"Hallo" ist das Pfandleihhaus des "Aufwiedersehn"...



Miniaturen des Absurden

Betrete mit der Miene der Abfälligkeit und erhalte Einlaß

Vom Jardin du Luxembourg zum Panthéon brauchte es schon mehr als platonisches Innehalten, um sich Gehör für Gesehenes zu verschaffen. Da...

Freitag, 15. September 2017

Im Gang der Schnüre


Ein Grund, zu streiten…

Ein Grund für Gier…

Ein Grund, zu lieben…

Ein Grund, zu hassen…

Ein Grund, zu trotzen…

Eine Zeile für die Tugend…

Ein Traum für das Vergessen.


Die Stricke geknotet. Mit den Teilen verbunden.

Ohne Grund: Das Scheitern…

Und Wacherot? Und Galvan?

„Das… erzähle ich, der Puppenspieler.“

Mondrian erschrak.
„Hah! Da ist doch jemand!“ Er sah ein Auge. Ganz klar. Erst, als sich das Lid öffnete, wurde das Auge wahr.
Mupo, bist du das? Ich sehe dich genau! Mupo, komme sofort heraus. Wo ist die Kammer! Wo ist meine Kammer! Warte, ich beobachte dich genau. Beobachte dich. Beobachte dich genau…“


Broa war eine jener Städte am Meer – mit ihren starken Kaimauern, den schmalen Häusern, den stolzen Menschen –,  die ihren Glanz der Brandung verdankten. Weil nach jedem Wellengang alles in neuem Licht erstrahlte. Die den Gestank der Fische mit dem Duft des Abenteuers verdrängte. In die man nicht ohne guten Grund trat. Weil in jeder dieser Städte das Leben in einer besonderen Haltung vorwärts kam. Vorgebeugt, mit den Händen in tiefen Taschen versunken. Der Blick entschwunden, doch klar für das zeitlich angebrachte. Das Zwielichtige dieser Gestalten war – die Frechheit, mit der sie einem glichen – auch gleich das Bemerkenswerte: In ihrem dunklen Behagen – ihr versetztes Aussehen, ihr schleichendes Auftreten – fand man sie schnell in engen Gassen wieder. Auf steinernen Stufen, die ins Nirgendwo verliefen. Wo die Pflaster bald nach einem Laken voller Tränen schmeckten und rochen, wo die Nasen Düfte folgten, nach dem Schweiß der Huren. Wer sich auf den Schein einläßt.
 Stießen die Freier unter Stöhnen ins Leere oder in gefaltete Hände geblendet vom Fuselschleier. Oder bellten Hunde an. Als Fremde in der Nacht. Katzen fraßen Ratten. Kauten auf dem Pflaster, auf dem nachts das Leben probte. Ausgekübelt in den engen Passagen. Die sich weiter schlängelten. Auf Platte. Bis zu einer Zisterne oben. Wo es endete.

 …die im Glanz der Brandung lebte. Zwischen zwei weichen Hügeln in einer Bucht gelegen. Ein nachträglicher Schutz: Der Turm, der schon von weitem wußte, wer sich näherte. Auch blickte der auf die Strände, jenseits der Buckel, die sich endlos gegen ferne Himmel schoben. Der Glanz der Versprechung lebte. Und vom Meer die Schiffe lockte…
 In den sicheren Hafen einzulaufen. Sicher durch die starken Mauern Broas, die den Winden trotzten. Kamen als Beifang die Matrosen. Die Heimatlosen. Die Ferneschweifer, die Wiederkehrer. Die Eintagsverehrer. Die Eintagskinder. Die Kindertränken. Die Waisenväter.
 Der stillen Wege, die dort endeten. Heimat. Als verschwiegener Ort – wie jeder – bekannt durch Geflüster, am Wegerand die rote Häuserwand einer Kaschemme. Und benannt nach den Dingen, die an der gegebenen Stelle verblieben:

Im Gang der Schnüre 

Wo nicht nur Huren ihre Körper von der Last erlösten. Hinter der Schenke ein schwarzer Lauf – fernab belebter Trassen. Die Reste einer aufgegebenen Zisterne. Erloschen, weil sich hier das Meer zu oft in Erinnerung spülte. Durch unterirdische Vorgänge. Und das Wasser vergiftete. Nicht mit dem Salz der Tränen. Aber für diese Zwecke mit sich nahm – im Wechsel der Tide –, was lieber im Grunde trank: Die Geburten. Der Eintagsverehrer.

Und die Nachgeburten: Die Flüche…

Nur die Nabelschnüre verblieben. Als Wünsche. Wie nasse Socken hingen sie an einer Wäscheleine. Gehalten an beiden Enden von schrägen Stäben schwebten sie mahnend über der schwarzen Öffnung der Zisterne. Wie gewaschene Strümpfe schwangen sie im Gegenlicht des Mondes – als wären sie abhängig wie die Wellen.

Wären da nicht die Wünsche gegen.

Der grobe Klotz war nicht prüde. Erschreckte auch mit der langen Narbe, die sich von der linken Braue übers Auge und die Wange zur Nase brachte. Derbe griff er den Huren an die Brüste und steckte seine Zunge in Munde …um sie aus dem Wege an die Wand zu drücken und Platz zu schaffen, für den der ihm dunkel folgte. Beider Ziel – diese Kaschemme. Zu dem letzten Haus auf der linken Seite der Gasse. Ohne Schild, doch bekannt durch diesen verschwiegenen Namen…

 Manchmal. Manchmal bei ruhiger See sah man sie schwimmen. Nur schwimmen, als wären sie frei. Die Kinder bei ruhigen Wellen – sah man ihre Leiber, und erinnerten dabei, weiter in der Ferne, an vorbeiziehende Boote.

 Eine leichte Steigung. In der Mittenrinne schwamm ein Tuch. Der gewiefte Klotz trat als erster an die Tür und klopfte. Die Wand daneben war rot gestrichen. Nicht ganz. War es bei näherem Hinsehen keine Farbe.

„Das Haus der roten Hände…“

Geschrei mischte sich unter das Gefasel weiter unten. Kam aber von oben.

 Das Haus der roten Hände, weil die Frauen auf dem Weg zurück von der Zisterne kommend mit ausgestreckten Händen Halt an den Wänden des ersten Hauses suchten, das dort kam, griffen diese Wand, noch warm – daher die Farbe – und wankten beiläufig nach unten…
An der Ecke, dort wo der Schein der Lampen heller wurde und das Treiben reger, richteten sie sich auf, glätteten fahrig ihre Blusen, zogen den weiten Mantel, den man sich schon mal besorgte, ins Gesicht, strichen sich durch die Haare, auch die Haare so nun rot, und traten wieder in das Leben ein – nur der Blick entsagte bar der Ordentlichkeit.
Warum dann diese Wege? Weil das Leben in Broa nur Stufen kannte. Die man rauf und runter rannte. Nicht gerade. Niemals gerade. Auf und ab. Niemals gerade. Wieder so Geschrei. Eine neue Stimme. Verstummen…

Die dritte Nacht. Der Ankerplatz leer. Das Schiff mit den Winden entschwunden. Lag die See nun in trauter Stille. Vollmond. Dicht über dem Horizont. Und wirkte dadurch größer. Roter Mond. Rotes Haus.

Der grobe Klotz trat als erstes ein. Der zweite schaute ins dunkle Ende der Gasse. So durchdringend war sein Blick, daß sich die Schatten teilten. Die Augen tiefer drangen. Vor bis zu dieser Zisterne. Er wartete, ob sich das Geschrei wiederbrachte. Stille. Nur diese Stille. War so laut, weil man das Rauschen der Ohren im Kopf jetzt deutlich hörte. Und dort platzte. Er nahm seinen Hut ab. Dann trat er ein.
„Der ist hier.“ Der Wirt zeigte auf das Ende des Tresens.
„Er spielt Geschichten vor. Er arbeitet so sein Essen ab. Wollte nicht bezahlen. Nun, ja… er ist gar nicht schlecht. Er hält die Säufer wach.“
Mit dem Rücken zum Lokal lag er auf dem Kneipentisch und umarmte sich selbst unter leisem Schnarchen. Oder wenn man wollte, lautem Atmen. Im Takt des Brummens hielt er sich so gerade auf der Kante. In zerschlissenen Kleidern, die einmal wertvoll schienen – kein Grund, sie noch zu schonen, und veränderte den Ton, so daß man Angst bekam, er könnte beim nächsten Seufzer fallen. Sein Fuß hing schon herunter. Er zuckte. Eine Fliege plagte seine Sohle. Der Strumpfwickel abgewickelt. Lag der Schuh dazu auf dem Boden.

Jenni schaute Vater und Mutter zu…
Sie tanzten zu Songbird in ihrem Verlangen …allem zu gleichen. Mit den Gedanken auf bloßen Schultern. Wo das lauteste der Lidschlag war, als Takt, nachdem sie sich liebten. Und sie weinten. And the songbirds keep singin’… And I love you, I love you, I love you, like never before…

Die Geschicke sind gewählt. Jedem sein Platze. Wie es zu Ende geht?

Wie es begann: Mit der Täuschung als Wiege…




In einer Kaschemme.

„Du, erzähl es noch mal. Du…! Puppenspieler, du warst doch dabei! Los, erzähl!“
Der derbe Bursche stieß den Rücken des Puppenspielers an. Er lag auf der Theke. Quer, vom Bier des letzten Tages noch träge und taumelnd. „Wo…?“
Er sah sich müde um. Mit der Fahrigkeit eines Blinden stritt er um bewegte Zusammenhänge. Er rückte sein Bündel zurecht. Unbequem hatte er darauf geschlafen. Er lockerte die Schlaufe. Seine Puppen blickten ihn durch die Öffnung an: Galvan und Malverne. 
„Ja… ich erinnre mich…“
„Mach’s nicht so spannend! Beeil dich. Hier, der Herr bezahlt. Erzähl ihm die blöde Geschichte… Wie Mor gefallen ist.“
„Wer… ah, ich sehe…“ Der Puppenspieler blinzelte. In einer Ecke der Kneipe hatte sich der Herr niedergelassen. Ein älterer Mann mit dreckschneefarbigen, schulterlangen Haaren. Schnee, in den Hunde gepinkelt hatten. Sehe ich so aus, als ob ich den Schnee je gesehen habe? 
„Ihr wollt es wissen? Das kostet…“ Er stieß den Burschen weg.
„Ach… laß mich! Du stinkst.“ Der Grobklotz, der jetzt für den Alten arbeitete, setzte sich neben ihn und griff nach dem Wirt. Er solle ihm ein Bier bringen.
„Mir auch…“
Der Puppenspieler stützte sich mit den Ellbogen auf und starrte den Schaum an. Er wartete die volle Zeit ab. Ununterbrochen. Unterbrochen nur vom Mundewischen, vom Zungelösen und vom Entlocken. Durch die Augenwinkel bespitzelte er den Herrn. Er leerte den Krug. Die Hälfte ging wie immer daneben.    
„Er guckt so traurig…“ Er lispelte. Seine Schneidezähne wackelten. „Ein Mißgeschick. Ich ließ mir neue machen…“ Er setzte sie gerade. Er wartete auf den nächsten.
„Sein Schiff hat ihn verlassen…“ Der Grobklotz spuckte in seine Suppe, die ihm der Wirt neben das Bier stellte. Dann biß er hinein. So grob waren die Brocken darin verteilt.
„Aha… Dann wird ihn meine Geschichte nicht aufheitern.“ Der Puppenspieler ließ das zweite Bier zischen. Er spie in die Hände und wischte sich über Stirn und Haare. Er drehte sich in die Runde. Der einzige Gast war plötzlich verschwunden. „He…“
Er saß einen Tisch weiter. „Saßt du nicht gerade dort drüben?“ Der Puppenspieler wunderte sich. Er stieß sich an den Kopf. Er wollte später etwas gegen seinen Dusel essen.
„Nun, es lag an …Unser.“ Noch einmal musterte er sein Gegenüber. Er trank einen Schluck, nur für die Zunge, gurgelte den Belag lose, schluckte und begann…

Unser, müßt ihr wissen, hatte diese besondere Gabe…

Unser kam zurück mit den Taschen voller Gold. Seine Steuerreise war erfolgreich. Erfolgreicher als jede zuvor! Trotz aller Umstände. Nanu, ihr wißt nicht, wer Unser ist?“
Plötzlich wurde die Wirtstür aufgestoßen. Nichts folgte. Dann kam ein kleiner, hagerer Invalide. Er humpelte sich quälend zum Tresen. Er setzte sich auf seinen angestammten Platz am rechten Ende – dort an der Wand war ein Nagel eingeschlagen, an den er sein falsches Bein – hautfurzend löste es sich vom Stumpf – aus Walknochen hängte. Der Wirt stellte ihm schon seinen Krug bereit. Der Invalide spuckte auf den Boden, wie es üblich war, dann saugte er das warme Bier.

Der Puppenspieler sah sich das Ganze an. Mit gespreizten Daumen in Gehrocktaschen. Dann drehte er sich wieder zu seinem zahlenden Gast. Der saß dafür wieder am linken Tisch.
„Wo war ich? Ah, ich… erzähle eine traurige Geschichte. Wollt ihr sie dennoch hören? Gut…“ Er schaute zur Tür. Er erwartete wohl noch mehr Publikum. Oder suchte er nach einem Ausweg? Das sah der Grobklotz ebenso und stellte sich an den Eingang. Schleimrotzend kreuzte er seine Arme um den Brustkorb und lehnte sich gegen die Wand im Rücken. Mit dem Bein sperrte er den Gang. Trotzdem schaffte er es, seine Suppe auszulöffeln. Der Puppenspieler zündete sich einen Glimmstengel an.
„Ihr spielt heute nur für mich…“ Er zuckte zusammen. Adamas stand neben ihm. Dicht. Der Hauch der Worte flüsterte sich an seinem Ohr vorbei durch das Lokal und schob den Qualm des Tabaks entlang der Theke, bis zu deren Ende und dann im rechten Winkel um sie herum. Was alle verblüffte, den Wirt, wie den Grobklotz, den Invaliden und den Puppenspieler ebenso.
„Na…“ Aber Adamas saß schon wieder. „…türlich.“ Der Wirt stellte einen Schnaps hin. Der Puppenspieler leerte den Becher mit einem schnellen Zug. Langsam atmete er die blaue Luft aus. Der Wirt schenkte einen zweiten ein. In dem Flirren ließen sich Bilder erkennen. Er trank den nächsten. Wieder pustete er den Dunst des Absinthes und des Tabaks in die Luft aus. Deutlicher wurden die Bilder. Gedankenverlangsamend starrte er sie hinein – und füllte sie mit Leben. Der Wirt verschüttete den dritten Schnaps. Der Grobklotz und der Invalide verfingen sich in dem rahmenlosen Gebilde. Nur Adamas blieb unbehelligt. Er warf seinen Hut in die Runde und trieb so die Bilder auseinander.
Der Puppenspieler stand mit dem Rücken zum Publikum und hantierte. Plötzlich sprang er herum. In Händen: Galvan und Malverne.

„Die Mär… kann beginnen!“

             …Was? Wo? Ich schreckte auf. Ich hörte ein vertrautes Geräusch: Münzenklimpern. War hellwach. Ach, ja… Ich wischte die Maden aus den Augenrändern und sah durch die Stämme Schatten und das Licht der Sonne. Ich ordnete den Unrat. Das stinkende Fleisch, das Buldric besorgte. Die Gedärme, den gelben Eiter. Nur die Maden, auch die Fliegen waren echt. Ein Opfer des Sommers, he, he. Ich stand auf und suchte im Unterholz nach den Kleidern, die Buldric zurücklegen sollte. Wo waren sie? Ich wühlte. Verdammt! Buldric, du Idiot! Hat sie vergessen. Könnte dich erwürgen… Ich stank wie eine ganze Schweinerei. Ich rieb mich mit Blättern ein. Dann schlich ich mich leise an. Ein Trupp mit Pferden kam am Wald von Mor vorbei.

„Es war Unser. Er kam von seiner Steuerreise zurück. Er sang ein Lied: Die Welt, die Du mit Füßen trittst, ist das Pferd, auf dessen Rücken Du rittst…
Und saß auf seinem Gold dabei. Buchstäblich. Gold, das er Galvan schuldete. Er war auf dem Weg nach Mor. Und ausgezehrt. Ein Mann der vielen Hüllen, wie ich hörte. Mal schlank, mal fettbeleibt. Je nach Art seiner Reisen. Die Männer, die ihn zu seinem Schutz begleiteten, hatte er absteigen lassen. Müde schlackerten sie hinterher. In zerschlissenen Hosen und sie stanken, weil sie durch den Dung der Pferde liefen. Stattdessen waren die Sättel mit Säcken voller Gold beladen. So viel hatte er eingenommen! Nur er selbst saß faul auf seinem Gaul. Und summte diese frohen Lieder. Hatte den schweren Reitsitz gegen einen Sack voll Gold getauscht: An dünnen Striemen um den Pferdeleib gebunden, hielt allein sein Gewicht den Sack noch oben. So, als wären beide miteinander verbunden, so wackelten sie Schloß Mor entgegen. Unser, müßt ihr wissen, hatte diese besondere Gabe…“

Ich rieb mir die Hände. Vielleicht fiel ja auch für mich was ab. Also… folgte ich ihnen…

Die Hälse streckten sich in die Höhe. Öffneten sich die großen Tore. Dicke Wachen sprangen heraus und schlugen die hungernde Meute in den Staub. Sie waren nicht der Grund für banges Warten. Ich hängte mich an den Trupp. Mischte mich unter seine Männer. So entkräftet waren sie, daß ich kaum auffiel in meinem Gestank. Man ließ Unser passieren. Wie durch ein Wunder schlüpfte ich mit hinein. Jetzt war ich dem Gold so nah, daß ich danach hätte greifen können. Buchstäblich saß er auf seinem Gold: Die Stücke gruben sich in seine Ritze. Umso steifer war der Empfang. Hätte mich nicht gewundert, daß er Münzen scheißt. Und tatsächlich! Als er vom Pferd stieg, fielen ihm ein paar aus der Fuge. Galvan stand auf der Treppe bereit. Er war außer sich vor Freude.

„Erzähl endlich! Was ist mit dem Jungen!“ Adamas sprang auf. Unwirsch gab er dem Grobklotz ein Zeichen. Der kam drohend näher.
„Geduld, Geduld, mein Herr… Ich komme gleich auf ihn zu sprechen. Warum interessiert ihr euch ausgerechnet für ihn?“
„Er ist sein Sohn.“
„Ah, ich verstehe. Ein Hirte seid ihr also. Ich hütete auch mal eine Herde… Nun, wie dem auch sei. Der Junge? Ja, der Junge fehlt noch in dieser Geschichte…

Ich trieb mich bei den Ställen rum. Dort traf ich alte Bekannte. Auch wenn sie sich noch so sehr vor dem Licht versteckte, erkannte ich sie doch an der Art, wie sie die schwarzen Haare zu Berge brachte: Noiset. Prinzessin Noïra, mit Verlaub. Laßt mich verneigen. Trat in ein
kurzes Licht und bündelte mit erhobenen Armen, die auch ihre Achseln entblößten, ihre Strähnen zu engen Zöpfen auf den Rücken.
Warum fragt ihr nicht, wer noch anwesend war? 
Nein, nun. Ich tauchte tiefer ein in mein Heubad, doch brauchte nicht die Augen zu schließen. Denn was beide miteinander taten, taten sie verboten, doch kaum verborgen. Wie wild sie vorgingen. Nahmen sie die Entdeckung gar in Kauf? Jederzeit hätte das Tor zum Hof aufgerissen werden können! Doch nichts. Nichts ließ sie diese Spannung spüren. Ich sah’s ihm an der Kleidung an, die er nun in Ordnung brachte – nach harten Stößen. Noiset, diese Nutte, brachte jeden um den Verstand. Ich spinne nicht! Ich sah sein Gesicht, als er am Heu vorbei aus der Hintertür verschwand. Den Schleim im Munde und für wahr! Er roch auch nach der Hure. Nur Golod wollte sie nicht mehr reiten. Traurig schimmerten seine Augen im verbrannten Pelz. Vergänglich ist nur eines: Das bißchen Aufmerksamkeit.“

„Der Junge!“ Adamas knallte seine Faust auf den Tisch. „Der Junge! Erzählt endlich von dem Jungen, Puppenspieler! Was geschah mit ihm?“
„Ah… der Junge. Ja… Was geschah mit ihm…“

Der Puppenspieler griff sich an den Hintern, der ihm wohl übel juckte.

„Der Junge…
Er war der Makel. Das kleine Fädchen, das aus zu feinem Stoff hervorragte. Nun ja. Das Haar in der Suppe – wenn ihr es einfach wollt. Seine Geschichte begann – langes Fädchen, faules Mädchen, ha, ha!, wie kann es anders sein? – bei einer Magd…

Es geriet dem Jungen nicht schlecht, daß er bei einer Magd namens Magda nächtigte… Ah, ich sehe. Ihr kennt sie wohl. Eure Schwägerin? Aha, so alt kam sie mir gar nicht vor… Wie ich hörte, ließ er sich die Verwandtschaft schmecken. Lag er nicht nur in allen Ecken, auch bei ihr in allen Löchern. Geht mich nichts an. Nicht meine Sache. Ich berichte nur. Was soll’s! Nun, Gerede unter Mägden… Ich wechselte die Stelle. Und schlich nun bei der Küche rum. Meine Neugier, mehr mein Magen stieß mich diese Treppe runter. Im Nebensaal putzten fleißige Hände Berge von Kartoffeln. Wie gerne hätte ich hineingebissen! Da kam noch eine. Schnell drückte ich mich durch eine Tür und fand ein dunkles Lager vor. Eine schmale Kammer, in der ich mich vor ihren Blicken versteckte. Voller Würste! Ich steckte ein, was ich tragen konnte und schmeckte. Schmeckte nach Keiler, hm… Die Mägde schwätzten und bereiteten die Töpfe. Dann schälten sie die Kartoffeln. Ich belauschte sie, während ich weiterkaute. Ihr wißt ja, wie das ist. Viel heiße Luft, doch eine war aufgeregter. Sie schimpfte laut und nannte immer denselben Namen: Magda soll zur Hölle gehen!

Mit ihren Geschichten treibe sie ein böses Spiel. Was sie diesmal erzählt? Sie flüsterte, daß ich es nicht verstehen konnte. Die Mägde erschraken. Zu ungeheuerlich war das wohl, was da beim Schälen zusammenkam. Gefrorene Stille. Kennt ihr Mägde nicht? Und… die Zähne flogen und die Münder prasselten gegen Lippen und die Brauen zuckten und die Messer raspelten und die Kartoffelschalen flatterten und die Hände ratterten und schälten und schabten und noch schneller zogen sie die Pelle von der Knolle und die Stimmen stießen durcheinander und schraubten sich in die Höhe – hörte etwas von Warzen und Löchern, Kutten und Köchern – und höher und lauter und gewagter, bis – es eine letzte sagte: ‚…und würde mich nicht wundern, daß Noiset es auch mit Galvan treibt.‘
Erstarren. Kein Zischen, kein Laut mehr. Und dann… Wie alle auf die Hände dieser Magd starrten. Hielt ihr Schälmesser in der Linken und pellte weiter und fragte in die Gesichter zurück. Sah nach unten. War der Daumen der Rechten bis auf den blanken Knochen freigelegt. Bewegten sich die Glieder darin noch munter und hielten an der Kartoffel fest. Dann erst …ließ sie das Messer fallen. Sah beiden nach – Bluttropfen und Messer –, schlugen gleichzeitig auf den Boden auf, stieß entrüstet den Atem aus: ‚Ach was! Galvan und Noiset? Das glaub’ ich nicht.‘
Dann fing sie zu schreien an. Vor Pein. Und ich sah meine Pflicht, in der Küche zu bleiben, als erledigt an. Ich stahl mich aus der Kammer, durch die erstbeste Tür, und eine Treppe führte mich nach oben – wo ich raus kam? In der großen Halle…

Ward ihr schon mal dort? Nein? Dann stellt ihn euch so vor: Dieser Ort, so großartig er auch ist, gleicht einer Gruft. Mit einer solchen teilt er auch einen steinernen Boden, Bögen mit plazierten Stelen, angeraut an Stellen, die Luft…“
„Der Junge…“
„…ergriffen von Worten. Erfüllt von Lob für Lebenstaten. Mein Herr! Der Junge stand vor der Tafel: Dunkle Haare, schmales Kinn, schwarze Kleider – darin der Geruch der Herde, schwere Stiefel, nicht wahr? Dann war er’s!“
„Das trifft auf jeden dummen Bauern zu.“, grummelte der Grobklotz.
„…stand vor der Tafel. In der Ferne. Vor Galvan.“ Der Puppenspieler riß seine Puppen hoch. „Doch ohne Malverne…“ Er übergab die Puppe der Königin dem Inneren seines Bündels. Einem Begräbnis gleich sorgte er für angemessene Würde, strich ihr dabei über die goldenen Haare, auch über ihre rosa Wangen, die des öfteren mal übel wurden, legte seine Hand auf die offenen, starren, blauen Augen. Und als er sie wieder wegnahm, waren sie verschwunden. Die Augen. Demütig schloß er den Beutel.

„…war diese Halle trist. Und der Junge? Er holte sich das Lob für seine Taten ab. Nicht von der Plage gehört, die Mor befallen hatte? Nein… nicht der Streit um die Tochter –  Malmignatten! Die gemeinsten aller Spinnen. Seid ihr je gebissen worden?“
Der Puppenspieler winkte ab.
„Das Wunder: Dieser Junge ließ sie einfach verschwinden! Da konnte der Glauber Mondrian noch so sehr an den Schränken rütteln. Keine war mehr da. Sein Trick? War vollkommen. Kein Beißen, kein wütendes Suchen: Er ließ Spinnen gegen Spinnen kämpfen. Wie einfach. Wie wunderbar! Wie durchschlagend der Erfolg. Opa Langbeine, harmlos, aber die Feinde der Malmignatten, gab es in Massen. Der Junge fing sie ein und bewahrte sie in einer…“

„…Dose.“

„Einer Dose, ja… Einer roten Dose. Man bedenke: Was, wenn man das mit Menschen mache? Wenn man Menschen gegen Menschen schicke? Und sie wie die Spinnen nutze. Sie in eine Dose stecke und sie benutze, hervorhole, wann immer man sie brauche. Wieder in die Dose stecke, wenn man sie nicht mehr brauche. Doch aufbewahre. Für nächste Male. Oder Spiele? Da ähneln Opa Langbeine meinen Puppen. Wie dem auch sei… Galvan gab ihm seinen Hirtenstab zurück und einen Wunsch frei. Ob er bleiben wolle. Oder noch zu seinem Schiff … mit den Taschen voller Gaben. Er entschied sich – auch wenn ich es nur aus der Ferne deuten konnte – für das …Röcketragen. Aus anderem Grunde aber, als es von nahem deutlich war. Ich bin sicher, mein Herr, daß euer Sohn nichts lieber wollte, als mit diesem Schiff zu segeln. Mit euch. Das sah ich seinem Blicke an, der an der Tafel vorbei nach oben schweifte. Doch. Oben bei den Fenstern und in der Nähe verharrte. Der erst diese Wand überwinden mußte, um einen Blick zu erhaschen. Wer ahnte damals schon, was sich hinter dieser Wand noch verbarg? Als ein schnöder Garten. Aber verzeiht! Ich schweife ab… Was dann geschah? Er tötete Galvan bei erster Gelegenheit. Das weiß doch jeder. Wirt! Ein schnelles Bier. Mir klebt die Zunge am Gaumen, daß mir übel wird. Und mein Magen kann einen Hammel vertragen.“

Adamas stand auf. Schwerfällig. Er gebrauchte seine Hände. Wortlos kam er zum Tresen und zahlte seine Auslagen. Der Puppenspieler hielt seine Hand auf. Doch Adamas beachtete sie nicht. Dieser zuckte mit den Schultern und griff sich den frischen Krug. Der Herr stand schon in der Tür… als der Puppenspieler absetzte und fragte: „Wollt ihr nicht wissen, was mit dem Vorhang war? An der Seite, links der Tafel. Aus… rotem Stoff. Ja, rot war er, nicht?“

Adamas hielt den Grobklotz zurück. Finster schaute er den Puppenspieler an. Zu finster für einen bloßen Lakaien.
„Warte.“
„Ein Stoff… der stillstand, doch nun, da die Lobeworte verhallten, sich bewegte, was seltsam war. Und nur ich bemerkte.“
„Ein Windzug, ein Hauch der Tore …oder bloße Einbildung.“
„Sieh an, der grobe Klotz war schon in Mor? Und kann reden? Man muß schon sehr nah der Tafel sein, um den Faltenwurf überhaupt zu beobachten. Warst Du ein Knecht dort?“
„Laß ihn! Erzähl, was in dem Vorhang war.“ Adamas stellte sich dazwischen.
„In dem Vorhang? Wann? Jetzt oder später, als es wichtig war? Ich rieche noch immer keinen Braten hier. Kein Hammel? Ein Schwein wär’ auch nicht schlecht. Nein… gleich einen ganzen Keiler. Der würde passen… Wißt ihr, wie Keiler schmeckt, mein Herr? Nach Wild? Nach Wald? Mmh, mit Kerbel und Pilzen… Über Buchenfeuer entborstet. Abgerieben mit Lindenblättern, damit die Haut nicht Schaden nimmt! Nein? Soll ich es sagen? Er schmeckt nach …Demut. Gehorsam, Gefügigkeit, Selbstverleugnung. Nach Demut! Wißt ihr, was das bedeutet? Er schmeckt nach allen Fragen. Nach allen! Und verlangt nach einer belebten Zunge, die es versteht, sie zu stellen. Doch… das war nicht der Grund für banges Warten. Der Vorhang bewegte sich in dem Moment, als die Sonne durch die hohen Fenster blendete. An der Tafel. Vor der der Junge stand. In der Hand seinen Stab. Mit dem er Galvan erschlagen sollte. Dem er den Tod selbst in die Hände legte. Und Galvans Haupt verschwand im Strahl. Sechs Zeugen. Drei an jeder Seite. Von leeren Plätzen eingesperrt – der König in der Mitte. Der Glauber Mondrian, Noïra, genannt Noiset, Lor, ihre Schwester, die Wächter der Tafel: Todan, Unser und Wacherot. Sie alle waren Zeuge. Wie er seinen Tod besiegelte. Was blieb, war der Augenblick. Der Blick mit dem Lor beschwindelte. Noiset bewertete, Mondrian beneidete, Unser beschwerte, Todan bedachte, Wacherot entwischte. Und  Lor …beschwindelte. Denn nicht um den Jungen ging es – um den ging es nie – sondern um das Mädchen.“

„Der König sei verflucht! Er ließ sein Volk verhungern. Um das Mädchen ging es nie, es ging nur um ihn. Immer nur um ihn. Verflucht sei er und der Rest der Tafel!“

„Verflucht zu sein ist keine Bürde, gesegnet zu sein schon eher. Lor war mit allem gesegnet, was ein Mädchen in ihrer Lage haben konnte: Sie war schön, sie war reich, sie war klug, sie war begehrt. Doch fehlte ihr die Macht, ein Leben zu führen. Ein anderes, als das ihr zugedachte. Es ging nur um das Kind. Das Kleid, das sie trug. Und…“ Er kramte wieder in seinem Beutel. Er setzte Galvan auf die Theke. Zu den anderen. Dem Krug, dem Becher, der Flasche… baute er die Tafel nach. Ein bißchen Rot. Neue Augen. Dann strich die kundige Hand darüber. Holte die Puppe aus dem Bündel. Und siehe da: Aus der Puppe Malverne wurde… Lor.

„…das Lügen.“ Adamas stellte die Dose dazu. Lynx’ rote Dose.

„Mein Herr, ich bin Puppenspieler. Ich erzähle Geschichten.“
„Dann erzählt von dem Vorhang. Und den Vorgängen dahinter.“

Die Puppen Galvan und Lor saßen nebeneinander. Mit leblosen Augen schauten sie in das Lokal. Und hielten einander an den Händen.

„Wißt ihr, wie es ist, zu lieben? So innig zu lieben, daß es wehtut, es nicht zu tun? Lor liebte ihren Vater mehr als alles andere im Leben. Alles andere. Alles. Versteht ihr? Was lag da näher, als ihr diese Liebe zu nehmen? Damit sie frei war. Für die Liebe… eines anderen. Was glaubt ihr, warum Lynx ihr den Vater nahm und sich selbst an seine Stelle setzte?“
„Das ist Unsinn!“
„Der Sinn ergibt. Galvan ließ ein Heer aufstellen und schickte junge Männer in den Tod. Für was? Damit er Lor behalten konnte? Für sich? Für mehr? Für Eitelkeit? Ha, ha… Nein, für den Augenblick – den sie beschwindelte. Den sie Lynx an der Tafel schickte. Und dem er so verfiel. Doch kennt ihr Liebe wirklich? Liebe ist ein Ungeheuer. Ist der hübsche Kopf, der in einem Schlammloch steckt. Der herausragt, mit blonden Locken, Wimpern, die bis zu den Brauen reichen, und zu dem man sich niederbeugt. Zu diesen Lippen, denen niemand widerstehen kann. In ein dunkles Schlammloch gerissen. Ohne Sicht und Wiederkehr. Liebe wirkt. Liebe ist – der hübsche Kopf eines Ungeheuers, das den Kopf aus der Kuhle streckt und auf Beute wartet. Stellt euch diese Locken vor, diese Augen, diese Lippen, diesen Teint, diesen Hauch des Atmens. In einem Garten vor. Unter einer Eiche ladend, Blüten ringsherum. Wer könnte diesem Ungeheuer widerstehen? Wer? Euer Junge war geblendet von der Sonne, als er Lor zum ersten Male sah. War nicht der erste, den sie mit ihrem Blick beschwindelte. Doch…“ Der Puppenspieler legte die Puppe Lor auf die Seite und zeigte sie sich räkeln. „…auch sie folgte nur einer Bestimmung. Der Vorhang? Spielte keine Rolle. War nur Beiwerk, schmückender Trutz zwischen den Welten. Ein Schutz. Ein Trick. Der in die Irre führte? Ich weiß, was er war. Wenn ihr mich fragt: Ich sah, was sich darin regte… Und nur ich bemerkte. Daß sich ein Wesen darin versteckte. Und daß, in dem Augenblick, in dem das Mädchen Lor mit ihrem beschwindelte, dort aus der Halle huschte. Ich folgte aus sicherer Entfernung, als sich die Tafel auflöste. Durch denselben Bogen. Und stand alsbald vor einer Entscheidung, weil es mir aus den Augen schlüpfte – vor einer Treppe. Die nach unten oder oben führte. Ich hörte Schritte. Sie drohten von der Halle. Schnell in eine Ecke. Doch brachte mich nur eines in Sicherheit vor den eiligen Blicken: Ich verschwand in dem roten Gangvorhang. Unser kam vorbei, dann eine mißtrauische Weile später Todan. Und wie durch ein Wunder blieb ich unentdeckt. Ich war überrascht, ob der Fülle. War mehr Platz als vorgesehen. Ich ließ die Schritte weichen. Noiset kam angerannt. Und dann, als ich mich noch tiefer in den Stoff einwickelte – sah ich in der Wand hinter dem Vorhang einen Durchgang. Einen Griff, eine Klinke, eine Tür! Aus feinstem Holz. Wo sonst nichts anderes hätte sein dürfen, außer Blässe.“

„Schweig. Schweig! Schweiiig! Halt endlich deinen Mund! Hörst du? Hör endlich auf!“
Der Grobklotz packte den Puppenspieler am Schlafittchen, fegte die Puppen auf den Boden und wirbelte ihn gegen die Theke.
„Da war nie eine Tür! Da war noch nicht mal eine Wand. Du erzählst nur Lügen!“
Er zerschlug den Krug mit lautem Pitsch und drückte ihn auf den Tresen. Er drohte ihm mit den Scherben nah dem Halse. Die Adern darin schwollen an. Als wollten sie ihn locken. Es fehlte nicht viel. Adamas ging dazwischen. Stieß den Grobklotz mit verborgenen Kräften in seine Ecke. Er stellte den Puppenspieler zurück auf den Boden. Der Puppenspieler wischte sich den Speichel an der Jacke ab. Die Adern blieben geschwollen.

„Ja! Rempelt mich ruhig an. Auch dagegen habe ich nichts. Ich lebe ja für eure Bedürfnisse…  Auch wenn es Unbehagen bedeutet: Diese Tür hat Bestand. Auch wenn es nichts als Kummer bereitet: Diese Tür hat Bestand. Auch wenn du es mit Schlägen leugnest: Diese Tür hat Bestand! Ich schwöre es bei dem Leben aller Mütter! Diese Tür war so wahr, wie ich hier stehe. Und dir die Manieren fehlen. Ich weiß es – weil ich sie passierte…“

„Nein! Nei-hein!“ Wieder packte der Grobe den Puppenspieler am Hals. Diesmal umfaßte er auch das Genick. Und drückte und preßte, doch fehlten ihm am Ende jene Kräfte, die das Sichtbare glauben machten. Adamas trennte beide.

„…so wahr, wie ich hier stehe! Diese Tür… führte mich durch eine Welt in eine andere. So wahr, wie ich hier stehe… und lebe. Und atme. Und erzähle! Sah ich den Grund für banges Warten! Ich war da… Ich sah alles. Ich bin Zeuge…

 Ganz leise schloß ich die Tür wieder. Wühlte mich aus dem Vorhangstoff zurück zum Hier. Mied die Gänge. Niemand bemerkte mich. Und floh aus Mor. Nach Galvans Tode kam ich her. Mehr gibt es nicht zu berichten.“

Der  Puppenspieler bückte sich, hob seine Puppen auf, wischte sie zurecht und setzte sie wieder an ihren Platz der Tafel.

„Und der Junge? Und Lor? Und Boric? Und all die anderen? Das war es? Das ist alles gewesen? Du Hund!“ Der Grobklotz spuckte ihm ins Gesicht. Dann drehte er auf dem Absatz und eilte zum Ausgang.

„In der Tat! Man muß sehr nahe sein, um den Vorhang zu bemerken. Ihr wißt sehr viel für einen Puppenspieler, Puppenspieler.“ Adamas kam jetzt sehr nahe. Tief blickte er ihm in die Augen.

„Warum glaubt ihr, daß ich Hirte bin?“
„Aber der Junge…“
„…ist nicht mein Junge. So wenig, wie mein Begleiter ein grober Klotz ist. Sieh ihn dir an, da an der Tür. Sieh genau hin.“

Als der Puppenspieler den Grobklotz so betrachtete wurde der immer schmaler. Bis ein schmächtiger Knabe übrig blieb. Kaum zehn Jahre alt. Er erkannte ihn. Schnell drehte er sich um.

„Ich kenne deine Gründe nicht. So wenig wie du meine. Nur eines ist gewiß: Nichts ist, wie es scheint. Worte täuschen. Umrisse täuschen. Bilder täuschen. Meine Täuschungen mag ich. Guten Abend, mein Herr.“ Er gab ihm eine Münze. Er hielt seinen Hut in der Hand und setzte ihn auf. Schweigend verließen die Männer das Wirtshaus. Der Puppenspieler blickte in das Lokal, die leeren Tische, die Stühle, ein leerer Tresen, an dem niemand saß. Kein Wirt weit und breit. Und kratzte sich am Hinterteil, weil es ihm gar fürchterlich juckte.

„Was meint, ihr, Adamas. Hat er die Wahrheit erzählt?“
„Er ist Puppenspieler. Er erzählt Geschichten. Ob sie wahr sind oder nicht. Es sind die Dinge, die nicht erzählt werden, die zählen.“
„Und Lynx?“
„Keine Sorge, Mupo. Wir werden ihn finden.“


*


„Ah! Wer da? Bist du es? Wo bist du all die Zeit geblieben? Will nicht mehr im Dunkeln spielen. Das Licht, woher? Ich sehe nichts. Macht es aus!“
„Keine Angst, Boric. Wir bringen dir Gesellschaft. Kannst ruhig mit ihm spielen. Er merkt nicht viel. Ist noch benebelt von den Schlägen. Fang ihn auf. Dann löse das Seil. Ja, so ist gut. Schlafe wohl, Boric. Wir kommen in einem Monat wieder.“
„Und das Brot? Und das Wasser? Halt, so geht das nicht!“
„Liegt alles bereit. Trägt der Junge bei sich. Aber weck ihn noch nicht auf. Laß ihn schlafen. Träume befehlen nicht. Und wie geht es deinem Strohhalm? Zeig mal. Stell dich ins Licht. Ah! Er wollte es nicht glauben. Aber er ist gewachsen! Wie lang mag er sein? Eine halbe Elle schon oder mehr? Mehr! Ich habe eine Wette am Laufen. Wenn er länger als dein Arm wird, Boric,  bekommst du Wein. Nicht den gepanschten. Den echten. Bis in einem Monat dann. Enttäusch mich nicht.“

„Wie bin ich hier her gekommen. Ja… jetzt fällt es mir wieder ein. Und Mupo? Blieb er unentdeckt?“
„Mupo? Wer ist Mupo?“
„Es ist so dunkel hier…“
„Warte, ich mach’ Licht. Die Wärter glauben ich bin nicht ganz dicht. Reimt sich sogar, haha.“

Wenn sich etwas bemerkbar machte in diesen Tagen, so war es nicht das Unbehagen oder Sorge um die Lieben, so war es bloße Ahnung, die unbekümmert machte in diesen Tagen. Auch im Garten längs der Büsche und im Rosenhain empfand man das Licht der späten Sonne als wohlgemeinten Rat der Laune. Als Wink, nicht zu hasten, zu verweilen bei der Eile und zu schweifen…

 Die Äpfel im Garten reiften früher heran in diesen Fragen als in allen Jahren. Sie wurden rot in diesen Tagen. Als Wink, nicht zu erfassen, zu ertasten bei der Lage ihrer Schatten. Makellos im Schein der Tropfenlichter Tau hingen sie voll und prächtig an dünnen Nabeln. Wie Trauben dicht im Laub zu lichter Enge, aus Blütentrichter Stengel, umspielt von rosa Wärme – ein Ruck! – der feinen Hände: Ließen fallen in einen tiefen Korb. Gehalten von Damastarmen. Glänzten in der roten Glut, auf den Blicken nur diese eine Frage:
Wer bei dieser Sache Früchte trug…

Auf der Leiter und im Kleide – Lor. Ließ den nächsten fallen. Fiel knapp an Lynx’ Kopf vorbei zur Erde. Begleitete ihr Lächeln Fall und Unbill über diesen Streich.
„Verzeih!“ Der folgende Apfel landete dumpf im Korb. „Ist mir nur so aus den Fingern gerutscht. Nicht meine Schuld…“, stichelte sie. „Solltest den Korb näher bringen. Warum eigentlich pflückt nicht der Knecht die Äpfel? Die Prinzessin hat noch genug Arbeit, sie zu verdrücken.“
„Weil ihr es so wolltet.“, antwortete Lynx knapp und überhörte Lors Gekicher. Ihn traf der nächste Apfel am Kopf.
„Au!“
„Oh! Verzeiht, mein Knecht. Ich sehe wohl den Korb schlecht.“
„Aber mich seht ihr wohl? Ihr trefft.“

Als Wink, nicht zu fragen in diesen Tagen. Für Lynx: Ob ein Schiff auf ihn oder anderes wartete. Er zückte seinen Stab und stocherte an Lor vorbei in dem Baum. Die Äpfel waren reif für ihre Jahre und fielen frei. Manche fielen zu Boden, manche in den Korb. Andere trafen wiederum.
Lor lachte auf: „Ihr auch.“

Als Wink zu verstehen, nicht mehr zu fragen. Für die Kinder: Weil sie sich liebten in diesem Garten. In diesen Tagen. Sich zu sehen. Für Mondrian: Hinter einer Mauer zu stehen. Und… zu widerstehen. Was für Männer schwierig war, für einen Glauber Prüfung und… ihm unmöglich war. Zu widerstehen. Hinter einer Mauer. Näher. Einem Baum – noch unentdeckt vom Zauber der beiden Verliebten. Als Wink, sich zu betragen in diesen Tagen. Um mehr zu nehmen. Bei Gelegenheit. Als eitel Sonnenschein.

Mupo warf Steine in die Augen. In den Frauenkopf erstarrt zu Qualen. Manche trafen, manche prallten ab. Fielen zu Boden oder gleich ins Becken. Für jeden nassen Stein einen Wunsch. Für jeden Treffer den Zorn der Spötter. Schritte im Rücken ließen ihn zusammenschrecken. Mondrian bog um die Ecke!
 Er näherte sich mit diebischer Eile. Schnurstracks auf den Steinkopf zu. Mit eiserner Härte. Spürte seine Schritte. Als Wink zu nehmen. Schlug die Schaufelhand nach vorne. Und drückte zu. Lange. Und lange. Bis der Atem fehlte. Dann rückte der Hebel moosernd glitschig in die andere Positur. Und links von ihm öffnete sich das verwunschene Tor. Mupo sah Mondrian verschwinden. Verschwommen. Wie jeder Umstand der Nähe, der Unklares zu Tage förderte. Für Mupo: Als Wink zu verstehen, mehr als nur ein Gesicht durch den Wasserschleier zu sehen. Mehr als nur eine große Nase, mehr als nur geschliffene Züge. Ein Gesicht zu sehen. Nur ein Gesicht zu sehen. Das ihn daran hinderte, müde zu werden. Hier unten im Bassin des Brunnens – zusammengekauert, unentdeckt vor Mondrians Wütaugen und erstarrt in Qualen. Blasen zu sehen, die mit ihm verschwanden. Weil die Luft zum Atmen fehlte. Und Gedanken als letzte Nahrung: Zu ertrinken – in einem Garten.

Folgte er ihm? Auf diese Weise? Zu schwach, sich zu bewegen, hörte er Lynx und Lor. Sie kamen zu den Augen.
„Nach Broa. Ein Schiff wartet dort auf mich.“
Broa? Der Turm dort macht mir Angst. Er steht an den Klippen und sehnt sich nach mir. Ich bin nicht dumm. Wofür die Männer sterben. Doch solange Vater lebt, wird mir nichts geschehen. Werde bei dir bleiben. Hier.“ Lor beugte sich vor und küßte Lynx.

„Das ist mein Pfand an dich.“ Was sie verband.

„Für jetzt… Für immer…“

„…und immer mehr. Lieb ich dich.“

Und Mupo starb.

Vor Angst. Ertrunken. Wie ein Kind im Leibe der Mutter. Die Handflächen geöffnet. Um zu stützen oder abzuwehren.
Am Rande einer Mauerwand. Ein Frauenkopf erstarrt zu Qualen.




Eine Minute.
Die Struktur einer Minute.
Die Struktur einer Minute ist eine Minute.
Eine Minute ist …das Leben.
Eine Minute ist gar nichts.
Sind sechzig Takte.
In absoluter Ruhe der Pulsschlag eines Leben.

Woher die Ruhe nehmen?







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