einnahm. Und die zählen nicht. Weil Kalorien nach dem Zähneputzen selber einschlafen.
*
Wie es weiter geht: Es tanzen immer die
häßlichsten Frauen mit den kürzesten Röcken auf den wackeligsten Tischen, dafür umso lauter