"Hallo" ist das Pfandleihhaus des "Aufwiedersehn"...



Miniaturen des Absurden

Betrete mit der Miene der Abfälligkeit und erhalte Einlaß

Vom Jardin du Luxembourg zum Panthéon brauchte es schon mehr als platonisches Innehalten, um sich Gehör für Gesehenes zu verschaffen. Da...

Sonntag, 29. Oktober 2017

"Kapier's endlich: Du inspirierst mich nicht."


Sage ich zu mir. Und das ist ja das Tolle daran:

Daß man sich das alles selbst sagen kann. Und noch viel mehr.


Da ich heute als einziger Mensch eine ganze Stunde geschenkt bekam, denn ein Geschenk bekommt man ja als einziger, las ich hier mal eine Stunde lang meine Geschichten.

Und da ich nicht toll bin und auch kein guter Mensch, aber lesen kann, was mitunter schon mehr Reflexion ist, als bei Menschen, die lesen können  u n d  toll sind und daher gute Menschen sind, die jeder braucht, um selber toll zu sein, deshalb man ja tolle Menschen braucht - ich eingeschlossen -, las ich mal meine Geschichten, so als ob sie jemand anderes liest, und dachte mir, wenn ich schon mal dabei bin, was sich solche Leute wohl dabei denken, die das hier so lesen, wenn sie das hier so lesen, was sie sich wohl dabei denken, wenn ich das denn lese eine Stunde lang. Und - hey - bei einer geschenkten Stunde sage ich nicht nein.

Aber jeder denkt für sich allein, was andere wohl denken, denke ich.
Und daher denke ich mich mal selbst hinein in das, was ich hier so schreibe.

Und da ich nicht lange denken kann - nur lange Gedanken schreiben kann -, schreibe ich mir einen Satz auf, einen einzelnen, bevor ich ihn wieder vergesse.

Ich schreibe ihn als Kommentar auf mich selbst, was ich hier denn so zu lesen bekomme.
Dafür stelle ich mir - Phorsicht Phantasie! - einen Leser vor:

Da ich nicht gebildet bin, eine Leserin.

Ungebildete Menschen wie ich stellen sich immer eine Leserin vor.  Die sind nobel. Die lesen noch was. Das mag daran liegen, daß mehr Frauen lesen als Männer und daher gebildeter sind.

Ja, es geht schon wieder um Bilder, denke ich schon wieder. Aber deshalb heißt es wohl gebildet.

Mein Lebensmotto lautet:

"Stelle Dich gleich mit dem zweiten Eindruck vor, dann kann der erste nicht enttäuschen."

Das stelle ich gleich hier als Bildunterschrift ein.

Daran sieht man, daß ich ungebildet bin: Hier ist ja gar kein Bild für eine Bildunterschrift eingebildet.

Aber die Phantasie wird schon eins einbilden, denke ich, und damit ist's mir schon gedient.


"Darf man nicht mal mehr in Ruhe einen Lebenszusammenbruch gehabt haben in diesem Lande?!",

frage ich mich, als ich mich erinnere, ja einen einzelnen Satz einfügen zu wollen, als Gegenkommentar zu dem einzelnen Satz einer Leserin, als die ich mich vorstelle, die irgendwas denken könnte, weil sie ja gebildet ist, wenn ich sie mir mich als mich vorstelle, wenn ich meine Geschichten, die ich mir alle ausgedacht habe, so mal durchlese.

Das finde ich schon sehr kompliziert. Denke ich.

"Füge doch einfach ein Bild ein.", kommentiere ich als Leserin. Als wäre ich eine gebildete Leserin.

"Tz, Snobine!", antworte ich ungebildet, aber ungehalten.

"Ein Satz sagt wohl mehr als zwei Sätze.", schnaufe ich wegen des Kommentars.

"Das kann ich nicht. Alle Bildunterschriften sind schon vergeben. Nochmal tz."

Schnaufen, habe ich gelernt, ist heutzutage eine tolle Eigenschaft. Also schnaufe ich nochmal:

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                                                                                                                                                      |

Da war es wieder: Wieder stelle ich mich mit dem zweiten Eindruck vor, stelle ich zufrieden fest.
Und es gibt ja noch den Eindruck, wenn man nicht ganz dicht in der Birne ist, denke ich.
Leider geht so eine Zeit schnell vorbei, denke ich zufrieden. Und dann ist man wieder normal.
Und man hat nur sich wieder als Leser und ein paar Erschrockene, die man auch nur haben will als Leser.

Die suchen sich das selber aus und werden dazu nicht genötigt, denke ich und schnaufe noch nicht einmal.

"Endlich mal einer, der einem nichts aufzwängt.", lobe ich mich, während ich meine eigenen Dinge aufzwänge.

"Und der erste Eindruck kann nicht enttäuschen,", denke ich zufriedenstellend, "wenn man sich gleich mit dem zweiten vorstellt. Phantastisch."

Aber gegenkommentiere meinen Kommentar indem ich phantastisch schreibe:

"Ich werd' jetzt weiter mein Atmen verbessern. So. Das ist sehr anspruchsvoll und erfordert volle! Konzentration. So, nochmal. Das kann von mir aus mein Leben lang so weiter gehen.
...öps. Wieder veratmet. Deine Schuld. Jetzt muß ich mit dem Atmen  wieder  g a n z  von vorne anfangen! Weißt Du, was das bedeutet, wieder ganz von vorne mit dem Atmen anzufangen!
Jetzt muß ich erst wieder lernen, wie man den Mund zum Atmen öffnet.
Und wie war das jetzt schon wieder mit der Nase?!
Kommt die vor dem Mundatmen, oder danach?!"

Dann denke ich mich in meine innere, gebildete Leserin hinein:

"Ich weiß, daß Du schon Tragisches hinter Dir hast. Es hilft keinem, sich gegenseitig schlecht zu machen. Hinter Humor verstecken. So daß man nicht merkt, daß man ein tiefgründiger, also widersprüchlicher Mensch ist. Ekelig peinlich. Tiefgründig, bäh. Das sind doch die Doowen. Widersprüchlich, igitt. Lieber für alle Zeit unterschätzt werden. Weil man eh nur abschätzig gesehen wird. Egal, wie man sich gibt. Dann lieber perfekt. Und zack, Beweisphoto dazu."

Menschen schätzen Menschen nur für Dinge, die ihnen selber nutzen, denke ich selbst dabei.
Wobei man die meiste Zeit auch nur oberphlächlich ist.

"Bin ich auch nur.", denke ich.

"Für den Rest habe ich meine Phantasie. Da darf ich toll sein. Auch wenn ich es in Wirklichkeit nicht bin. Dafür hat man ja schließlich Phantasie: Um toll zu sein, obwohl man es in Wirklichkeit nicht ist."

Da war sie wieder: Die Phantasie.

Phantasie: Der enttäuschte erste Eindruck, der den zweiten Eindruck nicht enttäuschen kann.

"Wer 'Phantasie' mit 'F' schreibt, schreibt 'Ficken' auch mit 'F' und es fehlt die Phantasie dabei. Hihi, ich habe ''Phicken' gesagt.", antworte ich als Leserin.

"Außerdem bin ich zu alt, um mein Leben Revue passieren zu lassen.", schnaube ich aber noch zurück, weil ich das durch die heutigen Zeiten so gelernt habe, daß man das heute so macht:

Schnauben.

"Das wäre eine langatmige Vorstellung. Lieber schaue ich Leuten zu, die mit ihrer Nummernrevue gerade erst begonnen haben. Vielleicht werfen sie bei ihrem Tralala ja Konfetti. Ich meine. K o n f e t t i ! Echtes, buntes Konfetti! Ich dreh' durch vor Aufregung."

Meiner ein-gebildeten Leserin, die ich mir vorstelle (Ich nenne es Reflexion. Das klingt immer gut.), gebe ich noch mit auf den Weg:

"Du wirst hier nichts finden, was einen Nutzen für Dich haben wird.
Suche weiter, kleine Indianer-Squaw.
Kräuter und Wigwam findest Du drüben am Lebhafter-Bär-Pass. Dies hier ist der Toter-Kojoten-Pass.
Aber nicht die Daisys am Pfad pflücken! Die brauche ich selber noch für meine Wamwam-Gardinen:
Um sie dort hinein zu nähen. Sieht so gleich viel hübscher aus. Vielleicht setzen sich ja Bienen drauf.
Wenn ich denn Gardinen hätte. Zumindest die ausgestorbenen. Die setzten sich drauf.
Suche weiter, kleine Squaw. Suche weiter."

Ich und ich als Leserin sind zufrieden: Niemand sucht weiter. Nicht ohne Phantasie nicht. Niemand, der hier sowas liest, soll sich ohne Bilder einbilden, hier spränge etwas für ihn heraus. Außer Zeitverschwendung oder etwas Zeit vertrödeln, wenn man denn wie heute eine Stunde mehr auf dem Lebenskonto hat.
Auch wenn sie gleich Skonto gegengebucht wird diese Stunde mit atomaren Gegenuhren. Einen 25-Stunden-Tag habe ich jedenfalls noch nicht erlebt. Auch nicht, als ich mal Matsch in der Birne hatte. Was schon sehr surreal war. Matsch wo sonst nur Murmeln sind. Aber wie jedes Surreale nicht wiederholenswert, denke ich. Nur das Reale wiederholt sich ständig lohnenswert. Für den Unlohn gibt es ja das Irreale.

"Immerhin haben wir eines gemein. Du, Gardinen und ich: Ich bin anziehend und abstoßend zugleich, sagen wir allen gleich beim ersten Anblick. Nur auf den zweiten Blick folgt der erste. Und der erste reicht mir schon. Und: Wenn erst die Gardine anfängt, zu sprechen, wird's surreal. Surreal vorrewa!", jippie ich mit V-Fingern hinterher, so als wäre ich ein Asia-Girl auf Rheinfahrt, aber komme in Köln an.

Dann bleiben noch 30 geschenkte Minuten über von den 60 Minuten, die das Leben in einer leeren Schachtel geschenkt hat - mit sehr viel Aufwand, muß ich anerkennen; als wäre das Leben mit sehr viel Aufwand verbunden und wie ein Geschenk in einer leeren Schachtel übergeben - und mache gleich das, was man jetzt so macht, wenn man mit dem geschenkten Leben, als wäre es eine geschenkte Stunde - dann kommt die nächste Klau-Stunde - weiter macht:

Ich schnaube.

Ich gebe mich also gesellschaftskritisch.

Das kommt immer gut..., denke ich,

...darauf an, in welcher Gesellschaft man verkehrt.

Ich bin in meiner, und das allein reicht mir als Rechtfertigung aus, die Gesellschaften anderer zu inspizieren. 'Inspizieren' ist ein gebildetes Wort. Denke ich. Ich habe es irgendwo mal gelesen.
Deshalb habe ich es wohl geschrieben, damit man denkt, wenn man es liest, ich sei gebildet. Weil das gut kommt..., denke ich, ...kann ich versichern, daß ich es nicht bin.

"Hach, ich mag so einen geschnörkelten Scheiß.", juchze ich auf, als ich das lese. "Schreiben. Und schnörkeln. Und abschweifen. Das finde ich geil."

Andere machen es mit Bettdecken oder Beeten. Und was andere machen ist immer geil. Das weiß ich. Weil es ja andere machen. Und alles, was andere machen wäre geil, wenn sie einen denn inspirierten, denke ich das Gesellschaftskritische:

Menschen inspirieren mich schon lange nicht mehr. Geht es mir auch so?, frage ich mich als kritischen Leser.

Ja, es gibt Bilder. Aber Inspiration?
Gibt es überhaupt noch Inspiration?
Oder schaut nur jeder seine Bilder an?

Ich erinnere mich.
Ich weiß, das ist heutzutage nicht mehr so gefragt: Das Erinnern.
Erinnern - junge Menschen schauen im Duden nach - gilt als unschicklich ungebildet. Nur das Instante ist das Konstante.
Hörte ich von Menschen, denen man es nicht zum Vorwurf machen kann, daß sie sich nicht erinnern, weil sie gar nicht so viel Zeit zum Erinnern zur Verfügung haben.

Warum inspirieren junge Menschen nicht?

Ja, sie machen ihre Bilder. Aber inspirieren tun sie nicht.

'Interview mit Greta Garbo' habe ich 2004 oder 2005 geschrieben. Das ist ein Ausschnitt aus irgendwas. Wenn Du mir damals begegnet bist, hast Du mich sicherlich inspiriert.
Wann nicht: Menschen wollen Inspiration sein, dienen aber nicht mehr als Inspirationquelle. Vielleicht wollen sie einfach nur Photos zeigen. Weil sie eh wissen, daß diese nur für 60-Sekunden-Betrachten gemacht sind. Und nicht für die Ewigkeit. Vielleicht halten sie sich aber heimlich doch für die Ewigkeit. Zweidimensional. Und lieben zweidimensionale Komplimente. Wo ist all die Phantasie geblieben? Wann haben sie aufgegeben, zu inspirieren?

Doch dann greife ich lieber auf Bilder zurück, die ich mit den eigenen Augen geknipst habe. Die sind mehrdimensional und haben manchmal sogar Gerüche. So brauche ich auch nicht zu recherchieren, was ich nicht tue, und erzähle nur aus meiner Phantasie oder Erinnerung heraus. Was dasselbe ist.

Phantasie macht toll, auch wenn man nicht toll ist.
Ich bin bestimmt nicht toll. Objektiv schon mal nicht.

Das ist ja das Tolle an Phantasie: Man muß nicht toll sein, um Phantasie zu haben.
Ich muß mich nur daran erinnern, wie man orthografisch korrekt Phantasie schreibt. Dann bin ich, der nicht toll ist, toll. Toll, nicht? So trickse ich meine Beliebigkeit aus.

Aber Phantasie, ach!, will heute keiner mehr, denn Phantasie hat ja jeder!

"Phantastisch siehst Du wieder aus! Ich liebe Dich!"

Tolle Bilder.

Aber nicht für Dich, nicht für Dich, Dich lege ich zurück, für Dich nicht und Dich lege ich auch zurück. Ein großes Panini-Album: Der fehlt mir noch und die. Dann habe ich mein Album komplett.
Aber es gibt ja noch den. Was mache ich denn mit dem?! Ah, die kommt auch noch rein. Die quetsche ich zwischen den Bildern von 'Herrn Lustig' und 'Frau Schön'. Aber sie müssen farblich zusammen passen. Soll ja keiner über mein Panini-Album meckern. Ich am wenigsten. Soll doch andere beeindrucken. Wie toll und cool und abgeklärt ich bin. Man soll mich loben:

"Was für ein schönes Album Du da hast!" - "Das paßt mir gerade recht für mein eigenes Album. Sollen wir Bilder tauschen? Zwei Cool gegen drei Neidischmachende? Zwinker."

Wie gut, denke ich, daß ich nicht toll bin. Und schreibe:

"Du bist nicht toll! Jeder ist jetzt toll. Und wenn Du nicht toll bist, dann bist Du, bist Du... und dann überlegen sie auch nicht lange und schnaufen... auch kein guter Mensch! Du wirst schon wissen, wieso.", denken sie dann noch. "So." Und wissen nicht, wieso. Aber sie denken sowieso.

Wie gut, daß ich noch dazu kein guter Mensch bin, denke ich aufatmend. Dafür habe ich zuviel Erinnerung und zuviel Phantasie.

Das mit dem Tollsein ist wie Humor: Humor hat ja jetzt auch jeder. Aber wehe nicht.

Behaupte nie, ein Mensch hätte keinen Humor. Dann bist Du garantiert nicht toll. Für jemand anderen. Und das ist sehr wichtig. Immer etwas für andere sein:Das ist das Sein.
Das ist dann schlimmer als ein Mörder zu sein. Die werden zumindest resozialisiert. Humorlose Menschen nicht. Niemand resozialisiert humorlose Menschen. Da gibt es nur einen Ausweg. Man kann nur dreist behaupten, man hätte Humor: Dann ist man zwar Betrüger, aber immerhin kein Mörder.
Aber wehe, Du behauptest, ich hätte ihn nicht! Dann ermordest Du mein Tollsein!
Bei allem Humor, da hört 'der Spaß' auf.
"Dann werde ich zum Mörder Deiner Spezies! Nein. Auch die Kleinen!"

Dann wird man gleich humorlos. Fast so schlimm, wie jemanden vorzuwerfen, man hätte keine Phantasie. Aber auch nur fast so schlimm, denke ich.

Denn Phantasie hat ja schließlich jeder: Ich zeige Bilder! Die sind phantastisch.

Kein Wunder, denke ich, daß nur noch Bilder gezeigt werden, die man geschenkte 60 Sekunden betrachtet. Die Phantasie beschränkt sich auf beschränkte 60 Sekunden. Die Bildunterschrift: Das ist dann die Geschichte unter dem Bild. Ich meine, die ganze Geschichte unter dem Bild. Es gibt eine ganze Industrie, die Geschichten nur noch mit Bildunterschriften erzählt.

Ein Satz erzählt mehr als zwei Sätze. Diese These unterstütze ich nicht.

Ab dem dritten Satz wird aus einem 'Hallo' eine Geschichte:

Wie geht's weiter? Gibt's eine Pointe?
Kommt's zum Kuß, kommt's zur Tragödie? Ist der Kuß nicht schon die Tragodie? Der Kuß hat Herpes. Dann ist es eine Tragödie. Oder verschwende ich nur meine Zeit? Du hast 60 Sekunden, mich vom Gegenteil zu überzeugen. Der erste Eindruck zählt. Tick, tick, tick.

Wie gut, daß ich mich stets mit dem zweiten Eindruck vorstelle. Für 60 Sekunden fehlt mir die Zeit, denke ich.

Kann es sein, daß man sich der Außenwelt verweigert, ambivalent zu sein? Zwiespältig zu sein.
Widersprüchlich zu sein. Höchstens mal anrüchig sein, hihi.

Und dann, spätestens nach 59 Sekunden drifte ich dann wie jeder Mensch ins schmähende Denken ab: Ich bin kein guter Mensch, sagte ich doch.

"Du kennst mich doch gar nicht!" ist der gebildete Satz, den ich von gebildeten Menschen immer lese. Sehr reflektartorisch. Jeder Mensch ist der Maßstab seines Gegenüber. Und jeder Mensch kennt sich nicht. Und man ist schon zufrieden, daß man sich selber kennt, wenn man sich in anderen wiederfindet.

Wie Klaviertöchter, die mit Ghetto-Rap kokettieren und sich dort in Ghetto-Pose wiederfinden. Irgendetwas müssen sie ja dort verloren haben. Wie aufregend, dieser Asozialen-Schick.
Und so tiefgründig. Und so karitativ. Für eine Klaviertochter sich für Menschen aus der anderen Gesellschaft einzusetzen. So befriedigend: "Ich verstehe euch!"

"Du verstehst nichts, wenn Du nicht die Erinnerung hast, daß 12 Stunden Ghettoblaster jeden Reim zerdonnert.",
denke ich nur dabei schmähend und genieße meine Ruhe.

Fast so phantasievoll, wie eine Klaviertochter nach Afrika jettet und sich lächelnd mit Schokobabies ablichten läßt. Ach, was bin ich für ein guter Mensch. Gleich mal zeigen!

Damit jeder in meinem Panini-Album sieht, was für ein guter Mensch ich bin, denke ich und bin kein guter Mensch dabei. Das ist dann die ganze Geschichte. Vermittelt mit Bildunterschrift:

"Meine Geschichte, die ich mit euch teile, ist, daß ich ein toller, guter Mensch bin.
Sammelt mich in eurem Panini-Album! Vielen Dank für Eure Inspiration! Love!"

Mein Nachbar Rolf, der mir immer Schokorollentorten vorbeibringt, was auf Dauer wirklich nervt,
war 8 Jahre in der Forensik.
Man kann sich denken, weshalb. Seine Bewährung läuft bald aus. Ich finde das auch nicht komisch.
Aber das sind echte Geschichten. Mein alter, lieber, immer gesöffbenebelter Deutschrussen-Nachbar hatte einen Herzinfarkt und ist vom Fahrrad gefallen. Bei seiner Wohnungsauflösung hat sich Kofi, mein lieber "Wie geht's, Kofi? Alles gut? - Alles scheise. Kannst Du mir 5 Euro leihen?"-Nachbar,
Johanns Knarre mit vollem Magazin genommen, sagt Rolf. Aber das muß ja nicht stimmen, was Rolf so erzählt. Er erzählt auch, daß Kofi auf seine neuen, weißen Turnschuhe neidisch ist. Was ich bezweifle.

Jeder hat so seine Geschichten. Sie finden statt. Aber sie finden nicht auf Photos statt. Oder sie finden nur als Aufregung über politische Petitessen statt. Bei denen man gar nicht hinterherkommt, wer sich denn jetzt eigentlich mehr über wen aufregt.

Aufregung ist keine Geschichte.

Aber zeigen gleich mit ihrer Aufregung, ihrem Panini-Album, wie toll sie sind.

Das Aussterben der Erinnerung schlägt sich nieder in Geschichten.

Es gibt im ganzen Deutschen vielleicht zwei Autorinnen, die man lesen kann.
Vielleicht grübeln sie, vielleicht nicht. Vielleicht nehmen sie auch nur ihre Gedanken vor dem Computerspiegel mit einem Diktiergerät auf.
Beiläufig. Und merken es gar nicht. Was soll's.

Ich bin nicht toll. Ganz objektiv nicht.
Ich muß auch nicht mehr für andere sein.
Ich bin Geschichte.

Wer das kapiert hat, muß auch nicht mehr für andere toll sein.

Für das Tolle habe ich meine Phantasie. Und meine Erinnerung. Und meine Geschichte. Die lese ich.
Die habe ich für mich ganz allein.

Und Rolf und Kofi. Die haben auch Geschichte.
Keine schöne. Aber schön sehen sie auch nicht aus.

Ich finde hier nichts, was mir von Nutzen ist, denke ich noch, während ich meine Geschichten zu Ende lese.






*









Samstag, 28. Oktober 2017

Interview mit Greta Garbo


Pierre Roy - Gefahr auf der Treppe, 1927/1928



Der Cassetten-Rekorder lief. Er spielte: Nick Drake – Place To Be.

Im runden Flug durch das Zimmer. Verkehrt herum.

„Jenni, mach dich fertig. Es ist soweit.“
Mutter schaute durch die Tür.

„Ja, gleich.“

Sie blieb stehen. Sie hielt ein Tuch in der Hand. Rotweiß. Sie kam aus der Küche. Sie war noch dabei das Geschirr abzutrocknen. Der Flur lag im Dunkeln. Das Licht kam aus der Küche am Ende. Auf der rechten Seite sah man das Wohnzimmer. Die Tür mit einer Glasscheibe war einen Spalt geöffnet. Der Fernseher lief. Man sah das Flackern an den Wänden. Man hörte Stimmen. Mutter sah wieder her.

„Gleich.“

Jenni sah nicht hoch. Sie blätterte in einem Hausaufgabenheft. Sie lag auf dem Boden. Von Cassetten umgeben. Mit der Aufschrift: Nicht überspielen. Sie bekaute einen schwarzen Filzstift. Sie drehte sich um. Die Beine baumelten in der Luft. Sie las auf dem Bauch weiter. Ihr Schlafanzug war kariert. Rotweiß. Wie das Geschirrtuch.
„Was liest du denn?“
Sie wartete. Dann schloß sie die Tür. Ein Vorhang hing an der Seite.
 Jenni drehte den Kopf, stellte den Cassettenspieler auf Pause und lauschte in den Flur hinein. Als sie Klappern des Geschirrs aus der Küche vernahm, griff sie unters Bett und holte ein Buch hervor. Groß und schwer. Mit glänzendem Einband. Der Titel in goldenen Buchstaben:

Griechische Mythologie
von A wie Abas bis Z wie Zeuxo
Über 200 farbige Abbildungen.

Sie legte es aufs Bett und schlug es auf, behielt die Tür aber weiter im Auge. Mit glänzenden Augen blätterte sie nicht zum ersten Mal darin. Erregt und angeekelt zugleich schaute sie sich am liebsten die Bilder an: Achilleus war dort zu sehen, der schöne Held von Troja, wie er an seiner Ferse Verletzung qualvoll stirbt, Agamemnon und Adonis, Geburt und Mord, die grausamen Amazonen. Die ihre männlichen Neugeborenen töteten, wenn nicht gleich, so doch Arme und Beine brachen, um sie so nieder zu halten. Aigisthos und Klytaimnestra. Die schöne Amphitrite von Max Klinger. Aphrodite, die Göttin der Liebe. Dem Schaum des Meeres entstiegen – oder war es die Scham? –, um an Land zu wirken: Als die Sirenen es ablehnten, ihre Unschuld an die Götter oder die Sterblichen zu verlieren, verwandelte Aphrodite sie in Vögel. Jenni las:

„Als Aphrodite die Tür zum Orchideengarten findet, öffnete diese sich weit und wunderschöne Gestalten erschienen. Von herzerweichender, jungfräulicher Schönheit, alsbald von jedem Vorbeiziehendem liebestoll begehrt. Die Bittflehenden, Aischylos.“

Artemis, die keusche Göttin des Mondes. Auch Patronin der Jäger, der Fischer, der Geburt und unverheirateter Mädchen. Frauen, die bei der Geburt starben, sollen von ihren Pfeilen getötet worden sein. Athene, die in voller Rüstung dem gespaltenen Kopf von Zeus entsprang. Atlas mit der Last des Himmels. Jenni sah zur Decke.
Milchig war sie zugegen. War ihr Himmel, verbarg mehr als weiße Farbe. Sie blätterte weiter. Sah den Hass von Atreus, Thyestes. Lachte über Bellerophons Fall vom Himmel in einen Dornenbusch, dem eine Bremse zum Verhängnis wurde, weil sie Pegasus stach, die der Göttervater Zeus schickte, während er dem Olymp zu nah gekommen war. Kassandra in den Augen der Klytaimnestra. Von John Collier.
Kronos, der seinem Vater die Genitalien abschnitt und der seine Kinder fraß, bis auf Zeus, den seine Mutter durch einen Stein ersetzte, das Orakel. Daphnis Schicksal. Echo und Narkissos. Die Metamorphose des Narziß von Salvador Dali. Der traumlose Schlaf des Endymion, in dem er fünfzig Töchter zeugte. Soviel Licht verdiente man sonst nur als Strafe, dachte Jenni bei dem Bildnis von Anne-Louis Girodet de Roussy-Trioson. Sprachlos. Die Erinnyen versetzten sie in Starre.

Eros, der Sohn der Nacht, der aus einem silbernen Ei geschlüpft sein soll. Er entflammte Herzen mit seiner Fackel. Oder verschoß seine Pfeile. Eris, die Streitsäende, warf den Zankapfel. Mutter Hera soll sie durch die Berührung einer Pflanze empfangen haben. Eurydike, die ein Blick nur für alle Ewigkeit strafte. Ganymed. Wieder Hera. Die Mutter, die Amme Herakles, der durch Heras Milch unsterblich wurde…

Jenni hörte Geräusche vom Flur. Sie schaute auf. Schnell überflog sie einige Seiten. Schritte kamen näher. Sie hatte sich in ein Bild verliebt, wollte es noch mal sehen:

„John William Waterhouse – Hylas und die Nymphen.“

Sie wurde rot, weil sie zu lange auf die Busen starrte. Der Blick der Mädchen, die vielleicht so wie sie waren, machte sie neidisch. Die Hand am Jungen.
Eifersüchtig warf sie das Buch unters Bett. Eine Seite schlug sich auf, wie der Zeiger eines Glücksrades, blieb beim H stehen. Ein Bild zog sie in ihren Bann. Trocknete die Lippen. Mutter rief aus dem Flur, sie solle sich beeilen.
„Jenni?“
Sie stand vor der Tür. Sie bekam keine Antwort. Weil sie nichts hörte, legte sie die Hand auf die Klinke. „Jenni?“

Ein Mädchen kauert in einer Ecke. Auf dem Boden einer Schachtel. Blind. In Händen eine zerbrochene Leier. Gebunden: George Fredericks Watts – Hoffnung.

„Jenni?“ Mutter öffnete die Tür. Jenni schlug das Buch zu und schob es tief unter die Matratze. Sie legte anderes davor. Schnell sprang sie aufs Bett und tat so, als ob sie Musik hörte.
„Jenni, warum antwortest du nicht…“
Sie sah durch den Spalt. Jenni nahm die Kopfhörer ab. „Mach dich jetzt bereit.“
„Ja, Mama.“ Mutter ging. Jenni betrachtete das gelbe Laken unter der Decke. Ein schwarzer Flicken lugte hervor. Der Filzstift lag neben dem Hausaufgabenheft auf der Kommode. Daneben eine Schere. Still zog sie die Decke zurecht. Dann stand sie auf und ging zum Bad.


*


„Nun, komm. Mach schon.“ Mutter strahlte aus der hellen Küche in den dunklen Flur. Sie räumte das Geschirr in klirrende Schränke. Ich nickte. Dann schloß sie die Tür. Befallen von Ruhe. Barfuß lief ich über den Teppich. Ich war zehn.

Ich kam am Wohnzimmer vorbei. Verschwommen sah ich Vater vor dem Fernseher sitzen. Das Flackern brachte kaum Licht in den Flur.
 Vater drehte sich nicht um. Er trank aus einer Flasche Bier. Er sah sich einen Bericht an. Auf dem Fernseher konnte ich ein Gesicht erkennen. Er tönte:

„…das Leben schien zu sein wie Greta Garbo: Eitel, zynisch, grandios.“ 

Heimlich sah ich durch den Spalt. Eine Frau, das Gesicht hell erleuchtet.
Sie lächelte, lachte mehr aus, wackelte mit dem Kopf, schneller, immer schneller, bis die Haare durcheinander fielen, zwinkerte.
Ein Stummfilm, der nur diese eine Frau zeigte, in einem Studio gedreht, das leer schien. In Schwarzweiß. Obwohl das keinen Unterschied machte, hatte unser Fernseher sowieso keine Farbe.

Der Film zeigte Ausschnitte aus ihrem Leben. Nein, aus ihren Spielfilmen. Fast nur ihr Gesicht war zu sehen. Mehr weiß, als schwarz. Weich ausgeleuchtet. Dann kam der Ton:

„…sehen Sie heute exklusiv das Interview mit einer Göttin! Lernen Sie die Diva kennen, wie Sie es noch nie erlebt haben. Eine verschollene Filmrolle mit Tonproben der Heroin macht es möglich. Aus den frühen 30er Jahren, gefunden im Nachlaß einer ehemaligen Komparsin. In einer verstaubten Kiste auf dem Dachboden. Eine Sensation! Darauf: Probeaufnahmen, die der Stummfilm-Star auf Drängen der Studiobosse machen mußte. Der Tonfilm hatte längst Einzug gehalten. Doch seien Sie gewarnt: Wegen rechtlichen Problemen, des anzüglichen Inhaltes wegen, und rechtlicher Einwände der Erben, der darauf zu sehenden, wurde der Filmausschnitt nie der Öffentlichkeit gezeigt. Die Rechte sind geklärt. Sehen Sie jetzt, ungekürzt:

Ein Interview mit Greta Garbo

Wir bitten, die schlechte Tonqualität zu entschuldigen.“

Eine Kulisse. Farbenprächtig. Der Hintergrund. Die Kamera schwenkte hin und her. Beleuchter sah man, in komischen Sackhosen, kariertem Hemd, Weste und Schirmmütze. Einer hielt sie, ein anderer kippelte auf der Leiter. Sie merkten, daß sie gefilmt wurden und winkten. Sie lächelten. Die Kamera schwenkte durch das Studio. Fuhr aus der Kulisse, zeigte das Skelett, die nüchterne Technik hinter dem Studio: Türen. Der Regieassistent lief ins Bild, zerfahren, eine Nickelbrille auf der Nase, ein Skript in Händen, schaute ungelegen, reichte letzte Änderungen in schmale Hände. Der Regisseur saß auf einem erhöhten Stuhl und quälte sich zu einem Lächeln. Geheimratsecken, Durchdringeblick, zu schnell ergraute Haare. Ein Sprachrohr auf dem Boden zur linken. Betriebsames Schweigen. Die Kamera schwenkte herum. Die Kulissen kamen wieder in den Blick. Eine Leinwand, Aufbauten, die noblen Häuserfassaden glichen. Blumenkästen. Blumenmädchen zupften an Blumengirlanden. Eine hübscher als die anderen. In hohen Schuhen mit groben Absätzen. Kurzen Röcken, Strumpfhosen. Sie waren unecht. Die Nylons, wie die Blumen. Das blonde Mädchen nicht. Sie guckte keck in die Kamera und streckte frech ihre Zunge heraus.

Ich mußte lachen. Verkniff es mir aber. Wollte nicht, daß Vater mich bemerkt.

Das Mädchen in Blond zog die Kamera heran. Machte unbeholfene Bewegungen, aber verführte sie. Fuhr sich durch die Haare, probierte Blicke in Nahaufnahme. Blonde Locken, strahlende Zähne, eine kurze Nase, hübsche Augen, die lachten.
Dann hörte man Getrampel. Geschimpfe, knallende Türen. Sonnenlicht platzte herein. Echtes Licht. Erschrocken blickte das Mädchen zur Seite. Schnell nahm sie ihren Platz ein, zupfte wieder an ihren Blumen. Aber, bevor der Lärm näher kam, warf sie der Kamera noch einen neckischen Blick zu, machte den Lärm nach, hob rümpfend die Nase, wackelte mit Kopf und Schultern, stolzierte, streckte erneut die Zunge raus und lächelte verstohlen. Ungern  schwenkte die Kamera auf den Lärm.

Leute liefen umher, schwärmten herum, kreisten, die Kamera fuhr heran. Schminkten, bürsteten, zupften, ertrugen auch das Schimpfen. Wichen zur Seite, letztes Richten eines weißen Kragens, geschwungene Augenbrauen, schnell noch ein Lächeln aufgesetzt, und – ein grässlicher Akzent, schiefe Zähne – gaben die Sicht frei auf Greta Garbo:

„Clarence… Clarence Darling, hör zu, ich habe Bert…“
„Kamera läuft… Ton?“
„Ton läuft.“
„…Burt…“
„…Burt gesagt, ich kann das nicht. Mir paßt das virklich nicht. Venn ich reden vill, dann rede ich mit meinem Nähkräntschen, Darling.“
„Oh, Greta Darling! Wie dumm von mir. Das wußte ich nicht! Kinder… warum kümmert sich denn keiner?“ Greta verschwand hinter einer Traube. Maskenbildner, Designer, Kümmerer zupften hier und da, sie tupften, sie schwirrten. Greta kam wieder frei. Clarence, der Regisseur, trat vor die Kamera und hielt ihre Hand.
„Liebes, Darling, du weißt, du kannst immer auf mich bauen. Wir machen nur ein paar stills, dann gebe ich dich frei.“ Er verschwand wieder aus dem Bild. Greta zögerte, setzte sich dann doch in Pose. Sie blickte einmal hoch, einmal hoch und nach links, einmal hoch, nach links und nach unten. Einmal gar nicht. Ungeduldig blies sie ihren roten Pony aus dem Gesicht.

„Vas soll das?“

Ganz deutlich konnte ich ihre roten Haare sehen. Nur ihre Haare gaben die ganze Farbe preis.

„Die Leute wollen alle nur noch den Ton, Liebes. Du mußt nur du sein. Sie lieben dich.“
„Den Ton. Vollen sie etwa deine Furtse hören, Leon?“
„…Clarence…“
„Egal.“ Sie ignorierte das Murmeln aus dem Hintergrund. Stattdessen stahl sie allen die Schau. Sie zeigte ihnen die verführerischsten Augen, die sie je gesehen hatten.
„Als ob man vahre Gefühle nur mit Schluchtsen, Seuftsen, Rülpsen ausdrücken könne! Die Bilder kommen aus dem Innersten. Dort drinnen“, sie faßte sich ans Herz, für die Kamera an den Busen, „hört man nur die Stille.“

„Schnitt. Das Ganze noch mal. Aber diesmal ohne Busen.“ Greta wiederholte ihren Auftritt. Sie übertraf sich.
„Nachher vollen sie gar noch Farbe! Voher soll ich all das Rouge hernehmen? Ich hab es gesehen. Viel tsu grell. Vie bei Photoplay. El Bee hat es mir getseigt. Daß mir die Augen tränten. Leon, gib mir ein Taschentuch… Diese modernen Tseiten, du veißt, vie ich sie hasse.“
Ein Helfer reichte ihr das Taschentuch. Greta nahm es, faltete es und tupfte sich die unsichtbaren Tränen weg. Sie tat es für die Kamera. Sie tat es gut.
„Nur das Licht. Mein Gesicht. Meine Gefühle. Mehr braucht großes Kino nicht. Rembrandt hat auch nur in schwarzveiß gemalt.“
„…Farbe, Darling, er hat in Farbe gemalt.“
„Ach, seine Bilder sind so düster. Das ist wie schwarzveiß… Vo ist da der Unterschied?“
Clarence gab das Zeichen für eine kurze Pause. Greta wälzte sich in ihrer Traube. Träger trugen einen schwarzen Stoff herbei. Sie rahmten Greta ein. Man hörte den Regisseur mit seinem Assistenten flüstern: „Was ist? Wer ist dran?“

„L. B. ist am Apparat…“
„L.B.?“
„Er will wissen, wie es voran geht.“
„Will er mich sprechen?“
„Nein. Ich soll dir nur sagen, also, wörtlich… vermassle es nicht. Er hat aufgelegt. Er klang sauer. Er schickt jemanden vorbei. Ist das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen?“
„Billy, Junge, komm mal her… Wenn du’s hier zu was bringen willst, mußt du lernen, daß es keine guten oder schlechten Zeichen gibt. Es sind nur Nuancen desselben Wahnsinns. Niemand ist perfekt. Außer Jesus C. Gott, Herbert Edgar Hoover und Louis Burt Mayer. Vergiß die beiden ersten. Der Rest ergibt sich.“

 „Clarence Darling, können wir weitermachen?“ Greta wurde ungeduldig.
„Also gut, Kinder. Alles auf Anfang.“
„Vas soll ich denn sagen?“ Jemand brachte Greta ihren Text. Sie hielt ihn umständlich in halber Höhe. Die Kamera bemühte sich das Blatt auszublenden. Aber man sah, daß sie ablas. Gretas Augen ratterten im Takt der Silben. Sie strahlte dennoch vor der schwarzen Leinwand.
„Gut so! Das machst du wunderbar! Ja, dreh dich in dein Licht. So ist es gut! Jetzt sprich!“

„…Ah, that suits me down to the ground. Chee, I needed that bad all right, all right.“
Für alle war es eine Qual…

„…Kamera läuft.“
„Ton?“
„…Ton läuft.“

„Greta, dein Vater hat dich verlassen, du bist allein in dieser fremden, kalten Stadt – was sag ich! –, auf der Welt, du betrittst diese verruchte Bar, Nebel liegt über dem Hafen, du ziehst deine freudlose Runden – an was denkst du? Stell’s dir vor. Und… bitte!“

„Gimme a visky, Chincher on the table, me on top – and don’t be stingy, baby! Ha, ha.”

„Cut! Das ist nicht witzig. Laß das Irving nicht hören.“ Clarence hielt sein Sprachrohr in die Traube. „Niemand hat das gehört!“
„Ach, tsum Teufel damit! Du hast gesagt, ich soll mich in diese Nutte hineinversettsen. Ich soll sprechen wie eine Hure, also sprech’ ich!“
„Denk an deine Fans, dachte ich eher. Sind einfache Leute.“
„…Männer. Aber ich verstehe sie. Hätten Frauen einen Kittsler, so groß wie Valentinos Pimmel, vürden sie auch den gantsen Tag nur an Sex denken.“
„Woher weißt du, daß er überhaupt einen hatte?“
„Alla hat es mir erzählt.“
Madame’s Geschichten gefallen nicht jedem hier.“
„In ihren Bungalows, heißt es, vird mehr geschwittst als im LAAC. Du solltest dir die Tapeten dort ansehen. Sie kleben ohne Kleister an den Vänden.“
„Meine Frau läßt mich nicht aus dem Haus.“
„Dann blick' hinaus! Gebrochene Hertsen nimmt man für Fensterglas. Und Fenster, vie man sieht, gibt es überall. Oder hast du Angst, daß Irving es erfährt? Du weißt, Irving hat ein Herts, ein schwaches tswar, aber er hat eins.“ Greta lächelte.

„Wie fährt sich dein neuer Mercedes, Greta Liebes?“ Ihr Gesicht fror auf einmal ein. Sie schaute in die Kamera, als hätte die ihr gerade ins Gesicht gespuckt. „Reitet es sich, wie ein wilder Mustang oder ist es was für die große Strecke. Ja, halte das.“
Sie haßte ihn dafür, daß die Kamera weiterlief. „Irving… Irving, bist du da hinten?“
„Schwarz mit weißen Ledersitzen, nicht wahr. Das Beste daran sei der Dreispitz…“
Stern sagt man…“
Stern… ja, genau. Wie bei einem Flugzeug. Weißt du, warum drei Flügel für einen Rotor besser sind als zwei? Sie lassen sich fest verankern. Nimmt man zwei, dann läuft er unrund.“
„Irving, du mußt mit Sam reden. Salka…“
„…Salka stiehlt mir die Zeit mit ihren verrückten Ideen. Hollywood braucht keine neuen Gräben. Sie würden das Tal nur überfluten. Auch kann man sich die Hände verbrennen…

Wenn man anfasst, was Hollywood gehört. El Bee möchte dich sehen. Ich glaube, er sollte dir einen Duesenberg schenken.“

Greta brach auf. Die Kamera ließ den Trubel ziehen. Sie blieb auf der Kulisse stehen. Nichts schien mehr zu leben. Bis auf die Blumen. Die Mädchen von eben zupften sich zurück ins Bild. Genügsam. Schweigsam. Der blonde Lockenkopf von vorhin drehte sich zur Kamera. Ganz langsam fuhr sie heran. Im Hintergrund hörte man aufgebrachte Stimmen:

…Greta talks! Greta darf nicht reden! Sie redet zuviel Unsinn. Halte sie von der Presse fern …und schmeiß das Band weg, ich will keinen Skandal. Ihre ersten Worte sollen nicht die Worte einer Hure sein. Und wenn… dann sollen sie so klingen, als ob die Mutter Gottes sie persönlich diktierte. Setze Francis darauf an. Die Leute wollen nicht sehen, daß sie wirklich eine Hure ist. Auch wenn sie’s glauben, weil sie zahlen. Die goldene Zeit ist vorbei. Die Zeit der Skandale ist vorbei. Jetzt kommt der Ton. Und er bringt das Klingeln. Hollywood ist erwachsen geworden. Reicher. Wir sind nicht über Leichen gegangen, nur damit der Traum real wurde. Der Film wurde real! Das ist Amerika. Wen interessiert schon ein fetter Mann? Die Drogen. Oder daß ein Spanier den Iren tötete. Der Drogen wegen. Dem Geld. Den Ärschen. Der Vergangenheit? Hollywood war schon immer geil. Wer wem den Arsch hinhält, ist egal. Tony versorgte alle schon mit Engeln. Wichtig ist nur, daß Hollywood als letzter in den Arsch fickt. Nicht wem. Vergiß, was war. Darauf habe ich fünfzehn Jahre gewartet:
Die Karten sind bezahlt. Die Reihen dunkel. Der Vorhang aufgezogen. Der Film hat angefangen! Wenn sie schon einem singenden Neger aufs Maul starren, überlege: Greta talks! Damit ficken wir allen in den Arsch. Zuerst gaben wir ihnen Namen, dann Poster, dann Fan-Magazine, dann Götter. Jetzt geben wir ihnen Götter, die sprechen! Wenn sie zu Hause beten, werden diese Stimmen antworten. Wenn sie hungern, um ins Kino zu kommen, werden wir sie mit unseren Worten füttern. Was sie nicht wissen müssen: Wir geben ihnen die Götter. Wir suchen sie aus. Und du, Leon, gibst ihnen eine sprechende Diva. Wie, ist mir egal. Und wenn du ihrer Schlampe in den Arsch ficken mußt! Wir werden machen, was wir immer machen: Geld. Das ist Show-Business!“

Mit dem Tonfilm kam etwas Seltenes in die Studios, nach Hollywood: Stille kehrte ein. Die Beleuchter wackelten nicht mehr mit ihren Leitern, die Kulissenbauer liefen nicht mehr umher, sie stellten sich in Pose, die Besucher schnäuzten sich nicht mehr die Nase.

Die Kamera sperrte das Blumenmädchen in Nahaufnahme ein. Sie umwarb mit tiefer, ruhiger Stimme. Sie sprach:

„…und jetzt seid ihr beide beim Film.“
„Ja! Ha, das ist alles so aufregend!“ Das Mädchen biß sich auf die Lippen. Sie rollte ihre Augen. Sie glänzten.
„Wie heißt du?“
„Priscilla… Priscilla Mul… Lane.“
„Du bist wunderschön.“
„Oh, danke. Ich weiß nicht, was ich…“
„…und wer ist deine kleine Freundin da hinten.“
„Die Brünette?“
„Ja…“
„Oh, das ist Rosemary…“, sagte Priscilla schüchtern.


„Und jetzt seid ihr beide beim Film…“


Vater schaltete den Fernseher aus. Er sah dem Knistern nach. Er stellte seine Armhaare auf, indem er mit ihnen an der Mattscheibe entlang strich. Das hielt ihn gefangen. Bis das Gesicht durch sein Bild erblich. Schnell lief ich den Flur hoch zum Badezimmer und drückte mich durch die Tür. Ich vergaß, das Licht anzumachen. Ich merkte, daß ich außer Atem war.
Vorsichtig schob ich meine Nase durch den Spalt zwischen Tür und Rahmen. Niemand war im Flur. Ich suchte mit der Hand den Schalter. Ich fand ihn endlich. Ich drückte ihn herunter. Es machte Klick. Ich sah zum Wohnzimmer, dann zur Küche. Ich schloß die Tür. Das Badezimmer gehörte mir.

Weiße Kacheln leuchteten hell, doch waren kalt an nackten Füßen. Der Raum war groß und viereckig. Ich stellte mich auf eine bestimmte Fliese, unter der ein Heizungsrohr verlief. Sie wärmte meine Sohlen. Ich wartete, bis ich meine Zehen wieder fühlte. Dann ging ich zum Klo und machte den Deckel hoch und zog die Hose runter. Ich setzte mich hin. Ich pinkelte. Ich sah das Bad aus dieser Perspektive, die Kacheln, auch die Tür. Unter dem Spalt war es dunkel. Noch einmal warteten Tropfen auf Gespür. Ich verzerrte mein Gesicht und preßte. Dann sah ich Schritte. Unter der Tür. Sie bleiben stehen.

„Ich hör dich nicht.“ Mutter stand im Flur.
„Es dauert noch.“, antwortete ich und ließ mir Zeit.

Wieder ließ ich es Plätschern. Dann veränderte sich der Ton, wirkte gedämpft. Ich schaute durch die Beine in die Schüssel, konnte aber nichts erkennen. Ich pinkelte weiter, wieder sah ich Schatten unter dem Türspalt. Etwas war anders, diesmal bewegten sie sich nicht. „Dauert nicht mehr lange.“ Bekam aber keine Antwort.
 Ich griff zum Klopapier. Griff ins Leere. Eine leere Rolle war im Spender. Ich sah mich um. Auf der Heizung stand eine neue. Ich streckte mich, war aber zu weit entfernt. Ich stand auf und spülte. Ich blieb über der Schüssel stehen, wollte den letzten Tropfen nicht an die Fliesen verlieren. Ich wagte mich vor. Wieder griff ich nach dem Klopapier. Der Schlafanzug fesselte meine Beine. Ich wackelte, aber schaffte es. Hielt es in der Hand. Ich strahlte. Ich versuchte, das erste Blatt vom Kleber zu lösen. Eine fitzelige Angelegenheit. Ich zog nur dünne Streifen ab, herum und wieder rum. Scheiße, verdammt!, schrie ich in das letzte Rauschen der Spülung hinein. Ungeduldig riß ich an den falschen Stellen. Bis ich merkte, wie ein Tropfen auf den Boden fiel und mir auf die Füße spritzte. Bah! Sah nicht, daß er rot war. Wütend riß ich an irgendeiner Stelle – und hielt jetzt dicke Lagen in der Hand. Die angefressene Klorolle in der anderen. Ich wischte mich unten ab und warf die Schnipsel in die Schüssel. Schaute mir den angefressenen Apfel dabei an. Zerzaust. Trotzdem mußte ich lachen. Ich spülte und sah noch im letzten Moment das Papier hinunterrauschen, blutig, das Wasser rot und dunkel. Ich blickte tiefer in den Strudel. Plötzlich stockte es – dann schwoll es an. Aus Angst drückte ich noch mal die Spülung. Rasend stieg das rote Wasser weiter hoch. Gebannt hielt ich den Knopf gedrückt. Wollte, daß das die Verstopfung wegspült. Bis das Wasser den Rand erreichte. Ich mich spiegelte und vom Rand ein Gesicht erkannte, Bäume und einen trägen Himmel. Ein Mädchen mit roten Strähnchen. Ich erschrak. Im selben Augenblick rauschte das Wasser ab.


*


Nichts deutete darauf hin, daß etwas anders war. Vater schickte mich in den Keller. Er wechselte eine Glühbirne in der Küche aus. Diesmal behielt er den Dietrich für sich.
„Ist offen.“ Dunkel.

Ich schloß die Wohnungstür hinter mir und trat auf ein Podest. Ich blickte gleich auf die großen Fenster, durch die morgens die Sonne strömte. Über mir mündete der Türrahmen in eine strahlenförmige Kuppel, die mit ihren Stuckverzierungen an vergessenen Glanz erinnerte, der noch stärker gewesen wäre, hätte man, als deren unscheinbare Mitte, nicht das runde Fenster zugemauert. Wohl der großen Fenster wegen, die nachträglich eingezogen worden waren, weil man es nicht mehr brauchte. Vater nannte es die Kanzel. Mit dem Blick in die Tiefe, durch die Brüstung in das großzügige Treppenhaus, führte eine steile Treppe vom Podest, die bei jedem Schritt rumorte, zum Absatz der Unterwohnung. Dort, eigentlich, begann erst das richtige Treppenhaus. Die Treppen wurden breiter. Steinerne Stufen ersetzten Bretter, lautes Hallen, hölzerne Handläufe, dicke Pfosten. Die trotzdem wackelten, wenn man fester an ihnen zog. Es war ein altes Haus mit dicken Mauern, hohen Decken, vielen Zimmern. Mit dünnen Wänden. Nach dem Feuer sind wir in den fünften Stock gezogen. Unsere Wohnung war wie ein Schlauch. Unterm Dach gelegen.

Vom Podest aus blickte ich hinunter. Ein weiter Abstand trennte die Treppen, so daß in der Mitte ein Loch klaffte. Beim Einzug stellte einer der Möbelpacker Umzugskisten gegen das Geländer. Ein zweiter kam und legte mangels Platz einen Stuhl auf eine von denen. Als dann Vater die Tür öffnete – sie ging nach außen auf –,  schlug sie dagegen und der Stuhl fiel in die Tiefe. Er zersplitterte tief unten in der Eingangsdiele. Manchmal träumte ich davon, auf das wacklige Geländer zu steigen und den Sprung hinüber zu wagen. Doch zu weit war das andere Geländer entfernt, als daß es gelingen könnte. Ich sah nach der Tür. Zu verlockend, es trotzdem zu wagen.

Ich hing diesem Gedanken nach, aber hüpfte stattdessen fröhlich die Stufen hinunter. Ich sprang über eine hinweg und landete knallend auf der übernächsten. Ich blickte zurück und fand jetzt Gefallen daran. Ich wiederholte es. Vielleicht war es der Moment der Schwere bei jedem Aufkommen, der mich fesselte. Als ich springend so den nächsten Absatz erreichte und sich die neue Treppe unter mir erstreckte, es langweilte mich, nur eine zu überspringen, versuchte ich mich an mehreren Stufen. Nach zweien und mehr Druck auf den Knien, und freundlichem Unbehagen, freute ich mich auf den nächsten Absatz mit seinen dreien. Ich sprang – und es war schon komisch, so lange in der Luft zu bleiben –, landete unglücklich, aber hielt mich auf den Beinen. Doch der Druck stauchte mit zusammen, wie ich es noch nie erlebte. So sehr, daß ich es für den Rest des Treppenhauses mit einfachem Laufen probierte. Nicht lange, dann entdeckte ich das Schwingen um die Ecken an den Pfosten. Das bescherte mir, so sie nachgaben, neues Taumeln.

Ich schwang um die nächste Ecke, als ich einem roten Luftballon begegnete. Er schwebte an mir vorbei nach oben. Ich lehnte mich übers Geländer und sah ihm nach, wie er höher zur Kuppel stieg. Von unten hörte ich Krach. Poltern. Das Aufschlagen und Einrasten der Haustür. Ich sah schwere Kisten, die in die Diele geschoben wurden. Die Hände, die sie schoben. Ruhe. Dann erneutes Schaben. Schwere Koffer, die sich zu den Kisten gesellten. Ein rechteckiger Kasten, der sich unter einer Decke verbarg. Ein Muster, das sich haßte. Ein Griff ragte heraus. Die Hände strichen über die Oberseite, verschwanden wieder. Die Zipfel wackelten nach. Ich fragte mich, was wohl darin war. Nochmal kamen Schritte. Die Hände legten einen Gitarrenkoffer aus Leder auf den bedeckten Kasten. Fremdartige Aufkleber klebten daran. Fremder Geruch drang nach oben. Die Haustür fiel ins Schloß. Schleppen, schwere Schritte, Stöhnen bestiegen die Stufen. Ich lief die nächste Treppe hinunter, bog gerade um die Ecke, als mir der neue Nachbar mit dem Kasten und dem Gitarrenkoffer entgegen kam. Ein junger Mann mit Zopf, gehalten von einem roten Band. Er war unrasiert. Er trug ein Jackett über Jeans, und unter dem Arm, über der Schulter den Gitarrenkasten. Er schlich an mir nach oben ohne mich zu grüßen, doch er nickte und verzog die Miene, als er mich sah. Er verschwand hinter den Treppen und schleppte die Sachen in den vierten Stock. Schade eigentlich, man hörte ihn nie spielen.
Ob seine Wohnung größer war als unsere? Ich folgte ihm nach. Der Eingang war offen. Ich versteckte mich am Türrahmen. Und beobachtete, wie er den Kasten auf den Tisch stellte. Er mir den Rücken zukehrte. Er lupfte die Decke. Ich sah nicht, was er tat. Er legte den Gitarrenkoffer auf den Kasten. Er machte ihn auf. Irgendetwas machte Geräusche. Ich kam ein wenig näher. Plötzlich drehte er sich um und entdeckte mich. Er schloß den Koffer und kam schnell auf mich zu. Ich rannte die Treppen hinunter. Er blickte mir nach, dann schloß er seine Tür.

Ich lief gleich in den Keller weiter. Der rechte Gang war geschlossen. Ich mied den Blick in den linken – schaute nur ganz kurz hinein – und öffnete meine Tür. Ich ließ sie einrasten, was mir auf Anhieb auch gelang – ich war ja kein kleines Kind mehr – und machte das Licht an.

Ich merkte an meinen Haaren, daß ich noch immer lief. Ich wechselte die Geschwindigkeit und wurde langsamer, wie bei einer Barriere, die man mühsam überwand. Ich folgte dem Gang bis zum Knick. Ich näherte mich den Brettern des ersten Kellers. Zwei Augen darin starrten mich an. Sie machten mir keine Angst mehr. Ich wußte, daß es Schaufensterpuppen waren. Auch in anderen Räumen. Viele waren vermietet. An einen Modeladen, der dort Akten lagerte oder Stoffballen. Auch diese alten Puppen. Manchmal traf ich fremde Gestalten. Sie räumten dann Sachen ein oder aus und sprachen kaum. In anderen Kellern lagerten Pfannen, Töpfe. Haushaltwaren. Nur wenige Räume wurden von den Mietern genutzt. Wir hatten Glück, ihn zu bekommen. In der Waschküche, gleich am Anfang, war eine Waschmaschine an. Ich ließ sie sein. Ich schritt die Reihe lang. Ich ging am L vorbei zum N. Ich drückte mehrmals auf den Lichtschalter: Weiches Plastik, doch so unnachgiebig, daß nach dem Drücken der Finger wehtat. Dann ging ich zurück und öffnete unseren Keller. Tatsächlich war er nicht verschlossen. Ich sah mich um, aber ließ die Tür offen. So hörte man, wenn jemand kam.

Es dauerte, bis ich die richtige Schachtel fand. Glühbirnen, 60 Watt. Ich nahm sie gleich heraus, hielt sie gegen das Ohr, wie es mir Vater lehrte, und hörte, daß sie gut war. Ich legte die Schachtel wieder an ihren Platz und trat aus dem Keller in den Gang. Ich sah nach rechts, ob dort Schatten waren. Keine da. Nach links zur schwarzen Eisentür. Sie war jetzt offen. Ich schloß die Tür – ich änderte meine Gedanken – und wollte gerade gehen, als daß Licht ausging.
Ich ärgerte mich. Manchmal half das Vorratsdrücken. Ich tastete mich zurück zum N, zum Schalter, und achtete darauf, nicht zu stolpern. Der Birne wegen. Ein Windzug streifte mich. Ich machte das Licht an und begann zu zählen… 1… 2…3… Dann drehte ich mich um. Der Nachbar stand vor mir. Vor Schreck fiel die Birne aus den Händen. Mit lautem Knall zerplatzte sie in tausend Stücke…

So schnell ich konnte, lief ich zur schwarzen Tür. 6… 7… 8… Schien im Hellen weiter, als im Dunkeln. Machte Schritte, wie beim Überspringen einer Stufe. Angst, ich könnte nicht mehr atmen. Sah nach hinten. Den Nachbarn in der Mitte warten. Dann schlug ich gegen die Tür, prallte ab und fiel zu Boden auf den Hintern. Dann sah ich Schatten. Unter der Türritze. Begleitet von Kratzen. Sah ein Auge durchs Schlüsselloch blicken. Klick. Die Klinke wurde herunter gedrückt, die Tür schwang mit Licht im Rücken auf. Dort… Schlug die Hände vors Gesicht.


*


Mutter arbeitete in der Waschküche im Keller. Das Licht der Sonne verirrte sich nur ungern nach drinnen. Sie zog die gewaschene Wäsche aus der Waschmaschine. Berge quillten in den bereitgestellten Korb. Sie trug ihn durch die Tür nach draußen. Die Sonne blendete. Sie hängte die Wäsche auf die Leine. Bunte Hemden, dunkle T-Shirts, Unterhosen, auch das gelbe Laken. Sie hielt inne. Nachdenklich fühlte sie den Stoff. Es hatte ein viereckiges Loch in der Mitte. Offensichtlich ausgeschnitten. Sie wartete nicht, bis es getrocknet war. Nahm gleich das Laken von der Leine und trug es in dem Korb nach oben in die Wohnung. Was die Nachbarn meinen? Auf den ersten Stufen zum Podest erschrak sie. Ein weißes Mäuschen schnüffelte sich um die Ecke. Es erschrak sich ebenso und lief unglücklich über den Balken, der Kante entgegen ins Verderben. Mutter hörte Knochen splittern. Lehnte sich über das Geländer und sah – unten, tot – den Körper. Sie setzte ihre Schritte fort und blickte zufällig nach oben. Unter der Kuppel hing noch immer der rote Luftballon. Schwitzend kam sie in die Wohnung herein. Sie setzte sich an die Nähmaschine und arbeitete sorgsam einen schwarzen Flicken in das Laken ein. Sie hängte es wieder auf die Wäscheleine. Unten auf der Wiese. Sie ließ es trocknen. Anderntags bespannte sie das Kinderbett mit dem gelben Laken, während Jenni in der Schule war.

Wochen später. Mutter zog die gewaschene Wäsche aus der Waschmaschine. Berge quillten in den bereitgestellten Korb. Sie trug ihn durch die Tür nach draußen. Sie hängte die Wäsche auf die Leine. Auch das gelbe Laken. Wieder hielt sie inne. Die Sonne spielte Streiche. Sie war entrüstet: Es hatte lauter Löcher. Alle mit der Schere ausgeschnitten. Sie nahm es ab und trug es in dem Korb nach oben in die Wohnung. Schwitzend setzte sich an die Nähmaschine. Sie hängte es wieder auf die Wäscheleine. Sie ließ es trocknen. Sie bespannte das Bett mit dem gelben Laken. Sie blieb in Jennis Zimmer stehen. Blaue Striemen fielen durch das Fenster ein. Sie sah sich um, lauschte, als ob das Zimmer mit ihr Gedanken tauschte.

Mutter zog die gewaschene Wäsche aus der Waschmaschine. Berge quillten in den bereitgestellten Korb. Sie trug ihn durch die Tür nach draußen. Sie hängte die Wäsche auf die Leine. Auch das gelbe Laken. Wieder hielt sie inne. Ein halbes Dutzend schwarzer Flicken prangten an dem Stoff. Sie verschlossen alle Löcher. Bis auf eines. Das war neu dazu gekommen. Dem widmete Mutter die ganze Aufmerksamkeit. Sie riß das Laken von der Leine und schleppte es in dem Korb nach oben in die Wohnung. Sie zählte alle Stufen. 137. Schwitzend kam sie an. Sie setzte sich an die Nähmaschine und arbeitete sorgsam einen schwarzen Flicken in das Laken ein. Sie hängte es wieder auf die Wäscheleine. Sie ließ es trocknen. Sie stand in Jennis Zimmer. Während Jenni in der Schule war. Sie sah sich um. Sie riß die Jalousie nach oben. Draußen sah sie einen Baum. Eine Eiche ohne Blätter. Frost bedeckte die Wiese mit der Wäscheleine. Die Sonne schien. Sie fühlte den Heizkörper. Kalt. Sie drehte ihn etwas auf. Sie bemerkte abgeplatzte Farbe auf dem Boden. Sie hob die weißen Splitter auf. Das Rohr an einer Stelle war blankgescheuert. Zufrieden bespannte sie das Bett mit dem nun gänzlich schwarzen Laken. Sie saugte die weißen Splitter weg. Sie verließ das Zimmer. Der Vorhang wippte nach. Mit einem Schlag wurde es dunkel. 

Jenni lag in ihrem Bett. Sie konnte nicht einschlafen. Die Jalousie war oben und ließ das Licht des Mondes ein. Sie sah auf ihre Sterne. Aus dem Schlafzimmer drangen Geräusche durch die dünne Wand. Gestöhne. Vater und Mutter schliefen miteinander. Das Körperklatschen ließ sie nicht in Ruhe. Hielt sich die Ohren zu, als ob das den Ton ausschaltete. Setzte sich die Kopfhörer des Cassetten-Rekorders auf und hielt mit lauter Musik dagegen: Vanessa Carlton - Paradise.

Auch das half nicht fiel. Setzte sich aufrecht hin. Sah zum Fenster. Mit dem Fuß angelte sie nach der Kordel und zog daran. Ratsch. Die Jalousien waren geschlossen. Blau. Sie mied den Blick zur Wand. Sie hatte Angst vor dem, was sie dort anstarrte. Dem Fleck. Der sich nur im bestimmtem Lichte zeigte. Bei dem sie so keine Verpflichtung empfand. Blieb jetzt nur die dunkle Wand. Auch wenn sie schrie. Sie warf das Kissen davor. Dann stand sie auf. Sie ließ den Kopfhörer liegen und ging zur Tür, zog den Vorhang beiseite und schob sich heimlich in den Flur. Sie ging am Schlafzimmer vorbei zum Badezimmer. Sie überhörte, was sie hörte. Sie machte Licht, öffnete die Tür, schloß sie wieder, schlürfte zum Klo, hob den Deckel und setzte sich auf die Brille. Ruhe verdammt! Dumpfe Geräusche drangen vom Flur. Sie mischten sich mit dem Plätschern. Bis sie langsamer wurden – und gänzlich starben. Sie behielt den Spalt unter der Tür im Auge. Das Pinkeln blieb. Dann veränderte sich der Ton, wirkte gedämpft.

Jenni schaute durch die Beine in die Schüssel. Sie konnte nichts erkennen. Sie pinkelte weiter. Plötzlich sah sie Schatten unter dem Türspalt. Etwas war anders, sie bewegten sich nicht.
„Dauert nicht mehr lange.“
Keine Antwort. Da wurde das Plätschern abermals gedämpft. Träume ich? Dann berührte etwas ihren Schoß!

Vor Schreck sprang Jenni auf. Sie schüttelte sich. Ganz sicher hatte sie das nicht geträumt. Sie landete mit nacktem Popo auf den kalten Kacheln und starrte die Schüssel an. Rascheln. Luftnot. Doch nichts kam über den Rand. Jenni traute sich langsam heran. Ihr Kopf harrte vor dem Rand. Es roch. Dann faßte sie mit den Händen nach der Kante. Und zog den Blick nach oben. Und schaute wie auf einer hohen Mauer stehend hinunter.

Eine Schlange!

Sie saß im Abfluß und räkelte sich. Schwarz hob sie den Kopf aus dem Wasser und züngelte. Augen sprangen sie an. Jenni fiel zurück und schrie. Schrie das ganze Haus zusammen. Heulte, doch keiner kam. Und verging vor Angst im Badezimmer, weil der Gedanke, nicht zu entkommen, stärker als alles Leben war.

„Kommt doch endlich! Kommt!“
Bis endlich die Tür aufgerissen wurde. Vater stand in der Tür.


Später kam heraus, daß der Nachbar, der junge Mann, der erst vor kurzem eingezogen war, seine Schlange, eine Giftschlange, die Toilette heruntergespült hatte, weil ihm die Haltung in der Wohnung verboten worden war. Weil es zu gefährlich war. Er schmuggelte sie im Terrarium in die Wohnung. Das war unter der Decke. Im Gitarrenkoffer schmuggelte er weiße Mäuse. Als Nahrung. Deshalb hörte man ihn nie spielen. Vater stellte ihn zur Rede. Und schrie ihn an, daß das Treppenhaus bebte.

Jenni sah beiden zu. Danach ging sie nicht mehr gerne ins Bad. Und pinkelte seitdem im Stehen.






*