"Hallo" ist das Pfandleihhaus des "Aufwiedersehn"...



Miniaturen des Absurden

Betrete mit der Miene der Abfälligkeit und erhalte Einlaß

Vom Jardin du Luxembourg zum Panthéon brauchte es schon mehr als platonisches Innehalten, um sich Gehör für Gesehenes zu verschaffen. Da...

Montag, 9. Oktober 2017

Da war Leben


Im Auto. Lichter kratzten die Windschutzscheibe. Wahllos jaulten die Wischer gegen Tropfen an. Mutter saß am dunklen Steuer und fuhr nach Hause. Mißbrauchte Augen sahen zu Jenni hinüber.
„Warum tust du mir das an?“
Jenni starrte durch die beschlagene Seitenscheibe. Hauchte sie trübe. Mit leerem Blick folgte sie den Reklamelichtern. Wußte nicht, was in ihr vor sich ging. Plötzlich heulte der Motor auf! Im Leerlauf verhakte sich der Schaltknüppel unter Gas. Mutter wechselte den Gang.

„Gefühle sind was für Menschen. Was bist du für ein Mensch.“


*

Die Pistole rutschte über den Boden. Ein unangenehmes Schaben, das an Fingernagelkratzen auf rauhem Holz erinnerte. Und kam vor Jenni zum Liegen. Vor dem Tisch. Sie krabbelte heraus und stand auf. Ruhig, wie man es von ihr erwartete, nahm sie die Waffe in die Hand – sie war noch warm von allen Streitereien –, ließ Mutter liegen und humpelte auf Vater zu. Er lag auf dem Rücken. Ein ungewohnter Anblick. Er hielt sich den Bauch vor Schmerzen. Er röchelte. Der schöne Sommeranzug. Er glänzte rot. Vater sah ihr zu. Mit glasiger Neugier. Wie sie ihm langsam das Hemd aufknöpfte. „Ah…“, stöhnte er auf, weil die Luft das Blut kühler machte. Dann legte Jenni den Lauf der Dinge auf die Brust, fühlte damit das Herz, wie es sich hob und senkte, und drückte ab. Ein dumpfer Schlag, der ihr die Pistole aus der Hand schlug und taube Gefühle mit sich brachte.

„Kann nicht vor diesem Leben weglaufen, weil mein Knöchel schmerzt und ich Luft für anderes brauche.“

Sie öffnete Mutter den Mund, legte ihre Lippen auf diese kühlen. Und blies. Kurzatmig. In der Angst, die Luft könnte entweichen. Und blies. Und blies. Als blies sie einen Luftballon auf.

„Das Leben ist wie ein Luftballon.“, stieß sie mit verbrauchtem Atem aus. „Kaum beginnt er zu steigen,“, wühlte sie ihre Haare aus dem Gesicht. „hat man Angst, er könne platzen.“


*

Der rote Luftballon hing unter der Kuppel im Treppenhaus und hielt endlich still. Ich stand auf dem Podest und streckte die Hand aus. Gelächter von der Halle hackte sich ans Ohr. Er blieb von meinem dreizehnten Geburtstag über. Weil ich ihn nicht erreichte, kletterte ich auf das Geländer. Ich wackelte über dem Abgrund, aber stand. Ich berührte ihn mit den Fingerspitzen. Als er – platzte! Ein Knall, lauter als eine Brötchentüte …brachte mich aus dem Gleichgewicht. Unter mir der Abgrund. Im selben Moment ging die Wohnungstür auf. Vater hielt mich im letzten Moment am Zipfel meiner Jacke. Er hielt meinen Koffer für das Heim in der anderen. Er zog mich von der Wagnis in die sicheren Arme der Versuchung. Als ob ich eine Wahl gehabt hätte. Schulterte mir den Cassetten-Rekorder. Zerrte er mich die Stufen runter. Zu diesen Stimmen der Eingangshalle. Wie gerne hätte ich dieses Lied abgespielt. Kam aber an die Tasten nicht ran. So spielte ich es mir selbst vor:

Queen & David Bowie – Under Pressure…


„…mit dem Idealismus ist es wie mit einer intellektuellen Frau: Man muß ihn sich schön saufen. Ha, ha, ha!“

Lachen. Im Takt der Musik, der Stufen. Vaters Griff am Arm tat mir weh. Ich ließ es geschehen. Wie schön seine Stimme war. Diese Stimme. Wie schön, schön, schön sie war.

Begleitete mich auf dem Weg nach unten. Würde nie wieder zurückkehren. Wie vertraut sie war. Im Takt der Stufen. Wieviele es waren. Wie wenige es waren.

Herr Adamas sprach mit dem Spanier, der sich noch den Bauch hielt. Einwandweißes Hemd – wie seine Lache – mit feinen, dunklen Linien, die sich irgendwo kreuzten. Sah es zwischen den Geländern aufblitzen.
„Aus…?“
„Santiago.“
„Ah, ja… de Compostela. Ein Kreuzfahrer.“
„Nun, ja. Der Trubel…“
„…und nun soweit der Heimat. Ja, ja. Die Ferne.“, unterbrach ihn Adamas.

„Als ich jung war, da zog es mich auch in die Ferne. Und sah mir alles an. Fremde Sterne. Unter einem Sommerhimmel in Südfrankreich. Nein, nicht Spanien. Soweit kam ich nie. Da kommt ja der Weihnachtsmann her. Glauben nur die Holländer.“ Er zwinkerte dem Spanier  zu. Er machte ein paar Schritte, wischte. Der steckte sich das verrutschte Hemd in den Bund.

„Wie schön er war… aah… Der Mistral fern und sah. Sah und zählte meine Schritte, die ich mit diesem Knüppel auf und abwärts schlief. Schlaf war kostbar. Entlang der Hauswand dieser Farm mit diesen groben Steinen, die so zum Greifen waren, aber es nicht tat. Und folgte diesen Sternen. Den Kopf erhoben. Auf meiner Wache. Der kleine Wagen, der große Bär. Grillen, Zikaden. Wärme. Laue Wärme, die so angenehm auf der Haut war, wie nur in einem Sommer, wenn man jung ist, der Mistral fern und doch so nah an den Sternen. Was ich so sah.“ Der Spanier seufzte.

„Patagonien…“ Er sah den Feuchtwedel an. Als wäre es das Ende dieser Erde. Adamas Blick verweilte oben.
„Einmal… Einmal sah ich noch etwas. Ein Bild. Ein Bild von einer Frau. Nein, nicht Patagonien. Nahe Avignon. Das mich bis heute mehr verfolgt. Als alle Sterne zusammen. Zeigte eine junge Frau. Schön und reich, das sah man ihrer Kleidung an. Und wegen diesem Collier vielleicht, das wie Leben im Blitz des Kameraklicks funkelte. Vielleicht ein Modell? Oder Imitat war. Sah mich an. Dieser Mund weit aufgespreizt. Durch eine Kiefersperre. Rot. Alle Zähne herausgerissen. Alles Leben aus offenen Augen. Verfolgt mich bis heute ihr Blick, der traurig von der Folter kündete. Der Ohnmacht. Meiner Ohnmacht, dem Leid, dieses ungeschehen zu machen. Wegzuschauen, als ich auf meiner Pritsche lag. Sah ich diese Frau als …Poster, würden Sie sagen, als Bild auf dieser Tür kleben, die einzige, durch die man diesen Raum verlassen mußte. Jeden Tag. Und im Bett darauf starren mußte. Und das Imitat selbst dann noch leuchtete, wenn das Licht gelöscht wurde. Im Mannschaftszimmer. Meiner Heimat. Fern. Legio patria nostra. Und verfolgt mich bis heute. Verfolgt mich das Leid. Dieser Frau. Alles andere nicht. Seltsam, nicht? War nur ein Bild. Ein Engländer hatte es aufgehangen. Der Humor der Engländer. Fast wirkte sie echt.“

Der Spanier sagte kein Wort mehr heute. Der Hausmeister senkte seinen Kopf und besah diesen Boden. Das Schachbrettmuter. Was er schon gewischt hatte, die Feuchtigkeit verhauchte. Was auch immer er darin sah, er folgte einem Muster, das nicht das des Bodens war. Auch nicht der Kreuzlinien des Hemdes entsprach. Und wischte. Bis am Ende alles sauber war. Und nicht mal der Boden wußte, warum er sauber wurde. Der Spanier brachte seine schweren Schritte nach oben. Wir rempelten ihn an. Warteten. Ganz leise öffnete er die Wohnungstür, wahrscheinlich freute er sich über den Geruch der Familie, ganz leise schwang die Türe wieder zu. Bis das Klicken verstummte und die Halle leer wie vorher war.

Und Jenni? Die rannte gerade aus dem Keller nach oben. Man hörte ganz deutlich ihre Schritte. Kinderklappernde Sohlen, ein Schwung! Schon stand sie in der Halle. Heute hatte sie Geburtstag. Zehn mal Mai. Plötzlich wurde sie still. So, wie wenn man es ihr befahl. Sie versuchte nur die schwarzen Quadrate zu betreten. Vielleicht, weil es so auch stiller sei. Stiller als auf die weißen zu treten. Der Hausmeister wischte den Boden. Dreckschneefarbene Haar. Mit dem schlängelnden Rücken zu ihr. Er nuschelte vor sich hin. Er bemerkte sie nicht. Weiter hinten. In den Ecken, wo das Licht spärlicher floß und auch das Wischwasser schon lauer. „In der Sequenz des Lebens…“ Sprach er mit sich selbst. Mit seinem Ebenbild, das er als Schatten an die marmorne Wand warf. Während Jenni verbissen diese schwarzen Quadrate suchte.
„…in der Arroganz des Lebens. Seid ihr so mit eurer Belanglosigkeit beschäftigt.“ Wischte unwirsch über den Boden. „…so mit euren Berührungen beschäftigt, mit eurem Fingerspiel, daß mich eurer Anblick ankotzt…“ Wollte zur Treppe. Hoffentlich sieht er sie nicht. „…eure Unsicherheit, mit der ihr eure Täuschungen tarnt, euer Ausweichen, wenn man nach euch langt, mit eigenen Fingern. Für Träumer, für Wahnsinnige. Bin ich das Wort für Illusion.“ Schlich sich zum Aufgang. Legte die Hand auf das Geländer. Weil es feucht war, quietschte sie dabei. „Ich, der Legionär war in einer fremden Vision…“, fuhr der Hausmeister herum. „…Gedankenlepra, bin der Grund für Illusion!“ Jenni zuckte zusammen. Adamas sah sie mürrisch an. Sie erstarrte auf der ersten Stufe.
„Heimat. Im Kerker eines restlich verbliebenen kärglichen Verstandes. Im Kerker eines restlichen Verstandes. Im Kerker des Verstandes. Seid ihr so mit eurer eigenen Belanglosigkeit beschäftigt!“ Er spuckte auf den Boden. Vor ihr aus. Wischte es wieder weg. Seine Spuren.„Bin ich der Grund für Illusion. Bin der Grund.“

Herzrasendgedankenblasend außer Atem nach Luft ringend und um Fassung stürmte Jenni die Treppen hoch. Bis zur Festung. Der Kanzel. Trockener Schmerz im Mund. Dort oben. Atemnot. Stütze die Arme auf die Knie. Sah dann hoch, weil ein Schatten mit ihren Füßen spielte. Unter der Kuppel tanzte ein roter Luftballon. Er muß entwischt sein, als er für Jennis Geburtstagsfeier aufgeblasen wurde.


*


„Ich bin Boric. Mir wächst ein Strohhalm aus dem Kopf. Ich weiß auch nicht. Zuerst war da nur das Korn. Dann fing er an zu wachsen. Muß wohl an der Feuchtigkeit im Keller liegen. Seitdem wohnt in meinem Ohr auch ein Mann. Der ist natürlich ganz klein. Sonst würde er ja nicht in meinem Ohr wohnen. Er ist ein Horcher, sagt er. Der Horcher von ganz oben. Aber jetzt sind wir ja draußen. Stinkt nur wie unten. Pferdedung.“
„Und Aufregung.“ Wilodan schob Boric vom Astloch des Bretterverschlages weg, durch das sie sich den Blick in den Hof teilten.
„Und Mundfäule.“
„Ach, was weißt du schon von Essen, blöder Narr.“
„Eine ganze Menge. Jedes Jahr zum Mai…“
„Kinderkrätze. Ich habe schon mal ein richtiges Gelage mitgemacht. Damals. Noch mit dem alten Buldric. Das war ein Mahl. Mit Weibern und allen Soßen. Ja… Er machte einen drauf. In Farn. Von dem Geld, daß er für… was bekam. Und er soviel fraß, daß der Wirt die Kotze wieder aufklaubte und den anderen Gästen in die Schüsseln klatschte. Warm ja noch warm. Die Würmer sollen sich an ihm laben. Mistkerl.“
„Ruhe.“ Lynx ging dazwischen. „Es tut sich was.“

Den Hof von Mor mußte man so verstehen: Als Ort der Möglichkeiten. Wollte man mehr als bloßes Treiben unterstellen. Die sich in ihren Versammlungen – den Aufwartungen – nebeneinander stellten und auf den Füßen herumtrampelten. Mehr noch, da auch die Pferde ihre nutzten. Und ihre Kräfte, sich in der trägen Menge gegeneinander zu behaupten. Die Zügel stramm, die Rücken aufbegehrend, die Mienen der Reiter fester zurrend, die Knechte herumgeschubst, die Mägde mit Senkbleifäusten an den Rand. Immer nur am Rande. Weil das Fühlen einer Frau in Mor ungefähr so viel galt wie das dem unter Schweinen. Waren längst abgeschlachtet. Oder in einer Kuhle im Wald versenkt. An den Rand gedrängt. Am Rande auch… weil vielleicht ein Liebster unter dem Hemd der Rüstung schwitzte, während er die Fäuste fester um die Zügel ballte, doch sorgenvolle Augen heimlich die Aufruhr nutzten, dort oben auf dem Pferderücken, stille Küsse in den Gestank zu drücken, bis zu den Lippenblicken am Rande der Ställe, wo sie sich an der Angst, dieser furchtbaren Angst vor Verlust verbissen, bis zum Lippenbluten. Sah man heute viele Mägde mit geschundenen Lippen. Sah man viele Männerlippen spröde so und aufgebissen. Weil diese Angst auch die stärksten Kämpen ergriff. Und diese Abwiegelungen und Verniedlichungen und Beleidigungen, die sie sich für ihre Gegner draußen vor den Toren ausdachten und sich so die Zeit mit Spott überbrückten, keinen Lederwams dicker machten. Geschweige denn wärmer. Und sei er noch so glänzend eingeölt. Die Augenblicke spuckten sich ins Gegenüber. Das Lachen gewollt. Nur von dem Lippenbluten abzulenken. Vor dieser Angst. Der am Rande. Vor den Toren. Ebenso verschlossen.

Mußte man sich so vorstellen: Als Ort der Erwartungen! Den es zu queren galt. Aufrecht. Wie es nur den Angesehenen vorbehalten war. Die Köpfe nieder gen Boden. Weil angesehen nicht anzusehen war, wollte man den Hof nicht mit seinen Gülleblicken zuschütten. Bei stolzen Stapfen. Unbeholfen. Falsches Schuhwerk. War der Ort der Enthaltung! Sich. Eines Standpunktes zu enthalten. Seines Standes. Stehenbleiben – wurde durch strenges Ermahnen bestraft, durch drei Hiebe auf die flache Hand oder Hinterkopf – je nach Denkort und Denkart – und Spuckmütze: Ein grober Filzhut, zwei Ellen hoch, mit Flicken ausgebessert, weil es viele Ermahnungen und Denkarten im Jahre gab, und einen Krone oben drauf aus Turteltaubennest, in denen Läuselarven sich innen an den verschiedenen Haaren labten, die zu Besuch kamen, am späten Nachmittag mehr und am frühen Morgen als am Rest des Tages, und den man durch das Gesinde über den Hofe trug, bei Hohn und aller Plackerei, sich bei denen dennoch eine Pfütze Aufstand aus der Kehle spülte und die Spickermütze bespuckte und verlachte und verspottete, so sie sich den Weg durch den Ort der Verachtung bahnte. Wohl um das Wissen nicht kümmernd, da daß man selbst der nächste war, der da den Rotz über sich brachte, wenn man seinen Standpunk vertrat, eben, auf der Stelle, und nicht im Laufe verharrte. War der Ort der Bestallung. Für das Vieh gedacht, die Pferde. Der des Riemenschneiderns. Zum Ausbessern der Tragelasten. War der Ort der Aufmunterung. Des Augenzwinkerns, Flunkerns. Und der besseren Tage.

Aber noch war Zeit. Noch ein wenig. Kam es auf anderer Stelle darauf an. Etwas tiefer. Etwas durch die Beine der Pferde. Etwas dunkler. Vorbei am Troge. Nein, nicht durch die Pforte. Rechts davon. Nicht durch die Luke. Darunter. Dort. Das Astloch in der Planke. Über dem Boden. Gleich daneben ein zweites. Da war Leben.

„Was geht da vor?“ Der Aufruhr der Erwartung wich der Stille des Versammelns. Der Kleine zupfte an Lynx Hemd. „Gleich…“ Sechs gebannte Augen teilten sich zwei Gucklöcher. Er wandte sich Wilodan zu. „Warte, Kleiner…“
„Warum ist es so still? Kommt der Teufel?“ Boric lehnte mit dem Rücken an der Wand und ruhte sich aus. Ließ aber Wilodans Gesicht nicht aus den Augen. Er hielt den Bauch. Schwarzes Blut an den Händen lockte Fliegen. Ließ sich ablenken. Verfolgte ihren Flug und zeichnete ihn mit dem Kopf nach. Er grinste. Der Kleine stellte sich vor ihn hin. Tadelnd wog er den Kopf.

„Sie weichen zurück. Selbst die Reiter. Derbes Pack. Lachten mich stets aus. Spielten ihre Spiele.“
„Da. Die dicke Magda. Sie schlägt die Hand vors Gesicht. Senkt den Blick.“ Lynx senkte seinen. „Senkt den Blick. Rollt mit den Augen.“
„Schaut hoch. Muß alles ganz genau sehen.“
„Sie machen Platz. Ich höre einen Gaul.“
„Die Braut… zwei Wächter schützen sie mit ihren Piken.“
„Zeit, daß wir Noiset loswerden. Verdammte Hure. Schützen nicht…“
„Führen sie. Wie still es ist. Ich kann sie nicht sehen. Die Wächter verdecken sie.“
„Sehe eine rote Schleppe. Aus Entenfedern. Einhundert wurden geschlachtet. Habe die Frauen belauscht. Als ich in der Küche Brot klaute. Kenne geheime Gänge. Als ich jünger war, führten die zu den Türen. Im Rock. Den Bauern gestohlen. Haben die Hunde gegessen stattdessen. Dann folgten die Katzen. Als nächstes fressen sie die Ratten. Eine Woche haben sie gerupft, gewaschen, gefärbt, genäht.“
Sehe sie… Ein Karren bringt sie raus. Was für ein Anblick.“
„Ich will auch.“ Boric wollte aufstehen, sackte aber zusammen. Der Kleine schüttelte den Kopf mahnend. Sollte er nicht. Er behielt recht. Er zupfte an Wilodans Hose. Der machte endlich Platz. So konnte er durchs Guckloch blicken. Als einziger mit stehenden Augen. Er sah den Karren. Gezogen von einem Esel gezogen von einem Esel. Dahinter folgten die Wächter mit den Piken. Dann die Braut auf einem wunderschönen Schimmel. Seine Fesseln glänzten. Sie klangen. Goldene Glöckchen bimmelten bei jedem Schritt. Die rote Schleppe bedeckte den Pferdekörper als wäre er der eigentliche Schmuck. Ein blasses Mädchenbein hing herunter. Nackt. Es unterstützte nicht den Ritt.

„Soll den König von Broa gütig stimmen. Wenn ihm das Fleisch der Braut nicht schmeckt.“
Die Männer lachten sich an. Im düsteren Verschlag. Wer weiß, was sie sich sonst noch dachten. Der Kleine schaute beide fragend an. Lynx wuschelte ihm über den Kopf.
„Das ist noch nichts für dich. Ha, ha.“ Der Kleine wog den Kopf hin und her. Dann deutete er auf das Loch.

Lor.“

„Was?“
Lor. Da.“

„Was?!“ Lynx drückte ihn beiseite. Der Knabe fiel auf Borics Bauch. Der stöhnte vor Schmerzen auf. Der Kleine hielt ein Stück des Darms in Händen. Lynx traute seinen Augen nicht. War außer sich. Trommelte gegen die Planken. Wilodan mußte ihn festhalten. Unbändig sein Verlangen. Doch der alte Pferdeknecht hatte Erfahrung mit wildgewordenen Gäulen.

Da war sie nun. Die schöne Blasse. Ritt auf Flocke. Edel Umhang. Rot aus Federn, spitzen Piken, die sie schoben.

„Wenn sie vor die Tore geht, müssen wir unsere Gelegenheit nutzen. Dann sind alle Augen gerichtet. Und der Weg zum Brunnen frei.“

„Nein! Ich gehe nicht! Ohne Lor gehe ich nicht!“
Boric schafft es nicht alleine. Und der Kleine?“
„Warum Brunnen? Ich gehe mit durchs Tor hinaus. Ist dann doch auf. Ich höre schon das Krächzen.“ Der Kleine ließ sich von Borics Bauch plumpsen. Zu zweit stopften sie den Darm wieder rein.
„Müßt durch den Brunnen.“
„Nie ohne Lor!“ Lynx schüttelte sich frei.
„Und dann?“ Er heulte durch das Loch seine Ohnmacht heraus. Zog Lor an ihm vorbei. Mit gesenktem Haupt. Nackt. Der rote Umhang verrutscht, lag da nun ganz auf Flocke. Ein Aufstöhnen aus der Menge. So führten grüne Wächter sie zu Hochzeit. 

„Wie kam es bloß zu diesem Unheil…“


„Wie alles. Bloß aus Liebe.“






*




Freitag, 22. September 2017

Aus dem Leben eines Prügelknaben



„Den da.“

Sie war sich ihrer Sache nicht ganz sicher.

„Oder doch lieber den?“ Wieder schritt sie die Reihe der versammelten Knaben ab.
Das ganze dauerte seine Zeit.

Nun, während Noiset sich ihren Knaben widmete, hatte Mupo andere Sorgen. Ihm schwante nichts Gutes. Sollte er die Burschen bemitleiden? Er verneinte innerlich. Und stand abseits der Herrschaften im Nichts der Knechtecke, unweit der Tafel, aber weit von seinem geliebten Vorhang entfernt, der sein Inneres offenbarte. Man hätte ihn nicht öffnen sollen, erlaubte er sich den Gedanken. Beim zweiten ein Lächeln. Dann ein Gähnen. Nicht viele Zuschauer hatten sich bisher eingefunden. Der Saal kämpfte mit dem Morgenlicht.

„Vater, ich werde es nie wieder tun.“ Mit großen Augen trat Noiset an Galvan heran. „Ich war dumm und unbeherrscht.“

Mal hatten sie zu lange, mal zu kurze Haare. Mal waren ihre Hände zu sauber, mal nicht dreckig. Mal waren sie zu dünn, mal zu klein, mal zu speckig. Mal hatten sie zu viel von dem, mal davon zu wenig. Mal hatten sie dies, mal das. Was sie auch taten – und sie taten nichts –, taten sie nicht richtig. Geduldig ließen sich die Knaben begehen. Nur Galvan wurde jetzt ungeduldig.
Noiset. Einer ist wie der andere, keiner ist wie der andere. Alle sind sie gleich. Entscheide Dich!“ Müde rutschte er auf seinem Thron hin und her. Kleinlich beknabberte er ein Brot. Doch Noiset blieb ungerührt. Schließlich war dies keine Sache von Sekunden. Beizeiten durchdacht, weil für lange genehm, wollte sie wohl überlegt sein. „Oder doch lieber den?“ Die Wahl eines Knaben für die Prügel.

Noch mal von vorn:
Der Knabe ihres Wunsches mußte zuverlässig und zur Stelle sein. Nicht zu zart für schweres Tragen, noch zu grob in seinem Betragen. Keiner, der beim ersten Schubser bitter winselte. Doch auch nicht einer, der dabei nur gräßlich grinste. Der Hintern wohl genährt für schönes Klatschen, Schönheit nicht verkehrt. Zwar war Klugheit nicht vonnöten, doch zu unbedarft durfte auch er nicht sein. Solche, die nur guckten, wenn sie Haue nahmen, waren für Noiset nur schwer zu ertragen. Die ganz Kleinen waren auch für sie bequem, doch hielten nicht auf Dauer. Ein Umstand, der für diesen Umstand nun zum Tragen kam… Die Großen, zwar recht stabil gebaut, rochen meist schon aus den Mäulern. Man konnte sie viel besser schlagen, doch blieb ihr Inneres zu oft im Argen. Nun ja, sie wollte sehen, wie sie den Schmerz vertragen.

Schließlich waren die Schläge auch ihr gemeint. Nein, dieser sollte etwas Besonderes sein. Einer, für den sich die Knechtschaft lohnte, für den es auch ums Können ging. Bei dem man selbst noch trauert, wenn die Blasen auf dem Hintern blutgetrocknet waren. Einer, bei dem man noch selbst Hand anlegte. Für wenig mehr als gute Trauer. Nicht nur insgeheim beneidete sie Lor um Mupo. Er war so einer, das sah man gleich, der seine Arbeit noch gerne tat.

Nicht die der Schmiede, die der Bauern waren die Besten. Diese Burschen bezogen bei jeder schlechten Ernte ihre Prügel. Waren es also gewohnt. Doch, wie viele Ernten hat ein Jahr? Nicht viele, eben. Ein harter Schlag aufs Jahr verteilt ist besser als zwölf leichte. Eine gute Übung also. So waren sie es gewohnt, aber nicht gewöhnt. Die Schmiedeknaben konnte man mit Hämmern schlagen. Kein Wort, kein Winseln, zu verwöhnt. Für leicht verdiente Kost sollten sie noch dankbar sein. Können, dachte Noiset gelegen und schritt mit zeigendem Finger alle Burschen nochmals ab. Dann griff sie zu.

„Den da!“ Der Reihe nach zuckte die Reihe zusammen danach.

„Verzeiht mir, Vater. Das wollte ich wirklich nicht.“ Sie wollte noch etwas. „Wirklich, Vater, es tut mir leid.“ Galvan blickte kaum vom Essen hoch. Wieder störte Noiset mit großen Augen. Es ging um Golod.
„Nein, nein und nochmals nein!“ Kann man nicht in Ruhe speisen? Mürrisch gab er doch nicht bei, wie es sich Noiset erhoffte. Dann ging es wieder um den Knaben.
„Ich hoffe, es ergeht ihm besser, als dem letzten.“, sorgte sie sich fürsorglich. „Er war so klein wie gefällig.“
„Das hoffe ich auch. Nun geh und laß mich in Ruhe meine Dinge verrichten. Mupo,“, vom Knecht zum König erwachte gerade aus seinen Träumen, „du weist ihn ein!“ Ein Blick, ein Nick, ein kunterbunter Arsch. Schließlich konnte nicht ein jeder König sein. Dann zog der Kleine seine Hose wieder hoch. Gerade hatte der Saal den Kampf mit dem Morgenlicht gewonnen. „Komm mit!“, gehorchte Mupo und befahl.

„Gut, deine erste Prüfung hast du überstanden. Aber du mußt noch vieles lernen.“ Mupo schloß den Vorhang, pfiff und ging drei Schritte voran. Zu einer Treppe, die nach unten führte. Der Kleine, der ihm bis zur Schulter reichte, stolperte hinterher. Wachsam, die Backen angespannt, schloß er auf. Ein schräger Kopf klebte mit offenem Mund an Mupos Lippen. Er selbst blieb stumm. Mupo hielt, dann blickte er herab. Ein adretter, kleiner Knabe: Dunkle Haare, große Augen, runde Nase. Die linke Hand hielt den losen Bund. „Na ja,“, bedachte Mupo, „als erstes brauchst du neue Hosen.“

Aus dem Leben eines Prügelknaben:

Das letzte Mal, daß der Gürtel eine Hose trug. Hosenträger nutzten hier. Ein leichter Gurt für leichte Strafen, ein schwerer für viel mehr – beide lose um den Bauch gebunden. Unterhosen waren verpönt, der nackte Hintern bloß als Arbeitszeug. Nicht zu verachten, der richtige Zungenschlag für jeden Schlag. Ein Faible also für gute Noten. Nicht zu laut, doch keineswegs zu sachte. Im Winter trug man Hosen nur mit Latz, der Latz war hinten. Ach ja, ein Döschen Puder für den roten Arsch. Noch Fragen?

Der Kleine prüfte seine neuen Kleider. Dann blickte er zu Mupo auf.

Als nächstes, als da wären, galt es in richtiger Haltung zu verkehren. Der Kopf fast gerade, der Bauch gebückt, blieb der Rücken aufrecht stehen. Nur in leichter Beuge ließen sich die Beine sehen.

Mupo machte es ihm so vor.

Die richtige Technik war nun wichtig. Den Hintern ins rechte Licht zu bringen – das Gesäß besaß zwei Backen –, galt sodann als schicklich. Wollte man danach noch gehörig kacken, gab man mehr die eine als die andere her. Sauberkeit war auch hier geboten. Ein zarter Popo kam nicht von ungefähr.

 „Nachher zeige ich dir, wie man ihn ganz sauber wischt. Kannst du zählen?“ Mupo kramte Sachen aus den Taschen: Eine Schnur mit Knoten, ein Holz mit Leder, einen Knebel.

Hier mußte man nur bis Zwölfe zählen… aber das kam sehr selten vor. Bis Sechse sollte man sich schon sputen. Dreie waren die Regel. Bis Sieben, Acht und Neun war das Holz sehr nützlich. Bei Zehn bis Zwölf half auch das nicht mehr.

„Und der Knebel? Das erzähle ich dir ein anderes Mal. Komm her.“

„So, nun bist du gut gerüstet. Jetzt zeige ich dir dein Schloß.“
Mupo verließ die Knabenkammer wieder und ließ den Kleinen folgen. Nach dem Gang kamen zwei Türen.
„Die linke ist für uns gedacht, die rechte führt nach oben.“
„Nun schau.“, sagte Mupo und wählte eine aus. Wie ein Bild, das man zur Seite schob, um die verborgene Wand dahinter und deren Gilb zu zeigen, öffnete sich die Tür und gab den Blick auf Mägde frei. Ein geschäftiges Treiben besorgt von rosa Händen und lauten Schnörkeln hetzte rastlos durch den weiten Raum. Durch diesen hier und eine weitere Tür folgte der Blick dem Weg in den Bauch der Küche nach. „Sieh dir alles ganz genau an.“, sagte Mupo und nahm den Kleinen bei der Hand. So betreten betraten sie jetzt den Ort.

„Dort drüben gibt es noch viel mehr zu sehen.“ Köpfe lagen auf groben Tischen. Hinten lagen Beine. Derbe Hände würzten nach. „Schweine…“, Münder schmeckten ab, „…für das Mittagsmahl.“ Hier mußte man nicht darben.

Der Kleine löste sich von Mupos Seite und erkundete die Küche von ganz klein auf. Doch der Kleine sah nur die Mägde und deren Pickelbeine. Für ihn waren die Tische wie Regale. Von unten betrachtet kaum vorstellbar. Man müßte wachsen ohne schon zu altern. Von den Tischen bekam er nur die Kanten zu sehen. Hocker dienten so als Leiter.

Die Tische und ihre Kanten luden zum Bestaunen ein. Wenn die Tische hielten, was die Kanten ihm versprachen. Neugier half ihm auf hohe Hocker. Unten wieder sah der Kleine nur verschiedene Füße, die der Tische und verschiedener Weiber. Ein Tisch nach dem anderen mußte sich seinem Urteil stellen. Mittels Hocker und der Kanten inspizierte er die Platten: Diese hier hatte nichts zu bieten außer Teller und Geschirr. Die nächste lohnte auch die Mühe nicht, sie zu besteigen. Auf anderen erwartete ihn nur hübsches Mägdelächeln. Es schälte Kartoffeln. „Hier!“, sagte es und warf ihm eine zu. Und lachte. Ein anderes steckte dem Zweikäsehoch mit den großen Augen von hinten einen Käse mehr in seine Tasche rein. Dem Kleinen zog es zurück zum Boden.

Dort ohne Hocker ganz alleine sah er wieder nur die Füße, die der Tische und der Weiber, und auch seine eigenen. Wo die meisten Beine standen, das fand er schnell heraus, gaben die Tische nicht ohne weiteres auch das meiste her. Auch der Boden unter anderen Tischen ließ nicht immer auf den Vorgang darüber schließen. Töpfe und Kübel versteckten ihren Inhalt. Sie warteten mit Deckeln darauf, als Gang zu enden. Woanders lagen Federn. Dann lag nichts. Dann wieder Federn. Mupo erlaubte noch den letzten Tisch und stellte einen Hocker zu. Der Kleine nutzte die noble Geste und überwand mit ihrer Hilfe die erste Kante.

Kanten, so mußte man wissen, mußte man erst richtig packen. Im rechten Winkel gaben sie ihre Sicht erst preis. Der Kleine versetzte seiner Nase einen Ruck …und sah nun endlich neue Sachen. Knabenhände hielten ihn in Waage. Hühner, nackt mit Gänsehaut, sprangen ihm im Blick entgegen. Nas’ an Nas’, von Mensch zu Tier, ergab es sich im Gegenüber, daß man sich gegenüber lag. Zwei Dutzend Hühnerhälse mit Köpfen und auch Schlund trafen gepackt zum Bund wie Spargel auf des Kleinen offenen Mund. Gelbe Krallen an prallen Schenkeln ragten aus kleiderlosen Hühnerleibern. Dunkle Löcher, wo einst der geplatzte Kragen, verlangten Brust und Keule mahnend nach dem Leben, dem sie doch den Tod verdankten. Der Berg aus Hühnern schien sich mit dem Kleinen zu beweiben, der Kleine schien ihr Schicksal schon zu teilen, doch des Kleinen Schicksal schienen auch die Kleinen schon zu teilen. Dann kam Mupo und trug ihn weg.

Eine Tür brach auf. Eine Treppe führte steil am Küchengemäuer entlang nach oben und herunter. Feiste Männer trugen Ferkelhälften auf den festen Schultern und ließen sie unter Stöhnen über fettige Rutschen nach unten rauschen. Blut und Kot kroch aus Därmen. Wurst gewordener Traum, kroch der Duft durch hohle Nasen in den hohen Raum. Man trennte Kopf von Bein und schlug mit Hämmern auf die Köpfe ein. Nackte Mägdewaden stampften alles fröhlich quakend mit ihren Füßen zu Brei und falschem Braten. Man spukte, rotzte und befleckte – die Wurst von Mor, sie schmeckte. Auch die Männer, die die Hälften trugen, hinterließen ihre Spuren. Popel sah man nicht in Tücher wandern, essen durften dies die andern. Nicht nur die Stampfer hatten Pickel, Pickel hatten auch die Mampfer.
 Das Licht von oben, das den Tag begrüßte, blickte ungeachtet dessen herab auf alle Taten und bestrahlte so ganz nebenbei auch die nächste Tür unten im Wink der Treppe herbei. Mupo, noch im Glanze aller Sinne heller, nahm vorbei an funkelheißen Öfen den Weg durch diese Pforte hinein in des Schlosses dunklen Keller. Dort mit sich und seinen Beinen besetzte er den feinen Tritt des Bodens und schritt voran und ohne Worte. Der Kleine, von ihm und sorgsamst Pflicht getragen, blieb auch jetzt nur stumm, doch ließ sich, noch immer offen für alle Fragen, ungern nicht und sonst ertragen.

„Hier unten…“, Treppen wiesen in verschiedene Richtungen, „kannst du dich sehr schnell verirren.“ Kann man schneller noch den Verstand verlieren. „Du mußt jetzt achtsam sein.“, stellte Mupo sicher. In scharfem Ton ermahnte er seinen Kompagnon. „Verlaß dich nicht auf falsche Fährten. Falsches Rufen kann dich nur verwirren. Präge dir gut den Weg jetzt ein.“, sagte er und stahl sich eine Fackel aus der Wand. „Sonst wirst du für lange Zeit oder schlimmer noch verloren sein.“ Und weiter: „Ein Prügelknabe muß sich stets behaupten. Zügle deine innere Angst und bleibe still. Verlieren tun sich nur die lauten. Aus dem Gewirr der Gänge, kann ich dir verraten, wähle den mit dumpfem Rauschen. Das Geräusch ist Wasser. Woher es kommt, das weiß ich nicht, und, ganz wichtig, du mußt schon selber lauschen. Nutze dein Gehör, und mit Sicherheit, und einigem Geschick, führt es dich aus der Dunkelheit zurück ans helle Licht. Folgst du aber nur dem Licht der Fackel, kannst du dich nur selbst beklagen. Hier unten gilt das Gesetz der Schatten. Nun folge mir, und stelle, wenn du willst, alle deine Fragen.“

Nach einiger Zeit und langer Stille kamen die beiden Knaben zu einem Gang, der in einem anderen mündete. Mupo ließ die Fackel weg – er legte sie auf den Boden – und ging voran. „Warte hier.“, sagte er zum Kleinen – er wollte ihm nicht alles zeigen – und verschwand vor dessen Augen in einem dunklen Nichts.

Geräusche drangen aus der Ferne. Klimpern hörte er, und auch Knarzen. Kommt Mupo bald zurück? Beleidigt verbrannte sich die Fackel am nackten Stein des Bodens. Er wartete. Und wie man es ihm befohlen hatte, rührte er sich nicht vom Fleck. Dann war es still. Vielleicht sah er in den Schattenlichtern doch mehr als nur sich selbst und müdes Hadern. Mühsam kämpfte die Flamme um letzte Züge. Das Gesicht des Kleinen wurde schwächer. Ein Poltern! Es kam von anderer Stelle. Hatte der Kleine schon eigene Gedanken? Wenn ja, dann gingen sie in der Dunkelheit unter; weil die Fackel jetzt erlosch. Schritte? Kamen sie von vorne oder hinten? Lauschen, hatte Mupo ihm befohlen. Doch, was half es ihm, wenn er dabei nichts sah? Etwas kratzte. Da! Ein Licht. Dann wieder nicht. Ein Tocken. War es hinter ihm? Er horchte. Etwas wehte. Stoff, der sich in Eile befand. Nun blieb es stehen. Ein Ticken. Jetzt von vorne. Dann von neuem nichts. Der Kleine, der sich sonst nicht regte, machte einen Schritt zur Seite. Und ließ einen anderen zur Wand hin folgen. Zu dumm nur, daß er auf die Fackel trat. Verächtlich klopfte sie sich zurück ins Leben. Echo war ihr Name.

Darauf hatten Beine nur gewartet. Sie rannten und kamen näher. Treppen schienen ohne Stufen. Geplapper lauter Sohlen. Die Fackel, das stand fest, hatte den Kleinen wohl verraten. Dicht an die Wand gepreßt, vernahm er fremdes Schnauben. Zwei Ecken noch, dann schon nichts. Geflatter eines Umhangs. Der Kleine warf die Hände vor die Augen. Ein schwarzer Umriß. Tock, Tock – Tick. Licht.
 Wo die Wand im Rücken war, stand nun eine Fratze in neuem Fackellicht. Ein Arm mit Hand packte den Kleinen am Genick, zog am Kragen und verschwand mit ihm und allen Fragen aus aller und des Umhangs Sicht. Tick.

„Ich bin’s – Mupo.“, flüsterte Mupo und legte den Finger auf die Lippen. „Er kann uns nicht sehen.“ Beide lauschten. „Das ist Mondrian… aber er kennt nicht alle Gänge.“ Mupo freute sich. „Vor dem mußt du dich in acht nehmen. Komm.“
Er drehte sich um und ließ die geheime Tür hinter sich. Flinken Fußes schritt er voran. Hebel sah der Kleine, und auch Seile. Sie führten an der Wand entlang zu dunklen Löchern in der Decke. „Der Keller verbirgt noch viele Geheimnisse. Hier rüber.“ Er wechselte die Seite. „Es soll eine Kammer geben, die man nur bei Nacht und über den Himmel erreichen kann. Ein Weib soll darin gefangen sein. Oder so ähnlich. Weiß nicht, was das heißt. Habe sie noch nicht gefunden.“ Der Gang machte einen Bogen. „Komm weiter.“ Der Boden wurde steiler. Dann kam eine Tür, aber Mupo ließ sie links liegen. „Irgendwann habe ich eine Tafel gefunden. Da stand es drauf. Hat jemand weggeworfen. Na ja, so in etwa. Kannst du lesen? Egal. Komm.“ Sie erreichten das Ende des Ganges. Blanke Mauersteine verrieten, daß es nicht mehr weiterging. Mupo hielt die Fackel höher. Und dann – „Ich bin oft im Keller.“ – erschien im Strahlenschein eine versteckte Öffnung, die sich nur im rechten Licht betrachtet auch für die Augen öffnete. „Halt mal.“, sagte Mupo und gab das Licht an den Kleinen weiter.

Als wollte er den Rost aus müden Knochen schütteln, streckte er seine Arme aus und fand so ganz dabei noch im Schlafe eine Kante, die ihn wie im Traum der Schlummer packte und rasch nach oben zog. Dort auf dem Sims angelangt prüfte er, ob sich neben dem Unrat der Stelle noch anderes düsteres Getier am Platze befand, und entschied. „Gib mir deine Hand.“

Der Kleine schaute betroffen. Mit Kanten kannte er sich jetzt zwar aus, doch ein Hocker fehlte. Zu kurz waren seine Beine, zu klein die Glieder, als daß er selbst mit Mupos Hilfe sich schon oben sah. Unbeholfen streckte er der helfenden Hand die Fackel entgegen. „Paß doch auf!“, murrte Mupo, weil er sich nicht verbrennen wollte. Und keuchte, weil die Flamme ihm die Luft zum Atmen nahm.
„Nimm die Fackel weg! Ich komme runter.“

Wieder unten gab er dem Kleinen einen Schubs. „Gib her! Wir versuchen etwas anderes.“ Mit Schwung und übler Laune nahm er ihm die Fackel ab und warf sie hoch in das Loch der Mauer, wo sie erst noch tanzte und dann gekonnt zum Liegen kam. Er bückte sich. „Klettere auf meinen Rücken. Aber halt dich gerade! Jetzt steig nach oben.“ Wird Mupo mich bald schlagen? Der Kleine gehorchte und gab sich Mühe, nicht zu versagen. Er will mir doch nur helfen… „Du hast es bald geschafft. Nun greif die Kante. Ja, so ist’s gut! Jetzt zieh dich hoch.“ Dann ein Krachen. Es kam vom Gang. „Versteck dich!“ Mupo klang überrascht. Besorgt drehte er den Kopf nach hinten. „Ich schau mal nach, was da los ist. Vergiß die Fackel nicht.“ Da! Schon wieder dieses Tocken. Schon war Mupo aus der Sicht verschwunden.
 Stumm, wie beim ersten Mal, blieb der Kleine auf dem Sims zurück und lauschte. Von oben versuchten seine Augen, dem Gang zu folgen. Doch sie wurden von Düsternis geblendet. Allein die Fackel, hell im Lodern, blamierte beide nicht.

Mupo stand an der Tür, die er eben noch mißachtet hatte. Sie lag gut verborgen in einem Eck des dunklen Kellers, der selten besucht nicht jedem so gut vertraut war, wie ihm selbst, doch Interesse weckte. Sie war verschlossen. Warum auch nicht, hatte er sie doch eben noch gewissenhaft verriegelt. Doch etwas überraschte ihn. Lag hinter ihr nicht ein Hauch von Schwere in der Luft? Er blickte zurück. Warum brennt die Fackel noch? Hatte er dem Kleinen nicht gesagt, er sollte sie verstecken? Schwaches Lodern aus der Ferne mischte sich mit dem Schwarz des Ganges zu Lichtgeflatter. Kein starkes Schlagen, doch auffällig genug, um Gefallen daran zu finden. Ah gut, das Licht war weg. Vorsichtig legte er sein Ohr an das Holz der Tür.

In jeder Stille klingt der eigene Atem wie lautes Gedröhne. Der Wechsel von einem Bein aufs andere wie Gequake. Beides unterdrückte Mupo ängstlich, aber erschreckte dann bei jedem Schlag des Pulses. Auch ihn versuchte er zu bestimmen, obwohl er sich beschwerte. Holz am Ohr läßt jedes gute Haar im Innern zum Knistern bringen. Brandungsschaben, so voll Leben, daß man Angst hatte, andere könnten das schon hören, was man selbst doch nur im eigenen Kopfe hörte.

Der Abdruck von Gesabber, den der Mund beim Pressen an das Holz vergab, dampfte Blasen in die Masern. Unbequeme Kühle, durch luftgekühlten Speichel in den Lippenwinkeln, ließ Mupos Zunge aus dem Munde fahren und mit besagter Spucke zurück zum feuchten Ursprung tragen. Er schmeckte Baum und Fasern, Leim und altes Kahmgemäuer. Dann legte er die Hand auf den Riegel. So angespannt war er, daß seine Finger dabei in ihren Gelenken knackten. Der Riegel selbst aus Blei gegossen fühlte sich mit dem Schweiß der Hand wie Mehltau im Tau des Morgens an. Langsam schob er ihn zurück.
 Mupo stand im anderen Flur. Finsternis umgab ihn. Die Türe war jetzt offen. Mit jedem leisen Schritt, den er bis dahin machte, hoffte er sich zu verraten. Denn dem Schlag des Blutes, den sein Herz mit jedem Knarren seiner Sohlen schluckte, drohte schon als nächstes auch der letzte. Mühsam nutzte er die Augen, um zu hören. Und tauber noch die Ohren, um zu sehen. Nichts. Ein schwarzer Nebel in dunklem Gewand. Dann bewegte Luft – Mondrian schlug ihn mit der flachen Hand.

Der Kleine hockte auf seinem Vorsprung wie ein Hüpfer auf dem Gras. Von vorn betrachtet und von unten schien er durch den Augentrick des Loches in den Steinen der Wand zu schweben. Göttlich erleuchtet von der Fackel und ihrer Flamme in seinem Rücken. Kommt Mupo bald zurück? Erhaben durch den Knick des Ganges setzte er sich ins rechte Licht. Dann drehte er sich um. Versteck dich, hatte Mupo ihm gesagt. Und vergiß die Fackel nicht! Dann hörte er das Rauschen. Von unsichtbarer Kraft gezogen, trieb es ihn hinein in das Loch und das Dahinter. Ohne sich zu verbrennen stieg er über die Fackel, streifte sie mit den Beinen und stieß sie ohne darauf zu achten hinunter auf den Boden. Ein Verbund aus Ecken, dunklem Steingemuster, Geraden und auch Rissen erwartete ihn in dem Durchgang vom Hier zum Durcheinander. Ein Licht von neuer Qualität zerschnitt die Schatten seiner selbst. Das Gitter, rund und rostig, roh und rüttelfest, verbarg und barg, entbehrte, behrte und gebar:

Schau sie dir an und staune, kleiner Mann. Bringe dich in Regung. Ohne Schuld und Makel siehst du sie auf gleicher Höhe weiße Rosen pflücken. Im Arm als Kind der Korb, der sie empfängt, als Sinn im Leben, sich gern zu geben. Halte dich nicht auf, dich herzugeben. Ein Kleid ersetzt die Blöße nicht.

Schaue, kleiner Mann, und staune… Von Luftgezwitscher frohbedeckt scheint der Himmel (schon) herab auf Lor und diesen Garten.

Vor seinem inneren Auge begann sich das Gitterrost zu drehen. Mit beiden Händen hielt er sich daran fest. Die Welt stand Kopf, dann wieder gerade. Nichts schien, wie es war. Kein Rauschen mehr. Gedämpfte Laute verfingen sich in seinem Kopf. Durch einen roten Schleier hindurch erwartete Lor den Knaben:

„…wer bist du?…“, wurden die Laute von sanfter Stimme getragen.
„…wer hat dich geschickt?…“

War dies ein Traum, der benebelte? Fragen, die der Kleine so nicht hörte. Mit offenen Augen – der Augenblick nicht minder so gespickt – stand auch er nur da. Der Kleine begriff noch nicht, wer und wo er war. Lichter blendeten ihn. Nur langsam drehte er sich gerade und wurde dem gewahr.

„Komm.“, sagte Lor. „Hilf mir, den Korb zu tragen.“, und pflückte weiter ihre Rosen.

Mit offenem Mund hielt der Kleine Hof – und den Korb an ihrer Seite – und  sah, wie sich mit jedem Lächeln Lors eine Blüte mehr dort hinein bewegte. Ein stiller Vertrag zwischen beiden ließ Rosen in die Höhe und bald über den Rande quellen. Schwerer wurde er trotzdem nicht. Nun lächelte Lor dem Kleinen in die Augen. Zwinkernd nahm sie den Korb entgegen und ging voran. „Komm. Wir wollen daraus einen Umhang flechten.“

Auf grüner Wiese ließ Lor sich nieder. Summend saß sie auf den Fesseln und benutzte ihren Schoß als Schürze. Der Kleine folgte ohne Worte. Wenn dies ein Traum war, für wen war der bestimmt? Lautlos setzte er sich auf seine Hosen. In der Mitte stand der Korb.

„Öffne deine Hand.“, sagte Lor und nahm sich drei Blüten. Der Kleine zögerte, während er schon gehorchte… Vorsichtig legte sie ihm diese dorthinein.

„Nun gib sie mir.“ War dies die nächste Prüfung? Unsicher, dann sicher, gab er sie an Lor zurück. Wieder lächelte sie. Und begann sie zu verknüpfen. Ein Spiel, das der Kleine wohl verstand. Dieser Augenblick schien das Braun in seinem Auge zu sein.

Blüte an Blüte setzte sich Knoten an Knoten. Flinke Hände zupften. Fließend schnell, flott und flüssig, aber langsam im Entstehen – wie ein Gemälde zu verstehen, das ein Maler mit den Fingern malt – hielt sich Blüte an Blüte gekettet eine an der andern fest und hielt sich so zusammen: Ein Umhang weiß, was in ihm steckt.

„Schau!“, sagte Lor mit sanfter Stimme und hielt dem Kleinen eine weiße Pracht entgegen. Als die letzte Rose darin verschwand, strahlte selbst der Kleine. Und lächelte zum ersten Mal. Dann lachten beide! Aber hielten inne. Lor hielt den Umhang gegen die Sonne. Durch die Maschen hindurch blitzte erst der Schein, dann schwach der Kleine. Matt und dunkel verbarg er sich im Gegenlicht. Unschuldsschatten. Aus dummen Späßen wurde Ernst.

„Ich will sehen, wie er dir steht.“

Behutsam lockerte sie ein paar Rosen in der Mitte und schob sie so zur Seite, so daß dort ein Loch entstand. Dann hob sie den Umhang hoch und legte ihn um den Körper des Kleinen. Wortlos schlüpfte er hinein. Er passte. Lor verneigte sich demütig und hielt den Kopf gesenkt.
„Mein Ritter, eure Rüstung.“ Ungläubig besah der Kleine sein neues Kleid. Blütenkelche schimmerten aufgeregt im Zwielicht. Funkelknospengewand. Dann sprang er freudig auf und lachte. Hüpfte mit ausgestreckten Armen auf der Stelle. Dann drehte er sich im Kreise. Wie ein Schmetterling einem anderen hinterher, und lachte das Lachen eines Kindes.
Lor schraubte sich auf die Füße. „Warte, kleiner Mann.“, sagte sie. „Lauf nicht weg. Na warte!“, und hüpfte hinterher. Doch er lachte nur! Zu stolz, zu keck war er, daß er sich gar fangen lassen wollte. Im Kreis, als weißer Tupfer im Garten, unter den Apfelbäumen lief er umher. Verfolgt von Lor und beider Schatten. Fang mich doch, so fang mich doch!
O edler Ritter, du fängst mich nicht, du fängst mich nie! Dann fiel er auf die Nase.
„Er ist Noisets neuer Knabe.“, sagte Mupo mit blauem Auge, und Lor stürzte auf die Knie.

Es war eines der besten Zimmer. Es lag im oberen Teil des Schlosses und entsprach der Aussicht. Gelassen sah man herab auf den Hof mit seinem Treiben. Dort unten, wo man sich begegnete. Wo man verschwommen Mägde und den Brunnen sah. Sie schleppten Eimer und schwatzten. Wabernde Punkte. Doch, noch blieben die Vorhänge verschlossen. Noch sah man nur den Raum zwischen Scheibe und Gardine. Eine Spinne im Fenster saß fett in ihrem Netz und wickelte gerade ihre letzte Beute ein, und freute sich, da wurden sie jäh von Frauenhänden aufgerissen.
Weil die Sonne des Morgens nicht mehr so tief stand und blendete. Und das Netz zerrissen. Man hörte das Poltern von Umhergerenne, Geröchel. Geräusche eines Menschen, der nach Hause kam.

Der Blick durchs Fenster kam jetzt näher. Die Spinne legte ihre Beute an die Seite und begann, ihr Netz von neuem zusammenzutragen. Das Blau vom Himmel und Sandfarben fielen durchs Fenster ein. Ganz langsam, Stück für Stück, entwirrten sich die Fäden. Faden um Faden spann die Spinne ihre Bahn. Wie ein grobes Schachbrettmuster entspann sich ihre Lage. Von oben nach unten. Von links nach rechts. Vor und schon zurück…

„Komm nur.“, hörte man die Stimme sagen. „Keine Angst.“ Dann erschein der Knabe.

Der Blick selbst schweifte durch die Kammer. Dunkelrot, mit rostverziertem, teppichbelegtem Boden und ebensolchen Wänden lag ein Nimmerschimmer im Halb des Dunkels. Das bißchen Licht, das sich fern der Quelle bis hierher regte, schien nur durch das eine Fenster. Der einzig offene Vorhang warf müde Falten in das Zimmer. Eine schwarze Dogge hielt Hof zu ihren Füßen: Noiset lag wie auf einer Trikoline.

Der Kleine traute sich nicht näher. Er stand im Tritt des Raumes und wirkte lächerlich in seiner Rosenrüstung. Er mußte um eine Ecke schauen. Dann nahm er sich ein Herz. Angenehm gedämpfte Schritte warteten auf ihren Gang. Halbhell und doppelt schwarz teilte sich das Bild vor seinem Auge. Noisets Bettstatt war eingelassen in die Wand. Ein Altar als Wiege. Goldene Platten. Sternenförmig, halbrund. Vom Licht bestrahlt. Ihre Lippen formten einen Satz:

„Ich habe schon auf dich gewartet.“

Schatten fielen durch das Fenster. Vom Spinnennetz auf den Kleinen. Rillen.







*