"Hallo" ist das Pfandleihhaus des "Aufwiedersehn"...



Miniaturen des Absurden

Betrete mit der Miene der Abfälligkeit und erhalte Einlaß

Vom Jardin du Luxembourg zum Panthéon brauchte es schon mehr als platonisches Innehalten, um sich Gehör für Gesehenes zu verschaffen. Da...

Mittwoch, 27. April 2016

L


Lisa hat ein Problem.

Nun, da Laura dasselbe hatte und der Sommer sich dort zeigt, wo er am schönsten ist – am Eisbecherstand, oder im Fernsehen –, sollte ich Lisa jetzt mehr Aufmerksamkeit widmen.

Lisa – die dasselbe Problem wie Laura hatte, das zweite war, daß sich eine Dame nie mit einer zweiten verglichen sehen will; aber das ist aus meiner unbefangenen Sichtweise, die sich mir im Laufe der Zeit ausgeprägt oder eingebildet hat, nun wirklich vernachlässigbar – ist entzückend. Das stammt nicht von mir. Das Wort. Entzückend. Und es war auch nicht für Lisa bestimmt, aber es stimmt. Lisa ist nun mal entzückend.

Und während ich mir schon vorstelle, wie wir unsere Kinder aus den Tagesbeschäftigungsstätten des Bildungsangebotes wechselseitig abholen, unseren geregelten Tagesalltag organisieren, um müde am Tage oder am Abend zwischen den vielfältigen Beschäftigungsfeldern wie Schreiben und Fernsehen hin und her zappen, als wäre dies bei Menschen so ohne weiteres ohne weiteres so einfach möglich, nagt ein kleines bißchen, klitzekleines bißchen Lisas Problem an meiner Kopfhaut.

Ein fast nicht verspürbares Jucken. Nicht weiter wichtig. Aber vorhanden. Und so kratze ich es. Nur ein bißchen. Ein klitzekleines bißchen kratze ich an meiner Kopfhaut. Hm, nur das Jucken bleibt.

Während also unsere Kinder heranwachsen, uns stolz über den Kopf wachsen und uns in weiterer Hinsicht – dieses Wort kommt entzückenderweise verhäuft vor – auch nicht allzu peinlich sind, wir ihnen selbstredend vor ihren Freunden natürlich auch nicht, während wir unserer Beschäftigung nachgehen, stemme ich mich gegen den schon ausgeprägten Juckreiz, den ich mit den Jahren allerdings erfolgreich – also vor ihren wunderschönen Augen – zu unterdrücken versuche. Wären sie nicht so wunderschön, so unterdrückte ich ihn wohl weniger ausgeprägter, aber umso effektiver, damit Lisa sich keine Sorgen darum machen müßte, was denn nun Lisas Problem, klitzekleines Problem sei.

Nun, daß sie dasselbe Problem wie Laura hatte, das ist offenbar kein großes Geheimnis mehr. Und für unsere Beziehung spielte das im weiteren Verlauf auch keine weitere größere Rolle. Aber es juckte. Mit der Zeit. Erst die Kopfhaut. Dann am ganzen Körper. Und während ich mich vermehrt duschte, nachdem ich Lisa zur Begrüßung drückte, nachdem sie von ihrem Fernsehjob zurück in unser behagliches Nest zurückflog oder zur Verabschiedung, wenn sie zu ihrem Job flatterte – und ihn asymmetrisch gut beherrschte, wobei ich mir ihre Asymmetrie wohl eher einbildete, weil sie ihre Kopfhaut samt Frisur so asymmetrisch schön trug, daß ich sie bei ihrer Arbeit vor der Kamera kontrollierte, es ihr aber verschwieg, daß ich es tat, damit sie sich nicht so ohne weiteres kontrolliert vorkam, auch wenn es sich nicht vermeiden ließ, daß noch zwei, drei andere Zuseher den Fernseher einschalteten, um ihr bei der Arbeit zuzuschauen –, versuchte ich, dieses Jucken eher auf mich zu schieben, mir also ein Problem zuzuschreiben, daß zweifelsohne nicht meines war – nämlich Lisas – und dieses so auf mich nahm, damit sie eines weniger hatte und ich endlich mein Jucken loswürde.

Während also unsere Kinder studierten und in dieser Zeit der Praktika, Auslandssemester und Umbrüche ihre Partner wechselten, häufiger als ihre Facebook-Freunde, und sich für sie alles zum besten ihrer Eltern – also uns – entwickelte, nahm ich Lisas Problem, die sich mehr und mehr in das Sommerprogramm der Wetterschau entschuldigte, an. Sie kam zu einem schreibenden, sich ständig waschenden Hausmann, der sie alsbald, als sie zur Tür herein kam, zur Seite nahm, ihr einen Knutscher auf die Wange drückte, nachdem er dieses schmale Persönchen lange drückte – und rubbelte sie ab, kratzte sie am ganzen Körper, fing mit den Oberarmen an, arbeitete mich zu den Handgelenken vor, dann beide Seiten des Rumpfes, dann den Rücken, dann die Oberschenkel und so weiter. Dies wiederholte ich einige Jahre.


Bis Lisa – die dasselbe Problem wie Laura hatte – sich endlich ihr Problem eingestanden hatte.














*







Es gibt auch noch Lor, Lia, Linda. Irgendwelche Vorschläge, welche Baby-Vornamen ich sonst noch nicht verwenden darf, hm?
Ich habe wohl eine Vorliebe für Namen mit L, Chloe, Balia. Und wer sonst noch?
Amateurhaft beschreibe ich, wie schamlos intim Fernsehen geworden ist:

Frontales Gesicht, Großaufnahme, lange Blicke.

Und wie Fernsehen in die eigenen intimen Wohnräume eindringt, schon in körperlicher Nähe, als simulierte es eine private Beziehung mit dem Fernsehzuschauer und täuschte sie ihm vor samt gemeinsamen Einzug ins Lebenszimmer, um dranzubleiben beim Lebenskuscheln. Das Gesicht ganz groß und lange Blicke:

Hey, vielleicht wird ja noch was draus zwischen uns beiden. Dir und mir, süßer Flat-Screen.

Frontales Gesicht, Großaufnahme, lange Blicke kennt man aus privaten Beziehungen.
Die sind sehr intim. Und interagierend. 
Üblicherweise wendet man den Blick ab, um intime Blicke abzumildern, wenn fremde Menschen sich gegenübersitzen. Fernsehgesichter wenden sich nie ab. Gleiches gilt für Instagram-Gesichter, die sich nur frontal zeigen. Nah. Näher. Noch näher.
Daher schon fast das Körperliche. Als Zuschauer ist man dem ausgeliefert. 

Also warum daraus nicht gleich eine Beziehung machen? 

Verschriftet. Juckend. Netzhaut an Netzhaut.

Fernsehen geht mittlerweile weit über das 'Gesicht-Zeigen' hinaus. 
Es nutzt Reiz- und Silhouetteneffekte schamlos aus, die man sonst nur aus der Brutpflege und Paarbildung kennt.
Fernsehakteuren fällt das zu Intime gar nicht mehr auf.
Nur, wenn man drüber schreibt und sie damit ironisch konfrontiert.
Dann empfinden sie es als zu intim und beschweren sich. Und fühlen sich im Recht.
In einer rechthaberischen Paarbeziehung.

Kann Literatur intim sein?

Während man sich selber ob dieser erzwungenen Nähe schon kratzt. 
Läuseküsse nenne ich das. Läuseküsse mit L.
Vom Fernsehen übertragen. Juckt es einen schon. Beim Hinsehen schon.
Beim Netzhautkuscheln. Dieser Nähe wegen.

Juckt es Ihnen nicht auch schon?

Es sind halt empfindsame Gesichter. 
Also lieber nicht zu lange bei einem verweilen und umschalten.
Sonst erröten sie noch.

Und wer will schon Rotstich auf seinem Fernseher?

Natürlich mag es auch reflektierte Menschen unter ihnen geben. Die sind rar:

Und umso toller. 

Die machen sich auch schon längst Gedanken, wie sie ihre Beziehung mit sich führen wollen, während andere ihnen dabei zusehen. Vielleicht besitzen sie Humor und Biographie. Und haben sich eine oben erzählte Abreibung verdient. Humor und Biographie reibt Blicke ab. Wo sonst nur Verwünschungen anhaften.









Linda läßt sich Norwegen nicht schenken. Dubai wäre ganz Okay.


Linda, muß man wissen, besitzt schon Länder wie Feldherren Armeen. Die besiegten zählen nicht.

„Lind…“, begann ich, und konnte nicht mal ihren Namen beenden, ohne daß sie schon wieder nach einem anderen Kontinent schielte mit Dutzenden Ländern, die man sich noch so schenken lassen könne. „…a. Ich kann Dir Norwegen nicht schenken. Norwegen gehört den norwegischen Menschen, den Wikingern, den Trollen und den Fjorden. Die Fjorde haben sich zur Union der Landschaften zusammengefaßt und gehören jetzt der NUNO an. Das N steht für Natural, nicht für Norwegen. Was die Norweger aber gerne mal Pipifaxen machen läßt, wenn sie untereinander von sich von einer weltumspannenden Organisation sprechen, deren Namen sie sich für sich selbst wählten, während die Trolle in der TUNO sind und gerne mal mit der Wildfangquote der Thunfische in ein Netz geworfen werden, wobei das selbstnatürlich dazu führte, daß die Wikinger Enten auf dem Kopf tragen zum Schutz vor fliegenden Holländern, die einen Hafen suchen, in dem sie anlanden können, zudem diese allerdings nicht wissen, daß die Haarpracht unter den Entenschnäbeln versandet sind bei den Wikingern und deshalb zum ‘Pizza Oildriller‘-Essen Kronen tragen – wie jeder weiß –, um die um langen Spieße gewickelten Spaghetti senkrecht geflochten auf Salami und Basilikumblättern ruhenden runder See aus Steinofenteig gefertigten Meeresbeuten bei Kate und Katalin aufzurüsten, nicht abzubauen beim Essen, aufzurüsten, um dergestalt Ausdruck zu finden und zu geben, Reich eines Landes der Gesellschaft der NOUNO zu sein, wozu NO hier mal den Norwegern dient, konnte ich Linda Norwegen nicht einfach so schenken.

„Du hast Schweden, Finnland, Estland, Litauen wolltest Du nicht, Rußland schlägt Dir aufs Gemüt, Amerika wollen selbst die Engländer nicht mehr, Afrika gehört mir, die Antarktis ist schon für die Schmelzblüte verplant – ich suche gerade nach Co-Investoren, um die freigewordene Landmasse mit Pflanzen zu atmosphärisieren, verscherbel‘ ein gutes Drittel, zwei Drittel des Eisregenwaldes behalte ich unter Naturschutz, verkaufe die Lizenz, den nicht abzuholzen, an die Sahara, die so nicht dorthin gelieferten Bäume sorgen sich um das Klima in dieser trockenen Region der Erde, die mir zu 20% eigentümlicherweise besitzanzeigend und fürsorglich mein ist –, Italien ist befreit, aber Norwegen?
Ich tausche Dein Belgien (eh nix mehr wert) gegen Liechtenstein, poppe Slowenien obendrauf, bündle das Bundle mit Bulgarien, die Donau verläuft zu gut und biete Dir alle drei für den Verzicht auf Skandinavien-links-oben an. Du maulst?“

Linda mault. Linda sieht das immer zu schwarz. Ich schicke sie in die Türkei. Als Zypriotin versteht sie die Spitze. Vielleicht überspannt sie den Bosporus in längsverlaufender Richtung bis nach Kreta und befreit den Minotaurus aus seinem Labyrinth, aber da glaube ich ja selbst nicht dran.

„Hier. Kannst Du haben.“

Sage ich ihr noch zum Abschied. Soll sich dran verschlucken. Und ich schwöre, in ihren Augen zwei Tränen gesehen zu haben – vor Rührung , eine größer als die andere. Asymmetrische Tränen. Einer dieser beiden kann ich einfach nichts abschlagen.

Die andere wischte ich zusammen mit Nasenrotz an meinem Cord-Revers ab.



Gelassen, denke ich.












*







Dienstag, 19. April 2016

Kunigunde die Karettschildkröte




Es...
 ...war einmal...

...es...
 ...gab einmal...

...diese Kunde...
 ...von dieser einen...

...die machte mal...
 ...ihre Runde...

Sie kam einmal...
 ...eine Stunde lang...

...doch nie...
 ...zu mir.


Woher ich‘s dennoch weiß?


Ein Delphin erzählte es mir…
 ...von ihr...

...hier...

...von einer Karrett–Schildkröte...
 ...auf ihrer Runde...

...mit Namen...


...Kunigunde.



Kunigunde die Karettschildkröte...


…schwamm gerade ihre Runde – war wie Fliegen, eine Flosse vor, eine zog gerade hinterher – dort am Korallenriff, in klarem Wasser, schon traf sie in dieser Sekunde...

 ...auf Reintraude, ihres Zeichen Seeigel, gewitzt und auf dem Grunde, blauschwarz und groß wie ein Schuhkarton. Reintraude bog gerade ihre Stachel. Danach gerade. Einen nach dem anderen, öffnete ihren Munde, steckte die langen Stäbe so dazwischen und putzte alle mit ihrer Zunge. Bald waren sie wieder rein, und sie ließ sie flitschen und sie strahlten im Fleckenlicht der flachen Sonne mehr blau als schwarz wie Gift und doch noch einen halben Meter lang.

Kunigunde, die Karettschildkröte, hatte keine Angst, sie schwamm dicht heran.
„Mein Tag ist so.“, sagte Reintraude stichelig. „Ich putze meine Stachel. Es ist ein Stacheltag. Mehr nicht.“ Grüßte höflich, aber stolz, und wünschte diesen als schönen noch.
Kunigunde grüßte ebenso höflich zurück, lächelte, zeigte ihren Panzer vor, dem eine der Hornplatten fehlte, aber da sah die Seeigelin schon lange nicht mehr hin.
Kunigunde schwamm weiter ums Riff herum.

Ein Korallenriff, so mußte man wissen, bestand aus Leben. Aus Totem nicht. Und aus Wasser. Mehr wissen mußte man nicht.

„Aus Sand.“, sagte Kamillo, der Pistolenkrebs, und wie zum Beweis bespritzte er Kunigunde mit vielem davon, und wirbelte mehr noch damit auf.
Er hopste heraus aus seiner Höhle, er traute sich vor, dann wieder nicht, schnappte sich eine Schippe voll des hellsten Korallenschutts, dann zischte er zurück. Aus dem Begehren. Dann aus dem Licht. Dann in seines ohne nicht. Seine ausgestellten Augen funkelten.

Er schmatzte, und es knirschte und seine Scheren schnippten wie eitle Friseure an Land, zu denen er mal kam, weil er gefangen war, in einem Aquarium, wie sie es nannten, und dann wieder nicht. Nicht gefangen war, weil er die Glasscheibe mit seinem Pistolentrick zertrümmert hatte. Sie warfen ihn zurück ins Meer. Die Scherben vor. Zuvor ihre Scheren auf den Boden. Eitel ersetzt durch Wut.
„Mein Tag ist so.“, sagte Kamillo schnippig. „Ich schnippe mit meinen Scheren. Es ist ein Scherentag. Mehr nicht.“

Grüßte höflich, aber stolz, und wünschte diesen als schönen Tag noch.

Kunigunde grüßte höflich zurück, lächelte, zeigte ihren Panzer vor, mehr als eben, dem eine der Hornplatten fehlte, aber da sah der Pistolenkrebs schon lange nicht mehr hin.
Kunigunde schwamm weiter ums Riff herum.

Wie Flügel. Wie Fliegen.

Eine Flosse vor, eine zog dann gerade. Einen halben Meter lang. Wenn sie sich streckte. Wie Schaufeln. Wirbelten sie den Sand darunter auf. Eine zeitlang. 

Dann.

Kam ein leichter Aufgang, ein Anstieg, eine Schneise im Korallenriff. Ein glitzerner Schleier, der im Wasser trieb und sich mit Schleifen umgab.
Erst die Hände, dann die Füße. Der Buckel trocknete schon in warmer Luft: Kunigunde machte einen Landgang.

„Eine Insel.“, sagte die Kokospalme und ließ aus Ungeschick gleich eine ihrer Kokosnüsse fallen.

„Verzeihung. Habe ich Dich getroffen? Wie ungeschickt von mir.“

Die Palme beugte ihren grauen Stamm vornüber, es knarrte, ganz bis zum Boden, bis auch endlich die grünen Blätter den Boden streiften, formte sie zu Händen, schob die gute Nuß mit der einen auf die andere Fläche, stellte sich nun gerade, stopfte die Fallengelassene zu den anderen, die schon warteten unter die Krone und stellte sich – nun aufrecht – auf andere Weise vor: Kunigunde die Karettschildkröte grüßte höflich Paloma, die Palme.

„Nicht Paloma. Die steht dort drüben. Zwei Stämme weiter. Ich bin Ortrude.“

Ortrude aber grüßte ebenso höflich zurück. Fächerte aufmerksam ein wenig ihre Palmenfächer, damit Kunigunde im Schatten war.

„Mein Tag ist so.“, sagte sie sorgsam und vergaß dabei nicht, ihre Nüsse zu hüten.
„Ich spende mit meinen Blättern Schatten. Es ist ein Schattentag. Mehr nicht.“
„Dann tust Du etwas für andere.“
„Ach, wirklich? Das glaube ich nicht. Nein. Tu ich nicht. Sonst stünde ich ja nicht hier. Im Licht.“
Ortrude grüßte höflich, aber stolz, und wünschte diesen als schönen Tag noch.
Kunigunde die Karettschildkröte grüßte höflich zurück, lächelte, zeigte ihren Panzer vor. Dem eine der Hornplatten fehlte.
Aber die fehlte in dem Schatten gar nicht, doch da sah die Kokospalme schon lange nicht mehr hin.
Kunigunde stapfte weiter. Um die Insel herum.
Eine Flosse vor, die andere kam dann gerade. Wie Bürde. Wie Hürde. Bis zu einer Stelle machte sie es so.

Dann.

Am Strand, dort, zwischen den Farben Meer und den Farben Wald: Eine aufgehäufte Grube, drei Steine in der Nähe. 

Kunigunde, die Karettschildkröte, erinnerte sich. Bewegte sich.
Bewegte sich... der Sand vor ihren Augen. Da!

Es gluckste, glickste, ein Putzen, ein Schnippen, ein Schatten, ein grünes Blättchen streifte durch den Boden.
Heraus schimpfte sich ein kleines Häuflein Schildkrötlein, kaum größer als ein ungestümes Leben.
Es spuckte, kaute auf dem Sand, der nicht wirklich schmeckte.

Dann kam es frei.

„Das hier ist das falsche Loch. Da hinten. Da! Du stehst im Wege!“, probte das kleine Leben seine Worte, ruderte mit den Armen, mit den Beinen, eine Flosse vor, dann stellte sich die andere gerade, und schwamm schon mal so, als wäre der Strand das Wasser.
Eine weiße Eierschale steckte auf dem Rücken als Panzer. Es wollte am großen, dem eine Platte in gleicher Größe fehlte, gleich vorbei.

„Mein Tag ist so.“, sagte es dabei.

Und beeilte sich, noch das heranrasende, das herausziehende Meer, das heranrasende zu erwischen.

„Guten Tag, guten Weg. Mehr braucht es nicht.“

Grüßte höflich, aber stolz, und wünschte diesen als schönen noch.

Kunigunde grüßte höflich zurück, lächelte und hielt in gleicher Sekunde ihren Panzer vor, dem eine der Hornplatten fehlte.
Da aber war das kleine Leben schon längst im Sputen, im Plätschern, in den Fluten verschwunden. Hoch und wieder runter.
Doch da war noch…

…die Eierschale.

Sie schwappte auf der Welle. Ein Windstoß und – hups. Der trug den weißen Panzer flugs an den Strand.
Zurück. Lag so da. Vor Kunigunde und funkelte nun in der Sonne unbewegt. 

„Ja, Du mußt wissen…", sagte sie der Schale. Sie hörte ihr nun zu. „…mein Tag ist so.“

Und zeigte ihren Panzer vor.

„Ich trage ihn. Doch hält er sich davor. Wie gerne würde ich ihn putzen. Oder mal reiben. Oder diese Stelle kratzen. Die ganz hinten. Sie juckt manchmal.
Das ich es nicht leiden mag. Doch meine Arme, meine Beine sind zu kurz. Sie kommen nicht an, dort hin.
Deshalb, liebe Schale, lebe ich im Meer. So bleibt mein Panzer auch rein. Und sauber geb‘ ich ihn nicht her.
Ja. Auch das ist wahr. Ich kannte mal eine Cousine.
Die war sich zu fein. Die war des Panzers müde. Von jedem Tage trage. Beim Bade. Sie zog so und zerrte. Und eines solchen dann.
Streifte sie ihn sich vom Leibe.
Wie leicht es war!
Zu schwimmen. Jauchzte. Ohne die Last auf dem Rücken. Und sie konnte sogar aus dem Wasser über die Wellen springen.
Was für eine Schildkröte niemals möglich war. Erst möglich wurde durch all das Gezerre.
Sie schwimmt nun schön und schnappt nach Luft wie zuvor.
Ihr Name: Margarethe.

Maßliebchen, nenn' ich sie.

Weil sie kleiner war. Als die anderen Delphine. Die sie nun war.
Ihre Augen glücklich.
Doch kann sie nie mehr an Land.
Nie mehr an den Strand, an die Stelle, wie Du als Eierschale eben bevor.
Mein Tag ist so.“

Sagte Kunigunde, die Karettschildkröte, hielt ihren Panzer vor, zeigte auf die Hornplatte, die fehlte, und grüßte höflich aus der Ferne:

Reintraude, die Seeigelin. Die unter Wasser bei den Korallen ihre Stachel putzte, bis sie wieder glänzten.
Kamillo, den Pistolenkrebs, der daneben mit seinen schweren Scheren voller Sand beschäftigt war, bis man sein zufriedenes Schmatzen hörte.
Die Palme Ortrude hier oben auf der Insel, die gerne Schatten spendete, und dabei behutsam ihre Nüsse hütete.

Und grub am richtigen Ort nun fröhlich ihre Kuhle.


„Mehr nicht. Und morgen? Bin ich ebenso.“









*




 Von einer Karrett-Schildkröte...

 ..auf ihrer Runde.

Kam die Kunde.

Ein Delphin erzählte es mir.

Ungelenk, vielleicht. Voll Leben.


Und doch ein Geschenk....



Sonntag, 3. April 2016

Einhundert Jahre Wimpernschläge


Als ich einhundert Jahre alt war, kam es mir vor, ich würde vergehen. Kam es mir vor, als schlüpfte ich aus zu großen Schuhen. Ich stellte sie zu den anderen, die mich einhundert Jahre lang begleiteten. Waren sie getragen?

Als ich zweihundert Jahre alt war, kam es mir vor, ich würde verstehen. Kam es mir vor, als zog ich Gewohnheiten an. Ich streifte sie über, wie die anderen, die mich einhundert Jahre lang kleideten. Wärmten sie mich?

Als ich dreihundert Jahre alt war, kam es mir vor, ich würde sehen. Kam es mir vor, als warf ich einhundert Schleier über. Ich lupfte sie nicht, wie die anderen, die mich einhundert Jahre lang verhüllten. Bewahrten sie mich?

Als ich vierhundert Jahre alt war, kam es mir vor, ich würde reden. Kam es mir vor, als entwaffneten sie einhundert Zungen. Ich verteidigte sie nicht, wie die anderen, die mich einhundert Jahre lang verschluckten. Versuchten sie mich?

Als ich fünfhundert Jahre alt war, kam es mir vor, ich würde verstummen. Kam es mir vor, als ergaben sich zweihundert Stimmen. Ich hörte ihnen nicht zu, wie den anderen, die mich einhundert Jahre lang besuchten. Straften sie mich?

Als ich sechshundert Jahre alt war, kam es mir vor, ich würde erwachen. Kam es mir vor, als gähnten sich einhundert Schlafe. Ich erwähnte sie nicht, wie die anderen, die mich einhundert Jahre lang einsperrten. Träumten sie mich?

Als ich siebenhundert Jahre alt war, kam es mir vor, ich würde brechen. Kam es mir vor, als verlor ich einhundert Stützen. Ich versagte nicht, wie die anderen, die mich einhundert Jahre lang hielten. Spürten sie mich?

Als ich achthundert Jahre alt war, traf ich auf alle Jahrhunderte zuvor. Sie sprachen über mich wie gute Freunde, doch urteilten über mich. Warum ich einhundert Jahre lang nichts tat, warum ich einhundert Jahre lang zögerte, warum ich einhundert Jahre lang zweifelte, warum ich einhundert Jahre lang verharrte, warum ich einhundert Jahre lang haderte, warum ich einhundert Jahre lang kauerte, warum ich einhundert Jahre lang wartete und warum ich einhundert Jahre lang nicht wollte. Warum es mich dann gab?

„Weil ich nicht glaubte,“, antwortete ich, „daß ich allen Jahrhunderten entsprach. Daß mir zu wenig Zeit gewährt wurde, um mich zu begreifen, während alle Jahrhunderte sich nur mühten, mich zu schaffen. Erschufen sie mich? Oder bewältigten sie mich nur? Während alle Jahrhunderte nichts taten, zögerten, zweifelten, verharrten, haderten, kauerten, warteten und nicht wollten, glaubte ich nicht daran, daß es mich für andere gab. Daß es mich gab. Für alle Jahrhunderte, die es noch zu leben gab, wenn ich aus einhundert Jahren die Jahre wählte, die es brauchte, den Tag zu finden, für den es sich lohnte, acht Jahrhunderte zu geben.“


Und für diesen einen Tag wählte ich einhundert Stunden. Aus denen sich nur die erinnerten, die vierundzwanzig ergaben.














*