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Miniaturen des Absurden

Betrete mit der Miene der Abfälligkeit und erhalte Einlaß

Vom Jardin du Luxembourg zum Panthéon brauchte es schon mehr als platonisches Innehalten, um sich Gehör für Gesehenes zu verschaffen. Da...

Sonntag, 3. April 2016

Einhundert Jahre Wimpernschläge


Als ich einhundert Jahre alt war, kam es mir vor, ich würde vergehen. Kam es mir vor, als schlüpfte ich aus zu großen Schuhen. Ich stellte sie zu den anderen, die mich einhundert Jahre lang begleiteten. Waren sie getragen?

Als ich zweihundert Jahre alt war, kam es mir vor, ich würde verstehen. Kam es mir vor, als zog ich Gewohnheiten an. Ich streifte sie über, wie die anderen, die mich einhundert Jahre lang kleideten. Wärmten sie mich?

Als ich dreihundert Jahre alt war, kam es mir vor, ich würde sehen. Kam es mir vor, als warf ich einhundert Schleier über. Ich lupfte sie nicht, wie die anderen, die mich einhundert Jahre lang verhüllten. Bewahrten sie mich?

Als ich vierhundert Jahre alt war, kam es mir vor, ich würde reden. Kam es mir vor, als entwaffneten sie einhundert Zungen. Ich verteidigte sie nicht, wie die anderen, die mich einhundert Jahre lang verschluckten. Versuchten sie mich?

Als ich fünfhundert Jahre alt war, kam es mir vor, ich würde verstummen. Kam es mir vor, als ergaben sich zweihundert Stimmen. Ich hörte ihnen nicht zu, wie den anderen, die mich einhundert Jahre lang besuchten. Straften sie mich?

Als ich sechshundert Jahre alt war, kam es mir vor, ich würde erwachen. Kam es mir vor, als gähnten sich einhundert Schlafe. Ich erwähnte sie nicht, wie die anderen, die mich einhundert Jahre lang einsperrten. Träumten sie mich?

Als ich siebenhundert Jahre alt war, kam es mir vor, ich würde brechen. Kam es mir vor, als verlor ich einhundert Stützen. Ich versagte nicht, wie die anderen, die mich einhundert Jahre lang hielten. Spürten sie mich?

Als ich achthundert Jahre alt war, traf ich auf alle Jahrhunderte zuvor. Sie sprachen über mich wie gute Freunde, doch urteilten über mich. Warum ich einhundert Jahre lang nichts tat, warum ich einhundert Jahre lang zögerte, warum ich einhundert Jahre lang zweifelte, warum ich einhundert Jahre lang verharrte, warum ich einhundert Jahre lang haderte, warum ich einhundert Jahre lang kauerte, warum ich einhundert Jahre lang wartete und warum ich einhundert Jahre lang nicht wollte. Warum es mich dann gab?

„Weil ich nicht glaubte,“, antwortete ich, „daß ich allen Jahrhunderten entsprach. Daß mir zu wenig Zeit gewährt wurde, um mich zu begreifen, während alle Jahrhunderte sich nur mühten, mich zu schaffen. Erschufen sie mich? Oder bewältigten sie mich nur? Während alle Jahrhunderte nichts taten, zögerten, zweifelten, verharrten, haderten, kauerten, warteten und nicht wollten, glaubte ich nicht daran, daß es mich für andere gab. Daß es mich gab. Für alle Jahrhunderte, die es noch zu leben gab, wenn ich aus einhundert Jahren die Jahre wählte, die es brauchte, den Tag zu finden, für den es sich lohnte, acht Jahrhunderte zu geben.“


Und für diesen einen Tag wählte ich einhundert Stunden. Aus denen sich nur die erinnerten, die vierundzwanzig ergaben.














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