"Hallo" ist das Pfandleihhaus des "Aufwiedersehn"...



Miniaturen des Absurden

Betrete mit der Miene der Abfälligkeit und erhalte Einlaß

Vom Jardin du Luxembourg zum Panthéon brauchte es schon mehr als platonisches Innehalten, um sich Gehör für Gesehenes zu verschaffen. Da...

Samstag, 15. September 2018

Der Effekt von blonden Haaren



Ich stehe auf dem Balkon und sehe lächelnd einem kleinen Mädchen mit engelsweißblonden Haaren dabei zu, wie es da unten verträumt hockt und etwas auf dem Weg beschaut, was ihr Interesse auf so eine verträumte Art gefangen hält, daß sie ihre Mama, 15 Meter weiter vorne mit Bollerwagen, still auf sie warten läßt. Die Mama ist ganz geduldig und schimpft nicht. Das ist schön, denke ich. Eine liebe Mama. Schimpfen darf man nicht. Das Mädchen kann jetzt ganz einfach verträumt sein.

Und dann denke ich: Uha, die Mama sieht nicht schlecht aus. Nein. Sie sieht gut aus. Doch, sie sieht gut aus. Sie ist blond.

Dabei kann ich sie gar nicht so genau sehen, hier vom Balkon aus. Aus der Ferne.

Aber sie sieht gut aus, denke ich. Sie ist blond.

Und dann trete ich zur Tür heraus, auf der anderen Seite, und sehe sie nochmal. Kaum richtig. Aber sie sieht gut aus, denke ich, um meine Verwunderung nochmal in Gedanken zu fassen, damit die was zum Greifen haben, weil ich nicht weiß, warum ich das denke und warum man etwas zum Fassen braucht, wenn man andere heimlich beobachtet, die man nicht greifen kann, auch wenn es gar nicht heimlich ist und dadurch auch nicht mit Fehl belastet. Ich stehe hier einfach nur und gucke.

Ich schaue mir sonst von hier oben auch nur mal die Bäume an. Und sehe ihre Veränderung. Bald, so ihre Blätterleiber, ist Herbst, denke ich. Ein schöner Tag ist heute, denke ich. Oder es ist kühl, denke ich.

Eine dunkelhaarige Mama mit zwei Mädchen – beide in Rosa gekleidet, weil die Große rosa trägt, dann wollte die Kleine auch rosa tragen – kommt vorbei: Die Kleine will unbedingt Händchen mit der Mama halten. Die Mama will, daß die Große auch mal Händchen halten darf. Die Kleine will das aber nicht. Es gibt Streit. Dann soll die Kleine aber auch Händchen halten mit der Großen. So gehen jetzt alle drei in einer Reihe Händchen halten. Die Mama ist nicht schön, denke ich. Sie ist nicht blond.

So etwas schaue ich mir an. Von außen sieht man nur das Haus.

Und das kleine, engelsblonde Mädchen trottet verträumt ihrer blonden Mama hinterher. Auf der anderen Seite. Zuckersüß. Und sie trägt dabei einen schwarzen Beutel, den sie trägt, obwohl sie ihn auch einfach in den Bollerwagen legen könnte, damit sie ihn nicht tragen muß. Will sie aber nicht. Lustig, denke ich. Sie sieht so aus, wie ein Kind, daß eine Erwachsene nachmacht, die eine Handtasche trägt. Wahrscheinlich macht sie ihre Mama nach. Und sie trottet so verträumt hinter ihrer Mama hinterher – immer mit genau 15 Meter Abstand, daß diese 15 Meter genau der Abstand an unsichtbarer Leine sind, die ein kleines Kind wohlbehütet in ihrer eigenen Welt träumen läßt. Diese Mama schimpft nicht. Diese Mama läßt das kleine Mädchen trotten und träumen. Sie hat alle Zeit der Welt dazu.

Und dann denke ich: Ja, die Mama sieht gut aus. Sie ist blond.

Und ich weiß nicht, ob sie von hier oben deshalb gut aussieht, weil sie von unten auch gut aussehen würde, oder weil sie blond ist. Und aus der Entfernung ist das Blond so blickeinfangend, daß blond nur gutaussehen kann aus dieser Entfernung. Richtig ihr Gesicht sehen kann ich nicht. Und genau in dem Augenblick, als ich genauer hinsehen wollte, ohne bemerkt zu werden, kommt mein Nachbar Kofi, tritt auf den Laubengang, schaut, wohin ich auch schaue, schaut runter, sieht die blonde Mama und sagt laut: „Oh, schöne Frau. Ha, ha!“

Ich trete einen Schritt zurück. Ich will nicht beim heimlichen Beobachten beobachtet werden. Und dann denke ich, daß Menschen, die an Häusern vorbei gehen, gar nicht merken, wie sie aus den Fenstern heraus beobachtet werden. Oder vom Balkon. Oder vom Laubengang. Sie gehen unten einfach ahnungslos vorbei, und wissen gar nicht, was für Gedanken diese Menschen in beobachtenden Augen auslösen, die sie beobachten. Ganz friedlich gehen sie vorbei und wenn, dann schauen sie sich nur das Haus an. Von außen betrachtet ist es nur ein Haus. Menschen sind da nicht. Wozu dann diese ganzen Wohnungen? Und beim nächsten Mal, wenn ich unten bin und selbst an Häusern entlang gehe, werde ich mal darauf achten, mich daran zu erinnern, daß irgendjemand auch mich beobachtet, ohne daß ich das bemerke, aber denke dann: Dann werde ich das vergessen haben. Es ist nur ein Haus. Und ein Haus schaut nicht.

Und ich denke: Die sieht gut aus. Kofi ist endlich weg.

Er fragte mich noch, ob es mir gut geht. Ich bejahte. Und ich fragte, ob es ihm gut geht. Er bejahte. Er sagt es automatisch. Bejahen ist immer automatisch.

Und dann kann ich endlich wieder diesem kleinen, süßen Mädchen und ihrer blonden Mama hinterher schauen. Das Mädchen soll jetzt von der Parkplatzstraße gehen, auf den Bürgersteig, sagt die Mama. Weil ein Auto kommt. Aber nicht schimpfend. Nur behütend regelnd mit Nachdruck. Und das Mädchen mit ihrer Beutelhandtasche erklimmt den Bürgersteig mit einer Anstrengung wie es nur kleine Kinder können, weil der Bürgersteig für kleine Beine so hoch ist und das Leben für Erwachsene ausgerichtet ist. Ich muß von einer Seite des Gesichtes bis zur anderen lächeln. Weil das so süß ist, wie sie den hohen Bürgersteig erklettert. Und die Mama wartet, dann zieht sie den Bollerwagen weiter. Wie eine Möhre, die man an einer Angel gebunden hat und einem Esel vor das Maul hält, um den zum Weiterbewegen bewegen möchte. Aber mit aller Zeit der Welt, die kleine Mädchen in einer hohen Bürgersteigwelt brauchen, damit der Weg so schön verträumt bleibt.

Und ich denke: Ja, die Mama sieht gut aus. Sie ist blond.

Der Effekt von blonden Haaren. Warum ist das so? Warum denke ich, daß diese Mama so gut aussieht? Ich werde sie nie wiedersehen. Und wenn ich wollte, könnte ich Menschen immer wiedersehen.

Die sind immer verfügbar. Man nennt das ‚Internet‘ und es gibt so Seiten, auf denen sich fremde Menschen immer wiedersehbar machen. Die könnte ich nachts um halb Drei wiedersehen. Wenn ich wollte. Sie sind immer verfügbar. Und wenn sie sich unsichtbar machen, dann kann man immer wieder andere betrachten. Es gibt immer wieder andere. Sie sind immer verfügbar. Und sie sind immer wieder austauschbar. Und immer wieder ersetzbar. Dunkelhaarige, Rothaarige, auch Blonde. Und in der Austauschbarkeit sehen Dunkelhaarige immer gut aus.

Die Mama aber ist blond. Sie ging unten an mir vorbei. Ohne es zu wissen. Und blond bleibt im Gedächtnis. Es zieht die Blicke auf sich.

Blond ist immer anziehend. Blond ist nicht dunkelhaarig, wie in der Schule, als die dunkelhaarige Austauschschülerin aus Frankreich in die Klasse kam, als man 14 war, und man denkt: Ja, die ist schön. So etwas hat man noch nicht gesehen. Französisch. Aber die ist nicht für einen. Die bemerken einen nicht. Die sind nur fürs Angucken da. Die sind so Fabelwesen. Die sind dafür da zu denken, daß es Schönheit gibt, aber es Schönheit nicht für einen 14-Jährigen gibt. Bei denen hat man keine Chance. Sie sind fern.

Blond sagt einem: Hier.

Blond sagt einem: Nah.

Blond sagt einem: Denke an mich.

Alles andere sind Fabelwesen. Zum Panini-Album einkleben. Zum Zuklappen. Zum Weglegen. Tauschbar. Menschen sind tauschbar, dunkle Haare sind tauschbar. Blonde Häuser bleiben.



Häuser werden immer Augen haben, denke ich.

Ein schöner Tag, denke ich.







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(Ode/r an Mauerschauer: „Ich stehe auf meine‘ Maue‘ und schaue.“)





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