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Miniaturen des Absurden

Betrete mit der Miene der Abfälligkeit und erhalte Einlaß

Vom Jardin du Luxembourg zum Panthéon brauchte es schon mehr als platonisches Innehalten, um sich Gehör für Gesehenes zu verschaffen. Da...

Samstag, 26. Dezember 2015

Betrete mit der Miene der Abfälligkeit und erhalte Einlaß


Vom Jardin du Luxembourg zum Panthéon brauchte es schon mehr als platonisches Innehalten, um sich Gehör für Gesehenes zu verschaffen. Das galt für Beiläufiges – wie alles wohl beiläufig war in Paris – wie schweigsam Betretenes wie Bürgersteige.

Ging man an dem Bettler vorbei, mit gesenktem Kopf, kaum um jemanden seine Ehrerbietung entgegenzubringen, schneller und in der Sorge, er könnte einen doch noch ansprechen. Saß er vorm Himmel geschützt unter einem Bauhausvorsprung, wie Bauhausbauten ihre verlorene Liebe zu Menschen bekundeten, die sie nicht erwiderten, lästig, hielt der in der einen Hand einen dicken Roman von Victor Hugo, geübt im Buchhalten mit einer Hand, und dirigierte mit der anderen die Worte aus der Handlung lautstark auf die Straße. Betonte jedes Wort und fügte Ausrufezeichen ein in Sätze, die geschrieben auf einen Punkt endeten. Wohl, weil die gesprochenen Sätze seines Lebens auf Ausrufezeichen endeten. Und konnte man ihn so lassen. Gesenkter Blick, eingezogener Kopf, wegen dem Bauhausvorsprung, um sich ja nicht den Kopf mit allem, was drin war, zu stoßen, schneller Schritt und Schweigen. Vorbei. Und gab sich selbst seinen Kommas des Lebens hin.

Schlief er im Dunkeln, gekrümmt, auf seiner Pappkartonmatratze, unter seinem Bauhausvorsprung, der ihn vor dem Himmel aller Himmel schützte, und manchmal auch vor den Sternen, wenn sie sich doch entschlossen, über Paris zu glitzern, wie mildtätiges Augennicken, jemanden in der Métro seinen eigenen Sitzplatz zu überlassen. Was mitunter in Märchen oder Träumen vorkam, aber selten in einer Stadt, einer pochenden, und schon gar nicht in einer wie dieser pichenden hier. Las er laut vor, am Tage, aus Victor Hugo, und war Licht da. Etwas, was sich der Bettler am Tage leisten konnte. Und nichts, um das er betteln mußte. Und war er auch betrunken, ja, und stank auch, ja. Und glasige Augen, ja. Und las aus ihnen laut vor. Und war es Nacht und war kein Lesen möglich. Und schlief er, gekrümmt. Und schlief Victor Hugo ebenso gekrümmt.

Und nun könnte er beschreiben, jetzt, da er nicht vorlas, nur fremde Worte verwendete und so gar nicht sprach, selbst wenn man ihn am Tage nur mit Worten hörte, wie er nicht alle Orte der Stadt betreten konnte. Wie man ihm Einlaß verwehrte. Könnte er erzählen, daß er sich nicht in ein Bistro setzen konnte oder in ein Restaurant, nicht den Eiffelturm mit dem Aufzug hochfahren oder Sacré-Cœur besuchen. Und wer wollte es Menschen verübeln, wenn sie riechende Bettler mieden. Und so erzählte er nichts dergleichen. Und war es ihm wohl auch gleich. Und so ruhte er auf seinem Pappkarton, unter seinem Bauhausvorsprung, und Victor Hugo ebenso müde. Und beide krümmten sich in den Schlaf. Und nicht mal Sterne wollten – wie in Paris üblich – diesen stören. „Sterne bringt man mit. Dann muß man nicht auf sie warten.“, murmelte der Bettler, bevor er einschlief. Oder man verhörte sich am Straßenverkehr. Unwahrscheinlich, daß er sich selber hörte.

Er wachte auf und stellte fest, daß jemand seine Schuhe gestohlen hatte. Er befühlte seine Socken. Er befühlte sein Gesicht und bemerkte, daß es nicht vorhanden war. Er trank sich wach und fand es wieder vor. Die Schuhe blieben verschwunden. Victor Hugo war noch da. Wer wollte schon Victor Hugo stehlen. Er wartete nicht lange. Er nahm das Buch in die eine und schlug mit der anderen, freien, die Sätze aus den Seiten. Jeder Satz ein Ausrufezeichen, jedes Umblättern ein Bindestrich. Nicht mal der Umschlag war eine Klammer. Am Mittag regnete es. Er saß nur einfach so da und sah den Regen an. Er bemerkte, daß es sich im Schneidersitz ohne Schuhe bequemer sitzen ließ. Am Nachmittag hörte es auf zu regnen und er las wieder vor. Nun könnte man die Menschen erwähnen, die an ihm vorbeigingen. Nur kamen Menschen in seinen Worten nicht vor. Menschen kommen nicht in Worten vor. Am Abend krümmte er sich in den Schlaf. „Geraubte Schuld: Schlaf. Ich löse ein. Ich löse ein, verdammt!“, murmelte der Bettler, bevor er einschlief. Oder man verhörte sich am Straßenverkehr. Unwahrscheinlich, daß er sich selber hörte.

Er lief durch die Straßen, auf Socken, Victor Hugo vor der Brust, fand den Supermarkt, betrat ihn, holte seine drei Sachen, auch er hatte ein Einkommen, stand in der Kassenschlange, und ja, er roch, und ja, für alle war er unangenehm. Er verließ den Supermarkt, wieder Regen. Er ging zurück zu seinem Bauhausvorsprung. Die Menschen mieden ihn. Die Läden mieden ihn. Die Bistros mieden ihn. Paris mied ihn. Paris mied sich selber. Es regnete den ganzen Tag. Den ganzen Tag konnte er nicht vorlesen. Seine Socken trockneten nicht. Die Nacht krümmte ihn in den Schlaf. „Victor Hugo verzeiht nicht.“, murmelte der Bettler, bevor er einschlief. Seine ersten Worte heute. Und seine letzten. Oder man verhörte sich am Straßenverkehr. Unwahrscheinlich, daß er sich selber hörte.

Er wachte auf. Neuer Tag, wieder Paris. Er trank sich wach. Erst dadurch war er es. Er befühlte seine Socken. Immer noch naß. Er spürte, daß sich die aufgeweichte Haut darunter auflöste. Dann standen sie einfach da. Vor seinen Füßen. Vor dem Pappkarton. Ordentlich hingestellt, neu und auf Hochglanz geputzt. Diese Schuhe.

Aus Leder und teuer. Aus Gewirk und handgenäht. Der Bettler nahm sie in die Hand, hielt sie hoch. Und vielleicht war das Gewirk, von dem hier die Rede ist, der Grund, warum er sie gleich anzog. Und wie sie auf Anhieb paßten. Und wie warm die Füße sogleich wurden. Und wie trocken sie auf einmal wurden. Und ohne, daß er es merkte, stand er schon aufrecht, aufrechter als je zuvor, und beschaute diese Schuhe von oben. Er krempelte die Hosenbeine um, damit er sie besser sehen konnte. Und vielleicht war es jetzt Zeit für Victor Hugo. Und Zeit, sich wieder zu setzen, in den Schneidersitz. Und Zeit, wieder vorzulesen. Doch, er hätte es nicht beschreiben können, die Schuhe wollten, daß er mit ihnen geht. Und schon war er hundert Meter gegangen, ohne daß es ihm bewußt war. Und nochmal hundert Meter. Und schon viel weiter.

Und er ging durch die Straßen. Und ging durch die Menschen. Und sie mieden ihn nicht. Sie lächelten sogar. Und der Bettler lächelte sogar zurück. Er kam an einer Konditorei vorbei. Und die Schuhe hatten wohl Hunger. Und ehe er sich versah, betrat er den Laden – und überschritt die Schwelle. Und es duftete. Und niemand störte sich an seinem Geruch. Und man ließ den Bettler vor. Und schon hatte er zwei Éclair in Händen. In jeder Hand eins. Und man lehnte freundlich ab, daß er bezahlte. Und ehe er sich versah, saß er schon im Jardin du Luxembourg auf einer Bank, die er sich mit anderen teilte, und biß in die Éclair. Und wie sie schmeckten! Er leckte sich die Finger ab. Dann wollten die Schuhe weiter.

Und schon war er in Saint-Germain-des-Prés. Und die Tische der Touristen vor den Bistros waren vollbesetzt. Aber ein Paar machte für ihn Platz. Und anstatt eines kühlen Bieres wählte er einen Kaffee. Wie lange hatte er keinen Kaffee mehr gehabt! Und der Bettler saß nur da und tat das, was man so tut, wenn man einfach nur dasitzt und einen Kaffee in Paris trinkt. Und er bestellte sich noch einen. Und noch einen. Und niemand störte sich an seinem Geruch. Und man lächelte ihm sogar freundlich zu. Und er lächelte freundlich zurück. Und er zeigte stolz seine neuen Schuhe. Lächelte wieder und nippte nochmal an seinem Kaffee. Und irgendwann wollten die Schuhe weiter. Der Kellner weigerte sich höflich, aber bestimmt, den Kaffee in Rechnung zu stellen. Verabschiedete sich und wünschte noch einen schönen Tag.

Sie kamen an einem McDonald’s vorbei. Nun, denn. Schon überschritten die Schuhe die Schwelle zum Eingang und kamen mit vier Big Macs wieder heraus. Schmatzend lief der Bettler durch Paris. Er schaute sich die Geschäfte und Läden genau an. Aber nicht jeden beehrte er mit seinem Besuch. Die Ladeninhaber standen sogar schon in der Tür und wiesen ihn hinein. Aber er lehnte lächelnd ab. Den ein oder anderen betrat er auch. Ein Anzug-Geschäft lockte mit feinsten Stoffen und edelster Verarbeitung, aber der Bettler wollte sich nicht von seiner schmutzigen Kleidung trennen. Ihre Enttäuschung überspielten die Verkäufer mit freundlichem „Vielleicht ein ander‘ Mal.“ und wünschten ihm noch einen angenehmen Tag. Selbstverständlich hätte er auch hier nicht zahlen müssen.

Die Wünsche gingen weiter. Und wie es so ist mit Paris und Wünschen, kommen sie irgendwann beim Eiffelturm an. Der Bettler zeigte seine Schuhe vor – und schon stand er auf der Aussichtsplattform hoch über der Stadt. Zum ersten Mal in seinem Leben sah er seine Stadt. Und er sah sich alles ganz genau an. Und er versicherte sich auch, daß der Himmel über ihm war. Unter seinem Bauhausvorsprung gab es keinen. Und weiter.

Vorm Moulin Rouge zeigte er seine Schuhe vor – und schon wies man ihm den besten Platz zu. Die Vorstellung beschaute er kritisch, und der Manager versicherte ihm, daß er sich noch mehr Mühe geben werde. Wenn er das nächste Mal kommt, sei alles zu seiner Zufriedenheit. Er bestellte für ihn ein Taxi, doch der Bettler lehnte freundlich ab. Lächelnd zeigte er seine Schuhe vor. Abends hielten sie vor Georges V. Die Schuhe übertraten die Schwelle zur Lobby des Luxus-Hotels. Freundlich begrüßte man den Bettler an der Rezeption und man wies ihm die beste Suite zu. Die zungenfreundlichsten Delikatessen schicke man ihm selbstverständlich unverzüglich aufs Zimmer. Der Bettler ließ den Abend bei Champagner und Kaviar mit hauchdünnen Scheiben weißen Trüffels auf der Terrasse der Präsidenten-Suite mit Blick auf den glitzernden Eiffelturm ausklingen, nachdem er schon glaubte, das 5-Gänge-Menü von Weltrang nicht bewältigen zu können. Mehr als bei Menschen täuscht man sich nur beim Essen.

Und dann lag der Bettler mit den Schuhen auf dem duftenden King-Size-Bett, weich und warm, ausgetreckt, die Arme hinter dem Kopf verschränkt und sah sich das Schlafzimmer an, das nicht im entferntesten an Bauhaus erinnerte und wackelte mit den Füßen. Er ließ das Licht an. Das Licht in der Nacht, das er nicht kannte. Und irgendwann schlief er ausgestreckt ein.

Und irgendwann fing der neue Tag an. Und nun könnte man meinen, diese Zauberschuhe seien nun verschwunden. Und der vorige Tag nur eine Laune. Könnte man meinen, daß vorige Tage alle nur Launen waren. Und alle kommenden auch schon launisch. Doch die Schuhe waren noch da. Sie waren da, wo sie zuletzt waren: An den Füßen des Bettlers. Und der Bettler verließ nach einem ausgedehnten Frühstück Georges V. wieder, lehnte freundlich die bereitgestellte Limousine ab, zeigte stattdessen lächelnd seine Schuhe vor und mußte selbstverständlich auch nichts zahlen. Und er streifte durch die Stadt. Sah sich das an, was er noch nicht gesehen hatte. Und überall gewährte man ihm Einlaß. Störte sich nicht an seinem Geruch, nicht an seinen schmutzigen Kleidern, sah nur seine Schuhe, und es war sicher, diese Schuhe würden ihn für immer begleiten.

Er stand auf der Pont Neuf. Sah der Seine beim Fließen zu. Prüfte nochmal den Himmel auf Anwesenheit, zog die Schuhe aus und warf sie in den Fluß. Sie trieben noch etwas oben. Bis sie versanken. Auf Socken lief er zurück zu seinem Bauhausvorsprung. Die Pappkartonmatratze wartete schon. Victor Hugo lag darauf. Er setzte sich in den Schneidersitz. Kratzte sich an den Füßen. Nahm das Buch in die gewohnte Hand, öffnete irgendeine Stelle, hob seine andere Hand, die setzte schon zu den Ausrufezeichen an, und las lautstark vor. Gemieden von Blicken.


„Irgendwann“, streute er eigene Worte ein – Victor Hugo möge ihm verzeihen – „lese ich mal aus einem anderen Buch vor. Zu viele Ausrufezeichen. Aber das hier ist noch nicht zu Ende.“














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