"Hallo" ist das Pfandleihhaus des "Aufwiedersehn"...



Miniaturen des Absurden

Betrete mit der Miene der Abfälligkeit und erhalte Einlaß

Vom Jardin du Luxembourg zum Panthéon brauchte es schon mehr als platonisches Innehalten, um sich Gehör für Gesehenes zu verschaffen. Da...

Samstag, 1. August 2015

Freier Tag


Ein paar Fakten über mich

Ach?

Sie wollen keine Fakten?

Gut.

Dann begleiten Sie mich doch einfach durch einen Tag in meinem Leben. Kein beliebiger ist es: Es ist mein freier. Sagen wir, es ist Samstag. Seien Sie bereit, wir stehen sehr zeitig auf…

Ich begrüße meinen freien Tag mit einem Lächeln, kein allzu gewagtes, nur leise angedeutet. Ich binde mir die Fliege um – heute die mal mit den Punkten –, prüfe das Knopfloch im Kragen und fühle die Leere (komme später darauf zurück). Ich nehme meinen Regenschirm – kann immer regnen – auf den Arm: Hört! Hört! Nicht albern sein! Lege ihn mit dem Griff in die Beuge, öffne die Haustüre (war nicht in Sorge, unverschlossen) und trete heraus in Stille. Sonnenschein begrüßt mich mit seinen Fäden, er wärmt mir die Wangen, halte trotzdem die Hand zum Himmel prüfend (kann immer regnen), atme tiefer als andere die frische Luft ein und mache den ersten Schritt, bevor ich ihn denke. Ich grüße die Nachbarn von oben sehr herzlich, die von nebenan nur höflich, schreite weiter voran zur nächsten Ecke. Dort pflücke ich mir eine Blüte aus der Rosenhecke, rieche ihre Düfte und stecke sie (daher die Leere!) ins Kragenloch.

Ein kleiner Marsch wartet nun auf meine gefestigten Waden, die Rose ist übrigens rot, nehme weiterhin das Treiben gelassen, die Menschen – die Straße ist gepflastert – wie die Gesichter, und komme munter zum Zeitungsladen. Dort wähle ich:

Eine verträgliche Lektüre, nichts Beschwerliches, nichts Leichtes, werfe einen Blick auf die Schlagzeile, rolle – zuerst mit den Augen – die Zeitung in Form mit gepflegten, nicht zu eitlen Händen, klemme sie unter den Arm, wo der Regenschirm in der Beuge ist – Hört! Hört! Nicht albern sein! –, bezahle kommentarlos, aber wortreich und werfe (kann immer regnen) meinen Blick prüfend auf die Wolken: Gut, am ansonsten blauen Himmel regt sich keine Wolke.

Weiter.

Auf dem Weg zu meinem Ziel (wird noch nicht verraten) steuere ich wie jeden Tag an Schaufensterläden vorbei, halte an dem mit gelbem Spielzeug (meiner ersten Bestimmung zur Folge bin ich Mann), mache dann Platz für einen Jungen und seine triefende Nase, halte danach an dem mit Männerhüten, schaue auf meine Taschenuhr, ein Blick – auf den Turm, das Geläut (schon sind die Zeiger eingestellt) – bestellt mir das Lächeln:

Das erste an diesem Tage, das mir entgegengebracht wird (es spiegelt sich in der Schaufensterscheibe – es ist meines!) und gleich darauf das zweite:

Die Vorhänge werden beiseite geschoben, Hüte, Hände, die Neues daneben stellen, das Lächeln des Mädchens des Hutwarengeschäftes trifft mich unvorbereitet, aber wie jeden freien Tag entwaffnend. Ich grüße (ohne Hut) mit einem Nicken und ernster Miene stattdessen prüfend – und folge meinen Schritten weg von ihr.

Zurück zu meinem Ziel.

Ich verlasse die Geräusche meiner Stadt und betrete nun den hiesigen Park, Sandknautschen ersetzt das Pflastertippeln, Vogellaute das Laute, vor mir nur mehr Wiesen. Bevor ich eine bestimmte betrete, ziehe ich meine Schuhe aus und lasse sie am Wegesrand liegen, öffne die Bänder meiner Fliege, stecke den Regenschirm in den Boden (was ich liebe, wenn ich es langsam mache, so daß man dabei das Knistern der Grasbüschel hört, das Knicken ihrer Halme) und begebe mich auf deren Mitte. Ich klopfe die Zeitung aus ihrer Starre und breite sie aus:

Als Liege.

Lege mich darauf, nehme die Arme als Kissen – bin müde bloß am Tage – und schließe meine Augen, schlafe.

Träume…


Und morgen?

Dann ist Sonntag. Dann habe ich einen freien Tag.

Wollen Sie mich begleiten?


Obacht! Wir stehen sehr zeitig auf.











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Freitag, 24. Juli 2015

Weltmeisterschaft


Nahm man mit für eine Weile, am Scheibenwischer, im Fahrtwind gegen die Richtung ihrer Auslegung flatternde Flügel, suchte so die Heuschrecke eine Gelegenheit im Fortkommen von der Wiese. Störte diese wohl, weil eine andere wieder einmal Futter versprach, und war es auch nicht wichtig. Nahm sie nur mit für eine Weile, bis sie selber störte. Betätigte Marion den Wischerhebel, und müde an der Scheibe eines Sommers und der Hitze klebend, weigerten sich die Gummilippen nur, ohne Regen. Dann doch in schmatzender Bewegung, hielt sich die Schrecke fester so nur fest. Wisch-Wasch-Sprühnebel. Pollenschlieren, kaum Sicht mehr durch die Scheibe, dann flog sie doch noch weg. Warum, blieb ihr Geheimnis. Sah Marion ihr durch die Fahrerscheibe nach, ein Feld mit grünem Mais, soll es ihr dort wohlergehen, und lächelte Marion ihr nach und drehte noch den Kopf und noch etwas mehr abgelenkt, verzog sie durch das Spiel des Lenkrades die Spur, nach links, erschrak sich wieder ins Hier. Schlieren auf der Scheibe, Unrat von den Schnakenleibern, noch mal Wisch-Wasch im Sommer dieser Hitze, noch mehr von dieser Unsicht auf der Scheibe, noch etwas Spiel im Lenkrad, noch mal das Verlassen ihrer Spur, knallte Marion in einen Aufprall auf der Gegenseite.

Und war es aus mit ihr.

Und weil sie nichts mehr merkte und nun nur dunkel war und der Airbag geplatzt war wie der Kaugummi einer Göre, die sich in das Gesicht eines Jungen an der Mauer neben dem Spielplatz eines Schulhofes Stunden nach dem Unterrichtsende in die Möglichkeit einer Monatsliebe kaute, und sich Marion nun so unsicher wie der Junge in den Ruch des Erdbeerduftes des Kaugummimädchens erwägte, ob sie sich der Leichtigkeit mit der Affäre hingeben sollte oder doch der Schwere des Lebens, wählte der Moment nach einer Wahl, die zwei Sekunden, in denen man sich für alles Nachkommende entschied, schon für sie, sich bewußt zu werden und wieder aufzuwachen, noch benommen.

Suchte sie ihre Brille. War auch diese wie ihr Gesicht verbogen, doch alles andere noch gerade. Die Brust – schmerzte zwar wegen dem Gurt, der auf ihrem Herz lastete –, der Bauch, die Beine. Versuchte die Tür zu öffnen, war verklemmt, doch Kräfte enthemmten sich, dem Auto zu entsteigen, in dem sie sich all die Jahre so sicher und geborgen verbunden gefühlt hatte, nachdem sie aus der Morgenswohnung trat und die Augenblicke genoß, mit dem Auto irgendetwas zu starten, irgendetwas, genau diesen einen mochte, zwischen Türe schließen und Schlüssel ins Zündschloß stecken, genau diese fünf Sekunden, und waren diese wohl das Gute an ihrem Leben, und fiel aus diesem Augenblick nun heraus auf den grauen Splittasphalt.

Und war es aus mit ihr.

Verlor sie wieder. Und kam das Dunkle wieder. Und wußte nicht, wie lange sie schon so lag, als sie dann zum zweiten Mal erwachte. Hatte sie den Boden umarmt. Die Lippen küßten den groben Belag, schmeckte Stein in ihr und spuckte. Und kämmte sich mit den Fingern die Haare, und warum, das blieb nicht klar. Liegestützte sich auf. Und warum sich die Hose abklopfen, wenn der Schmutz des Aufpralls noch in ihr steckte, noch weniger. Wackelte sie nun vor dem Straßenschild. Ein Dreieck mit rotem Rand und einem schwarzen Ausrufezeichen. Dahinter lag ein Feld. Wie weit sich der grüne Mais erstreckte, dachte sie wohl, und ob die Schrecke nun zufrieden mit ihrem Futter war. Und langsam sah sie sich in der Stille nach Geräuschen um. Und kam das Feld allmählich zu Leben. Grillen hier und da, Surren und das Flimmern all der kleinen Wesen. Und grün war es wie sie grün noch nie in ihrem Leben sah. Langsam schob sich die Aussicht weiter. Nach rechts, noch ein wenig, noch grüner, und dann das andere Auto. Tot und zerschlagen lag es weiß im Graben.

Und war es aus mit ihr.

Humpelte Marion sich heran. Und auch wenn es hieß, nie wieder solch ein Grün in ihrem Leben zu sehen, wankte sie sich näher hin zu diesem Weiß. Aufgerissene Front des Wagens, wie wenn jemand mit Wut des Backens nur für sich alleine in einen Brotteig schlug, zersprungene Windschutzscheibe, die ihr Muster in den Splittern das der Milchstraße stahl. Kam dieser Wagen immer näher. Noch ein wenig. Ein wenig mehr. Und stand Marion nun an seiner Seite und sah sie zum ersten Mal in ihrem Leben einen Toten. Lag er auf dem Kissen des erschlafften Airbags und schlief den Schlaf der Tausend Morgen. Ein Fußballwimpel am Innenspiegel. Flatterte noch hin und her. Dann weniger. Dann starr. Schwarz-rot-golden. 1990. Der Pokal.


Riß die Arme hoch. Und hatte Marion die Weltmeisterschaft gewonnen. Jubel.













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