Vom Jardin du
Luxembourg zum Panthéon brauchte
es schon mehr als platonisches Innehalten, um sich Gehör für Gesehenes zu
verschaffen. Das galt für Beiläufiges – wie
alles wohl beiläufig war in Paris – wie schweigsam Betretenes wie
Bürgersteige.
Ging man an dem Bettler vorbei, mit gesenktem Kopf,
kaum um jemanden seine Ehrerbietung entgegenzubringen, schneller und in der
Sorge, er könnte einen doch noch ansprechen. Saß er vorm Himmel geschützt unter
einem Bauhausvorsprung, wie Bauhausbauten ihre verlorene Liebe zu Menschen
bekundeten, die sie nicht erwiderten, lästig, hielt der in der einen Hand einen
dicken Roman von Victor Hugo, geübt
im Buchhalten mit einer Hand, und dirigierte mit der anderen die Worte aus der
Handlung lautstark auf die Straße. Betonte jedes Wort und fügte Ausrufezeichen
ein in Sätze, die geschrieben auf einen Punkt endeten. Wohl, weil die gesprochenen
Sätze seines Lebens auf Ausrufezeichen endeten. Und konnte man ihn so lassen. Gesenkter
Blick, eingezogener Kopf, wegen dem Bauhausvorsprung, um sich ja nicht den Kopf
mit allem, was drin war, zu stoßen, schneller Schritt und Schweigen. Vorbei.
Und gab sich selbst seinen Kommas des Lebens hin.
Schlief er im Dunkeln, gekrümmt, auf seiner
Pappkartonmatratze, unter seinem Bauhausvorsprung, der ihn vor dem Himmel aller
Himmel schützte, und manchmal auch vor den Sternen, wenn sie sich doch
entschlossen, über Paris zu glitzern,
wie mildtätiges Augennicken, jemanden in der Métro seinen eigenen Sitzplatz zu überlassen. Was mitunter in
Märchen oder Träumen vorkam, aber selten in einer Stadt, einer pochenden, und
schon gar nicht in einer wie dieser pichenden hier. Las er laut vor, am Tage,
aus Victor Hugo, und war Licht da. Etwas,
was sich der Bettler am Tage leisten konnte. Und nichts, um das er betteln
mußte. Und war er auch betrunken, ja, und stank auch, ja. Und glasige Augen,
ja. Und las aus ihnen laut vor. Und war es Nacht und war kein Lesen möglich.
Und schlief er, gekrümmt. Und schlief Victor
Hugo ebenso gekrümmt.
Und nun könnte er beschreiben, jetzt, da er nicht
vorlas, nur fremde Worte verwendete und so gar nicht sprach, selbst wenn man
ihn am Tage nur mit Worten hörte, wie er nicht alle Orte der Stadt betreten
konnte. Wie man ihm Einlaß verwehrte. Könnte er erzählen, daß er sich nicht in
ein Bistro setzen konnte oder in ein Restaurant, nicht den Eiffelturm mit dem Aufzug hochfahren oder Sacré-Cœur besuchen. Und wer wollte es Menschen verübeln, wenn sie
riechende Bettler mieden. Und so erzählte er nichts dergleichen. Und war es ihm
wohl auch gleich. Und so ruhte er auf seinem Pappkarton, unter seinem
Bauhausvorsprung, und Victor Hugo ebenso
müde. Und beide krümmten sich in den Schlaf. Und nicht mal Sterne wollten – wie in Paris üblich – diesen stören. „Sterne
bringt man mit. Dann muß man nicht auf sie warten.“, murmelte der Bettler,
bevor er einschlief. Oder man verhörte sich am Straßenverkehr.
Unwahrscheinlich, daß er sich selber hörte.
Er wachte auf und stellte fest, daß jemand seine
Schuhe gestohlen hatte. Er befühlte seine Socken. Er befühlte sein Gesicht und
bemerkte, daß es nicht vorhanden war. Er trank sich wach und fand es wieder
vor. Die Schuhe blieben verschwunden. Victor
Hugo war noch da. Wer wollte schon Victor
Hugo stehlen. Er wartete nicht lange. Er nahm das Buch in die eine und
schlug mit der anderen, freien, die Sätze aus den Seiten. Jeder Satz ein
Ausrufezeichen, jedes Umblättern ein Bindestrich. Nicht mal der Umschlag war
eine Klammer. Am Mittag regnete es. Er saß nur einfach so da und sah den Regen
an. Er bemerkte, daß es sich im Schneidersitz ohne Schuhe bequemer sitzen ließ.
Am Nachmittag hörte es auf zu regnen und er las wieder vor. Nun könnte man die
Menschen erwähnen, die an ihm vorbeigingen. Nur kamen Menschen in seinen Worten
nicht vor. Menschen kommen nicht in Worten vor. Am Abend krümmte er sich in den
Schlaf. „Geraubte Schuld: Schlaf. Ich löse ein. Ich löse ein, verdammt!“,
murmelte der Bettler, bevor er einschlief. Oder man verhörte sich am
Straßenverkehr. Unwahrscheinlich, daß er sich selber hörte.
Er lief durch die Straßen, auf Socken, Victor Hugo vor der Brust, fand den
Supermarkt, betrat ihn, holte seine drei Sachen, auch er hatte ein Einkommen,
stand in der Kassenschlange, und ja, er roch, und ja, für alle war er
unangenehm. Er verließ den Supermarkt, wieder Regen. Er ging zurück zu seinem
Bauhausvorsprung. Die Menschen mieden ihn. Die Läden mieden ihn. Die Bistros mieden
ihn. Paris mied ihn. Paris mied sich selber. Es regnete den
ganzen Tag. Den ganzen Tag konnte er nicht vorlesen. Seine Socken trockneten
nicht. Die Nacht krümmte ihn in den Schlaf. „Victor Hugo verzeiht nicht.“,
murmelte der Bettler, bevor er einschlief. Seine ersten Worte heute. Und seine
letzten. Oder man verhörte sich am Straßenverkehr. Unwahrscheinlich, daß er
sich selber hörte.
Er wachte auf. Neuer Tag, wieder Paris. Er trank sich wach. Erst dadurch
war er es. Er befühlte seine Socken. Immer noch naß. Er spürte, daß sich die aufgeweichte
Haut darunter auflöste. Dann standen sie einfach da. Vor seinen Füßen. Vor dem
Pappkarton. Ordentlich hingestellt, neu und auf Hochglanz geputzt. Diese
Schuhe.
Aus Leder und teuer. Aus Gewirk und handgenäht. Der
Bettler nahm sie in die Hand, hielt sie hoch. Und vielleicht war das Gewirk,
von dem hier die Rede ist, der Grund, warum er sie gleich anzog. Und wie sie
auf Anhieb paßten. Und wie warm die Füße sogleich wurden. Und wie trocken sie
auf einmal wurden. Und ohne, daß er es merkte, stand er schon aufrecht,
aufrechter als je zuvor, und beschaute diese Schuhe von oben. Er krempelte die
Hosenbeine um, damit er sie besser sehen konnte. Und vielleicht war es jetzt
Zeit für Victor Hugo. Und Zeit, sich
wieder zu setzen, in den Schneidersitz. Und Zeit, wieder vorzulesen. Doch, er
hätte es nicht beschreiben können, die Schuhe wollten, daß er mit ihnen geht. Und
schon war er hundert Meter gegangen, ohne daß es ihm bewußt war. Und nochmal
hundert Meter. Und schon viel weiter.
Und er ging durch die Straßen. Und ging durch die
Menschen. Und sie mieden ihn nicht. Sie lächelten sogar. Und der Bettler
lächelte sogar zurück. Er kam an einer Konditorei vorbei. Und die Schuhe hatten
wohl Hunger. Und ehe er sich versah, betrat er den Laden – und überschritt die
Schwelle. Und es duftete. Und niemand störte sich an seinem Geruch. Und man
ließ den Bettler vor. Und schon hatte er zwei Éclair in Händen. In jeder Hand eins. Und man lehnte freundlich ab,
daß er bezahlte. Und ehe er sich versah, saß er schon im Jardin du Luxembourg auf einer Bank, die er sich mit anderen teilte,
und biß in die Éclair. Und wie sie
schmeckten! Er leckte sich die Finger ab. Dann wollten die Schuhe weiter.
Und schon war er in Saint-Germain-des-Prés. Und die Tische der Touristen vor den
Bistros waren vollbesetzt. Aber ein Paar machte für ihn Platz. Und anstatt
eines kühlen Bieres wählte er einen Kaffee. Wie lange hatte er keinen Kaffee
mehr gehabt! Und der Bettler saß nur da und tat das, was man so tut, wenn man
einfach nur dasitzt und einen Kaffee in Paris
trinkt. Und er bestellte sich noch einen. Und noch einen. Und niemand störte
sich an seinem Geruch. Und man lächelte ihm sogar freundlich zu. Und er lächelte
freundlich zurück. Und er zeigte stolz seine neuen Schuhe. Lächelte wieder und
nippte nochmal an seinem Kaffee. Und irgendwann wollten die Schuhe weiter. Der
Kellner weigerte sich höflich, aber bestimmt, den Kaffee in Rechnung zu
stellen. Verabschiedete sich und wünschte noch einen schönen Tag.
Sie kamen an einem McDonald’s vorbei. Nun, denn. Schon überschritten die Schuhe die
Schwelle zum Eingang und kamen mit vier Big
Macs wieder heraus. Schmatzend lief der Bettler durch Paris. Er schaute sich die Geschäfte und Läden genau an. Aber nicht
jeden beehrte er mit seinem Besuch. Die Ladeninhaber standen sogar schon in der
Tür und wiesen ihn hinein. Aber er lehnte lächelnd ab. Den ein oder anderen
betrat er auch. Ein Anzug-Geschäft lockte mit feinsten Stoffen und edelster
Verarbeitung, aber der Bettler wollte sich nicht von seiner schmutzigen
Kleidung trennen. Ihre Enttäuschung überspielten die Verkäufer mit freundlichem
„Vielleicht ein ander‘ Mal.“ und wünschten
ihm noch einen angenehmen Tag. Selbstverständlich hätte er auch hier nicht
zahlen müssen.
Die Wünsche gingen weiter. Und wie es so ist mit Paris und Wünschen, kommen sie
irgendwann beim Eiffelturm an. Der
Bettler zeigte seine Schuhe vor – und schon stand er auf der Aussichtsplattform
hoch über der Stadt. Zum ersten Mal in seinem Leben sah er seine Stadt. Und er
sah sich alles ganz genau an. Und er versicherte sich auch, daß der Himmel über
ihm war. Unter seinem Bauhausvorsprung gab es keinen. Und weiter.
Vorm Moulin
Rouge zeigte er seine Schuhe vor – und schon wies man ihm den besten Platz
zu. Die Vorstellung beschaute er kritisch, und der Manager versicherte ihm, daß
er sich noch mehr Mühe geben werde. Wenn er das nächste Mal kommt, sei alles zu
seiner Zufriedenheit. Er bestellte für ihn ein Taxi, doch der Bettler lehnte
freundlich ab. Lächelnd zeigte er seine Schuhe vor. Abends hielten sie vor Georges V. Die Schuhe übertraten die
Schwelle zur Lobby des Luxus-Hotels. Freundlich begrüßte man den Bettler an der
Rezeption und man wies ihm die beste Suite zu. Die zungenfreundlichsten
Delikatessen schicke man ihm selbstverständlich unverzüglich aufs Zimmer. Der
Bettler ließ den Abend bei Champagner und Kaviar mit hauchdünnen Scheiben
weißen Trüffels auf der Terrasse der Präsidenten-Suite mit Blick auf den
glitzernden Eiffelturm ausklingen, nachdem er schon glaubte, das 5-Gänge-Menü
von Weltrang nicht bewältigen zu können. Mehr als bei Menschen täuscht man sich
nur beim Essen.
Und dann lag der Bettler mit den Schuhen auf dem duftenden
King-Size-Bett, weich und warm, ausgetreckt, die Arme hinter dem Kopf
verschränkt und sah sich das Schlafzimmer an, das nicht im entferntesten an
Bauhaus erinnerte und wackelte mit den Füßen. Er ließ das Licht an. Das Licht
in der Nacht, das er nicht kannte. Und irgendwann schlief er ausgestreckt ein.
Und irgendwann fing der neue Tag an. Und nun könnte
man meinen, diese Zauberschuhe seien nun verschwunden. Und der vorige Tag nur
eine Laune. Könnte man meinen, daß vorige Tage alle nur Launen waren. Und alle
kommenden auch schon launisch. Doch die Schuhe waren noch da. Sie waren da, wo
sie zuletzt waren: An den Füßen des Bettlers. Und der Bettler verließ nach
einem ausgedehnten Frühstück Georges V.
wieder, lehnte freundlich die bereitgestellte Limousine ab, zeigte stattdessen
lächelnd seine Schuhe vor und mußte selbstverständlich auch nichts zahlen. Und
er streifte durch die Stadt. Sah sich das an, was er noch nicht gesehen hatte.
Und überall gewährte man ihm Einlaß. Störte sich nicht an seinem Geruch, nicht
an seinen schmutzigen Kleidern, sah nur seine Schuhe, und es war sicher, diese
Schuhe würden ihn für immer begleiten.
Er stand auf der Pont
Neuf. Sah der Seine beim Fließen
zu. Prüfte nochmal den Himmel auf Anwesenheit, zog die Schuhe aus und warf sie
in den Fluß. Sie trieben noch etwas oben. Bis sie versanken. Auf Socken lief er
zurück zu seinem Bauhausvorsprung. Die Pappkartonmatratze wartete schon. Victor Hugo lag darauf. Er setzte sich
in den Schneidersitz. Kratzte sich an den Füßen. Nahm das Buch in die gewohnte
Hand, öffnete irgendeine Stelle, hob seine andere Hand, die setzte schon zu den
Ausrufezeichen an, und las lautstark vor. Gemieden von Blicken.
„Irgendwann“, streute er eigene Worte ein – Victor Hugo möge ihm verzeihen – „lese
ich mal aus einem anderen Buch vor. Zu viele Ausrufezeichen. Aber das hier ist
noch nicht zu Ende.“
*