"Hallo" ist das Pfandleihhaus des "Aufwiedersehn"...



Miniaturen des Absurden

Betrete mit der Miene der Abfälligkeit und erhalte Einlaß

Vom Jardin du Luxembourg zum Panthéon brauchte es schon mehr als platonisches Innehalten, um sich Gehör für Gesehenes zu verschaffen. Da...

Samstag, 19. Juli 2014

Wir brauchen Rauchen


Na gut. Dieses eine Mal legen wir die Zigarette beiseite und atmen stattdessen frische Luft.

Als ich noch lief – und ich tat dies mehrmals die Woche, 8 km –, lernte ich, daß man eine Stunde vorher und bis eine Stunde danach nicht rauchen sollte, weil sich durch das verstärkte Atmen beim Joggen die Lungenbläschen öffnen, um die benötigte Menge an Sauerstoff für die erhöhte Energieleistung aufnehmen zu können, und täte man rauchen, während dieser Zeit, so werden all die schädlichen Inhaltsstoffe einer Zigarette besser absorbiert von der Lunge.

Nun nehmen wir mal an, daß alles zuvor Geschriebene nichts mit dem weiteren Verlauf dieser Geschichte hier zu tun hat, und daß die Zigarette, die Lungenbläschen, das Joggen und der Sauerstoff nur dazu dienten, von Lia abzulenken.

Lia, so muß man wissen, erwarb ihre ungeheure Teleportationsgabe durch jahrelanges Konzentrieren auf ein halbvolles Wasserglas – starren könnte man sagen –, dessen Inhalt sie so vom Glasboden in ihren Magen verschob, im Alter von 5. Vierdimensionale Hexamentalarithmetik. Einfach ausgedrückt. Es hilft ihr, das Wasserglas in die exakte Mitte eines blanken Holzküchentisches – Palisander hat sich hier bewährt – zu stellen, die Ellbogen an der Kante abzustützen und die Hände so zu verbringen, daß sie das Kinn dort darauf ablegen kann. Sie rückvollzieht diesen Vorgang und das Wasser entfernt sich aus dem Magen zurück ins Glas, ohne daß sich Magensaftmoleküle mit den Wassermolekülen verbinden. Diesen Vorgang wiederholt sie mehrere Male, bis sie außer Atem ist. Wie gesagt. Die Lungenbläschen öffnen sich, um die höher benötigte Menge an Sauerstoff für die erhöhte Energieleistung aufnehmen zu können.

Ich traf Lia zum ersten Mal auf der örtlichen Kirmes, wo sie sich den Spaß erlaubte, Gewinnern beim Luftgewehrschießen die komischen Teddybären, Elefanten oder Giraffen nach dem Überreichen durch den Schießbudenbesitzer aus der Hand zu teleportieren. Sie versteckte sich in einer Ecke, konzentrierte sich, und schon lagen diese Stoffpuppen an altem Platz in der Bude. Sie hatte eine lukrative, vertragliche Vereinbarung mit dem Schießbudenbesitzer abgeschlossen. Wie sich später herausstellte. Hinter der Bude ließ sie sich die Scheine in bar auf die Hand auszahlen.

Lia, das hatte ich noch nicht erwähnt, war zu ihrer Kirmeszeit 15 Jahre alt. Ihre Eltern waren geschiedene Lehrer, sie wohnte im 11. Arrondissement de Popincourt, im 41. Quartier de la Folie-Méricourt, sie besuchte das Collège et Lycée Voltaire. Sie teleportierte einmal einen Stift in den Hintern des Französischlehrers, weil er ihr eine schlechte Note gab. Der schrak auf, wollte sich aber nichts anmerken lassen und verließ steif das Klassenzimmer zur Schultoilette.

Ich trug damals mein weißes Sakko mit Travolta-Kragen, weißerer Bundhose und grauen Gürteltier-Stiefeletten. Und hatte dort meine Geschäfte zu erledigen. Als sie wieder mal eines dieser Stofftiere zurückteleportierte trat ich in der Ecke an sie heran, wurde grob, aber merkte, als ich sie am Arm festhielt, daß sie sich zu wehren wußte mit Hilfe ihrer Teleportationsgabe, so daß ich zu smarteren Mitteln greifen mußte. Ich überredete sie zu einer Wette. Wenn ich es schaffte, auch etwas zu teleportieren, so würde sie fortan für mich arbeiten. Widerwillig, wie es nur 15jährige sein können, die etwas wollen und wiederum etwas nicht wollen, ging sie darauf ein.

Ich holte eine Zigarette aus meiner silbernen Schatulle, zündete sie an und teleportierte den Rauch mittels kräftigen Zugs vom Mund-Ende der Zigarette hinein zur Lunge. Und ich muß sagen: Es tat gut. Erhöhter Energiebedarf, Sauerstoffschuld, Lungenbläschen hin oder her. Ich teleportierte. Sie verlor ihre Wette und arbeite von nun an für mich. Wir ließen die Kirmeszeit hinter uns, und ich postierte sie fortan neben den größten Banken Paris. Jahrelang ging das so. Und was hatten wir für einen Spaß!

Heute ist Lia siebenundzwanzig und eine wohlhabende Frau, die eine feine Wohnung im 1. Arrondissement bezogen hat mit Blick auf den Eiffel-Turm.

Übrigens den Trick mit der Zigarette hat sie bis heute nicht durchschaut:

Sie ist Nichtraucherin.

Ich dagegen hatte nicht so viel Glück. Ich starb an einem kalten Januartag des Jahres 1982 an einer verschleppten Lungenentzündung. Die Bläschen. Die Sauerstoffschuld. Wahrscheinlich der Travolta-Kragen.

Es gibt Schlimmeres.

Wenigstens starb ich nicht an Krebs.

Lia teleportierte meine silberne Zigarettenschatulle in mein Grab. Vielleicht ahnte sie doch etwas.






*





Freitag, 18. Juli 2014

Selbst bewußt


Man sagt:
Wenn ein Kind besonders innig geliebt wird... und dieses Kind stirbt, weil Angst es in den Tod treibt, Angst, nur diese eine Liebe zu verlieren, doch aus Liebe lieber von Erden geht – dann wird ein Engel geboren.
Wird für jeden neuen Engel ein Licht im Himmel mehr angezündet.
Wird ein neuer Stern geboren...

Selbst bewußt

„...Jungfernstieg. Vorsicht... beim Aussteigen...“
Da war es wieder. Das Geräusch.
Dieses Ffft. Wenn die automatischen Türen zugehen. Der Ruck weckte mich auf. Dieser Mann sah mich an. Noch benommen. Ein müder Blick, strenge Haare. Eine Warze auf der Stirn. Fliege. Sie kratzte an meinem Hals. Er lockerte die Bänder. Mit schmalen Fingern. Dann merkte ich, daß ich mich in der Fensterscheibe spiegelte. Ich unterband das Binden. Ich mied meinen Blick.

Noch fahrig. Die Finger fühlten den Furchen im Gesicht nach, den Falten. Lebensnarben. Zum Glück. Die Warze war nur Illusion: Ein Tropfen. Ein Fleck auf der Scheibe.
Etwas Blässe schadet nicht. Sagte ich.
Sprach es nicht. Sprach es nur zu mir, damit es keiner hörte. Sah mich dennoch um. Rote Bänke, Leere. Die U-Bahn gähnte sich in ein schwarzes Loch.

„...Vorsicht... beim Aussteigen...“
Ffft. War wieder eingenickt. Der Ruck weckte mich auf. Dieser Mann sah mich an. Lange an. Als wenn ich einen roten Punkt auf der Nasenspitze hätte.
„Der Rote-Nase-Trick.“, sagte ich.
Ich erschrak vor meiner eigenen Stimme. Zuckte noch mal zusammen. Sah mich um. Rote Bänke. Eine Dame mit Hut saß mir gegenüber. Unsere Beine berührten sich. Sie blätterte in einem Buch. Ihre Augen in versteckten Zeilen versunken. Ich starrte nur ihren dämlichen Hut an. Ich spürte meinen Blick. Dieser Mann im Fenster beobachte mich. Aus den Augenwinkeln. Daß ich ihn beobachtete, merkte er noch nicht. Aus den Augenwinkeln. Ich tat so, als merkte ich es nicht. Ich nestelte an meiner Fliege. Er nestelte nicht. Starrte nur auf den Hut der Dame. Dich krieg’ ich! Schnell warf ich meinen Kopf herum. Zu langsam – er tat, als wäre nichts gewesen. Tat wie ich. Schmale Finger tändelten an meiner Fliege. Die Enge am Hals verband unsere Blicke.

Ich sah den roten Fleck. Auf meiner Nase. Seiner Nase. Er spiegelte sich in der Scheibe. Kam näher ran. Er kam mir nah. Ich streckte ihm die Zunge heraus. Bäh! Er mir seine. Auch bäh! Dann – ich schnell und wieder in den Mund. Er tat das gleiche. Dann so schnell ich konnte! Tat er mir gleich! Die Dame mit Hut stand jetzt auf. Sie schüttelte mit dem Kopf und setzte sich weg. Weit weg in eine andere Reihe.
„Das hast Du davon.“, sagte ich.
Sagte ich ihm. Sagte er mir. Sagte er. Der Mann im Fenster. In dem ich mich spiegelte. Oder er sich in mir?

Selbst bewußt.

Nochmal zeigte ich ihm die Zunge. Der blöde Punkt auf meiner Nase! Sagte ich. Ich leckte meinen Zeigefinger feucht und wischte ihn weg. Er blieb.
„Wegen Dir komm’ ich noch zu spät!“
Ich wischte nochmal drüber. Ich prüfte mein Gegenüber. Er ging nicht weg. Blödsinn. Kleinen Kindern malte man die Nasen rot an und setzte sie vor einen Spiegel. Faßten sie sich an die eigene Nase, erzählte sie mir, waren sie sich ihres Selbst schon bewußt. Hunde kläfften nur die Spiegel an. Der blöde Punkt ging nicht weg. Ich rubbelte an der Nase. Ein Lachen von der anderen Seite.

Ein kleiner Junge saß mir gegenüber. Er rutschte auf der Bank vor und zurück und hielt einen viel zu großen Fußball in schmutzigen Händen. Dunkle Haare, braune Augen. Kurze Hosen, aufgescheuerte Knie. Ein Lächeln. Er ließ den Ball zwischen den Fingern rollen. Auch der Mann im Fenster sah ihm zu. Wieder merkte er nicht, daß ich ihn aus den Augenwinkeln beobachtete. Er starrte nur den Fußball an. Sein Blick war traurig.
Na, warte! Ich schnellte herum und... folgte seinen Blicken. Er meinen. Ahmte alle meine Bewegungen nach. Warf den Kopf nach links. Er auch. Nach rechts. Er auch. Nach oben, nach unten, streckte ihm die Zunge heraus! Er mir leider auch!
Dann sprang der Junge mit dem Fußball auf, lachte ein Kinderlachen zum Abschied und lief zur Tür. Der Kleine hielt sich mit einer Hand an einer Stange fest. Komisch sah er in seinen kurzen Hosen aus.

Rote Bänke. Noch mal gähnte sich die Bahn in eine schwarze Leere. Erst dieser, dann der nächste Halt. „Sie wartet schon.“
Der Junge schwang an seiner Stange. Hin und her. Der Wagen rauschte in einen Tunnel. Die Schwellen sangen. Der Mann im Spiegel pfiff mir ins Ohr. Eingenickt. Kalte Stirn. Strenge Haare an der Scheibe plattgedrückt. Sah in der Scheibe den Boden. Der Fußball rollte neben meinen Beinen und klopfte gegen beide Bänke. Der Mann zwinkerte mir zu. Ganz sicher tat er das. Ich setzte mich gerade. Dann blickte er auf seine Nase. Auf seine und gab mir Zeichen. Er nickte. Und meinte den roten Punkt auf seiner, unserer Nasenspitze. Endlich wußte ich, was er sagen wollte. Ich nahm meinen Finger und bewegte ihn auf die Nase zu, bis er das Fenster mit einem Tuck berührte. Ganz einfach wischte ich den Punkt von der feuchten Scheibe ab. Bis er nicht mehr zu sehen war. Der Mann im Spiegel bedankte sich, stand auf, zwinkerte mir nochmals zu, ging nicht ohne den Fußball zu vergessen, er hob ihn auf – ich folgte seinem Gang durch die Reihen der anderen Fenster – und verabschiedete sich, den Ball unterm Arm, mit einem Pfeifen auf schmalen Lippen.

„...Nächster Halt: Jungfernstieg... Vorsicht... beim Aussteigen...“
Da war es wieder. Da war wieder dieses Geräusch. Ffft. Und wieder. Ffft. Und wieder. Ffft. Dieses Geräusch, das die automatischen Türen machten, wenn sie sich öffneten. Und wieder: Ffft. Der Ruck weckte mich. Ich stand auf, suchte die Tür und trat hindurch. Weckte mich auf...
Ich lag auf dem Boden. Meine Fliege war entbunden, mein Hemd aufgerissen. Ein Fußball klemmte unterm Arm. Meine Brust schmerzte. Es roch nach verbrannten Haaren. Sanitäter. Mein Herz schlug ruhig. Schlug. Wieder. Elektroschocks. Meine Nase blutete.

Ich schließe mein Hemd und stopfe es in die Hose, während ich die letzten Stufen hoch zur Straße nehme. Lärm der Großstadt begrüßt mich unbeteiligt. Die Luft ist frisch. Ich wechsele ans Ufer. Ich setze mich auf kalte Steine und sehe mich um. Dem Wasser zu. Beim Glitzern. Wind treibt von der Seite.
Hier bleibe ich sitzen. Und sehe Dir zu. Warte – es ist Mittag – bis Dein Stern am Himmel leuchtet.

„...konnten die Retter bergen. Sieben Schwerverletzte wurden in die umliegenden Krankenhäuser eingeliefert. Eine Frau schwebt noch in Lebensgefahr. Für ein Kind kam... leider jede Hilfe zu spät. Es verstarb noch an der Unglücksstelle. Das Wetter...“, plärrte das Radio in die einsame Küche hinein. Daneben brühte sich Kaffee in eine leere Kanne...

Und sehe Dir zu.
Selbst bewußt.



*