Als ich nach dem Dollar griff – für mich war es schon
einer – besah ein anderer auf selben Fuß den Wert seiner Betrachtung, er
trat aus den Regalreihen, und, als ich wieder danach griff, bückte er sich,
vielleicht allein, weil der Dime durch mein Greifen schon glänzte,
während ich widerstand, während Frau Ming so verschwand, durch mein
Verlieren eher, nein, eher durch mein Spielen glitt er mir durch die Finger,
und nahm ihn beanspruchend für sich ein, was er durch plumpes Sohlendraufsetzen
andeutete.
Als ich nach dem Dollar griff – für ihn war es sicher
keiner – drückte er den ganzen Schuh nach. Was mich dazu bewegte, ihm 90
Prozent meiner Bemühungen in Rechnung zu stellen. Ich wollte ihn am Ausgang
daran erinnern, entschloß mich aber, zuvor ihm den Dime zu lassen –
als kurzfristige Anlage etwa, damit er sie mehren könne, oder als Anleihe –,
und ihm so das Darlehen zu gewähren. Ich bin nicht sonderlich mißtrauisch, entsann
mich allerdings einer gewissen Vorsicht, die – so mein Vater mir
beibrachte, Vorsicht sei eine Höflichkeit unter Fremden, die sich nie
begegneten – und so merkte ich mir sein Gesicht vor.
Vorgesicht sozusagen – so
brachte ich mir selbst einst bei, war die Höflichkeit unter Fremden, die sich
nie wieder begegnen wollten – schien an sich ein gebrochener Mann zu sein.
Ob sein Fußdraufsetzen seinem Rücken einen Knacks versetzte oder ob es Ausdruck
seiner Unwissenheit über Besitz und Lage des Dollars in meinen Händen war, vermochte ich nicht beurteilen.
Mochte nicht, was er tat, gewährte ihm – auch auf Rückgesicht seines
Alters, das, so mein Vater mir ebensolch beibrachte, die Höflichkeit unter
Fremden war, die sich im Jenseits wieder nie begegnen wollten – Halt,
nein, auch nicht. Aufschub, nachdem schwarzer Rauch auch aus seinen weißen
Haaren aufstieg, nachdem er Hut und Kragen durch Gier nach Gier
verlor. Schob sich vorbei, auch am Tresenblick, in der Hand auch einen
Gegenstand des Gefallens, und verließ ohne zu zahlen Raum wie Laden, aber mit
Schuld und – aus meiner Sicht – doppelten Schulden. Ich erinnerte
mich, daß ich ihn am Ausgang erinnern wollte, erinnerte mich – gerade, als
ich mich an die Leere erinnerte in Tasche und Händen – Frau Ming an ihr bauchiges Lächeln, die und
das sogleich, als ich mich an beides erinnerte, hoch geschossen kam.
So stand ich vor den
Regalen, war aber noch keinen Schritt weiter. Ein Klingeln an der Tür ließ sie
mir ständig, und so entschloß ich mich, ungenutzt der Regale auf sie zuzugehen.
Und zu meiner Überraschung kam sie mir entgegen. Sie – und das war der Teil
der Überraschung, der mich am meisten überraschte – schwang ihre Beine
über den Tresen wie bei einem Pauschpferd, stützte sich mit durchgestreckten
Armen ab, trug noch immer ihre Ming-Vase vor sich her – woher sie
die Hände nahm? –, ging in die Hocke, die gesteckten Arme zur Decke, die
Hände dabei abgeklappt, die Finger gespreizt, vor eingebildeten Turnerpublikum
in Erwartung der Wertung, dann auf mich zu, suchte nach einem Gedanken, fand
aber weder einen in den Taschen noch in den Handflächen, dann – und das kam
mir doch etwas komisch vor – entwertete sie unsere gemeinsame Zukunft vor
Regal Nr.2 mit Aufschrift Klaviersonaten bis Lampenschirme, K
bis L, indem sie die Richtung in Richtung Geläut änderte, zur Tür,
die, wie ich mich nun entsann, über gar keinen Klingelton verfügte, bei mir
jedenfalls nicht.
Wie ich herausfand, war
der schuldige Herr gefallen. Gleich längs vor der Schwelle beim Hinaus-à-gieren.
Lenkte ihn neckisch ab. Das Glänzen, das seinem Haar etwas Tönung verlieh.
Entließ den Dime wohl aus der Umklammerung – beim Stolpern –,
der klimperte –daher das Klingen –, und kreiselte, wie mir Frau Mings Miene berichtete, über einem
mongolischen Gullideckel: Down-Syndrom – weg war er. Dennoch bestand
ich, als Gläubiger, auf meine Schuldeintreibung.
Auge um Auge nicht,
aber Dollar für Dime. Nur… Frau Ming war so lieblich in ihrer
Aufreizung, gerade mehr, da sie diesem hilflosen Dieb ihre volle Vase als
Stütze darbot, daß ich nicht umhin kam, ihr im Gegenzug meine volle Blase als
Bekundung in Erwartung freudiger Leere zu überantworten, die mich erwartete, wenn
ich sie mit Mutaufguß zu zwei Tassen Kaffee entführte. Ich wartete, bis sie
ihre Ladenpflicht in beide Schöpfkellen legte, als besorgte sie schon das
Brühwasser – die Fäuste in weichen Hüften –, den Dieb schon umrührte
und ihn nun so freundlich aus der Gosse schüttete wie einen Teeguß aus Kosters
Munde:
Spucke.
Ja,
Frau Ming. Ich musterte sie, ein,
zweimal, und es fiel mir auf, daß Herr
Goldschmit selbiges mit meinem Rücken machte. Sie kam zurück, bediente die
Tür, querte meine Blase, in Händen ihr, nun, sagen wir mal, Ding, das
sie wägte, und befreite den Tresen von seiner Leere. Nachdem Herr Goldschmit schon diesen wienerte.
Keine Pauschakrobatik, keine Hockovationen, keine Wertungen. Nur,
diese kleine Musterung. Des Kleides. Diese erinnerte mich. Erinnerte mich an
das Muster meiner Sakkotasche, mehr das Muster des Innenfutters, an das ich
mich vorhin nicht erinnern mochte, als Herr
Goldschmit Licht durch seine Stehgarderobe hinein mit seinen Flügeln
brachte. Sie erledigte ihre Sachen, legte Blätter in Ordnung – bezahlte und
unbezahlte Rechnungen, so meinte ich Herrn Goldschmits Augenteleprompter
entlesen zu können –, und tat, was sie am besten konnte: Nichts.
Nichtsdestogleichen, nichtsdestotrotz, nichtsdingsdabumms.
Ab und zu rollten ihre
Pupillen, nickte sie Neins in die Luft. Ich zählte sie. Dann pauste
sie. Vielleicht war es ihre Größe – ich entschied mich, nun doch eines der
Regale aufzusuchen, täuschte Interesse bei einer Hutschachtel vor, öffnete sie,
darin Murmeln, kunterbunte Murmeln, ein Zettel mit Kindernamenunterschrift,
darunter der Rekord mit Zahlen und Strichliste, und Namen anderer Kinder –,
sah aber hindurch. Ihre Größe – ich beobachtete sie – war mit der
meinen zu vergleichen. Etwas höher vielleicht, aber im Rahmen der Erotik eines
gleichhohen Augenstichs und Atemteilens verweilend. Vielleicht wollen große
Frauen in den Arm genommen werden. Wollen beschützt sein, doch glaubte ich
daran noch vor Jahren, so war ich mir nun sicher, daß sie dadurch nur
auf den Arm genommen werden würden. Beschützt sein als Ausgleich zur fehlenden
Brust der Mutter. Nein, Augenreiz wie Reißverschlüsse, wobei sich beide
Zackenreihen in das andere Sehen ziehen, das war der Hosenschlitz, der Begehren
mit der Sicherheitsnadel der Befangenheit und der Unbekümmertheit des
Fallenlassens einkleidete – und Atem, ausgetauschter Atem, der benommen machte,
weil zwei Züge aus nicht für zwei Züge ein reichten, aber für
beide einer reichte.
War so groß, wie ich
das wollte. Auch kleiner – gern. Auch größer – gern. Nur sollte die Frau dabei
bequem noch stehen. Kein gekrümmtes Rückgrat brechen, wie ich es vor kurzem bei
einer Bedienung in einem billigeren Diner sah. Bequemer latschen.
Halsader, pochendes Insekt, das sticht und sticht und sticht und gerne in
dieser Nähe ist, und Schläfen, so nah, daß sie schon vom Hinsehen in Ohnmacht
wollen. Beschützt sein bei dieser Höhe ist alles andere.
Zu streicheln. Nur
leicht.
Ich ließ einen
Regenmantel vorbei, legte die Schachtel ohne Hut zurück, wo ich sie fand,
lenkte mich zur Wand, wo ich eingangs den Durchgang zum Photolabor erdachte,
und las in freier Ecke in verschiedenen Pfandleihsachen wie in Mings verschiedener Beharrlichkeit, kaum
Interesse zu wecken sei. Pfandleihsachen.
Nun, was gab es
über Frau Mings Vase zu berichten? Ich
ertappte mich ja bei ihrer Turnertätigkeit, also ihren vielen Bauchgeschäften
zu wenige Hände gezählt zu haben. Pfandleihsache, eben. Ertappte ich mich ein
weiteres Mal. War kein Grund für schlechtes Gewissen. Arbeitete schließlich in
einer Pfandleihe.
Obschon ich dieses
seltsame Gefühl glaubte bei ihr beobachtet zu haben, gegenüber Herrn Goldschmit nicht, mehr dem Kunden
gegenüber, vielleicht. Herr Ming...
war sicher kleiner. Dachte ich. Dachte ich eine Menge. Auch eine in meine Hände
herbei, wobei ich mich davon überzeugte, daß ich keinen Topflappen, sicher
keinen benötigte, auch wenn im Etikett Paris und in der Herkunft hbg
eingestickt war, und auch für keine Rattanflöte aus Indien Verwendung
finden werde – anbei die Gebrauchsanleitung: Gut blasen, gut icken;
einer dieser typischen Übersetzungsfehler, die schon mal zwischen zwei
fehlenden Welten passierten; ein Buchstabe fehlte obendrauf, sollte wohl gut
blasen, gut tuten heißen –, eine merkwürdige Art der Beschreibungsfindung,
eine Menge Kleiderstoff für eine Vase und noch mehr für einen Körper. Sie war
schwanger, ohne Zweifel. Und ich dachte an all die Erotik, die es noch zu
erleben gab, all die Reißverschlüsse, die noch zu öffnen waren, und all die
Atemblasen, die noch zu teilen, daß mir schon hustelig vor lauter Zipp und
Zipperlein wurde, ehe ich noch zu ihrem Immunsystem vorgedrungen war. Ich
wußte nicht viel. Aber ich wußte, daß ich ein Mann war. Und ich wußte, daß
ich als Mann in ihrer Nähe, die Nähe eines Kindes, das nicht meines war,
kompensieren müßte. Ohne es zu wollen. Ich wußte, daß ich dieses
annehmen und lieben würde. Und daß ich sie noch während ihrer Schwangerschaft,
und das legte unglückliche wie neugierige Gefühlsmanschetten an mein Sakko an, penetrieren
müßte. Um einen Scheinsamen über das bereits befruchtete und gedeihende Wesen
zu legen, auch wenn dies so kaum für mehr als Unsinn auf der Käseschmiere
reichte. Was macht ein Samen?
Ein Samen macht erst
mal nichts. Was macht ein Ei? Ein Ei macht erst mal nichts. Was
machen Ei und Samen zusammen?
Sorgen.
Erst besorgen, dann
Sorgen. So einfach ist das. Ich wußte, daß ich es ihr nach der Schwangerschaft
besorgen müßte. So richtig. Ich als Mann. Das zweite Kind. Gleich – hopps –
nach dem ersten. Daß, kaum waren die Entbindungssorgen geboren, die neuen von
morgen.
Was Herr Ming wohl
dazu sagen würde?
Und Frau Ming?
Und Herr
Goldschmit?
Und die Erotik?
Und die
Reißverschlüsse?
Und meine
Sakkotasche?
Zwei Kinder in einem
Jahr verkraftet keine Hose.
So stand ich vor dem
Schaufenster, war aber noch keinen Schritt weiter.
So stand ich vor der
Tür, war aber noch keinen Schritt weiter.
So stand ich im
Eingang, war aber noch keinen Schritt weiter.
So stand ich vor dem Dime,
war aber noch keinen Schritt weiter.
So stand ich vor Frau
Ming – hinter Regalen – und war noch keinen Schritt weiter.
*