"Hallo" ist das Pfandleihhaus des "Aufwiedersehn"...



Miniaturen des Absurden

Betrete mit der Miene der Abfälligkeit und erhalte Einlaß

Vom Jardin du Luxembourg zum Panthéon brauchte es schon mehr als platonisches Innehalten, um sich Gehör für Gesehenes zu verschaffen. Da...

Samstag, 19. Juli 2014

Eiswürfel


Monte Argentario liegt hinter mir, der Strand darunter öffnet sich wie eine Handtasche von LV, deren Inhalt kaum für Läßlichkeiten am Nachmittag reichen. Fiona Apple singt ihr Fast as You Can, die Klimaautomatik bläst dagegen. Die Sonne schleudert ihre Strahlen, 32°. Das Cabrio wirft sein Verdeck in den Nacken, ich tue es ihm gleich. Sonnenbrille, offene Haare, meine Wasserwaagenaugen passen sich dem Gefälle an, das mich zu der Bucht bringt. 35 Jahre, Consulting-Expertin in der Medienbranche, kaum Kinderwunsch, On/Off-Beziehung, One-Night-Stands mit jüngeren – mehr als daß ich Klischees entspreche muß man nicht über mich nicht wissen.

Ich stelle den Jeep Wrangler am Straßenrand ab, setze den Sonnenhut auf, verlasse ihn, wie meinen Ex-Freund, von dem ich weiß, daß ich ihn wieder dort auffinde, wo ich in abgestellt habe – wäre er weg, wenn ich zurückkomme, Auto wie Freund, so hätte ich wirklich Probleme –, Knirschen meiner Sandalen wechselt zu Sanddumpf. Der kleine Pfad führt mich an den Strand. Zum Glück bin ich allein.

Gonna try… Mein iPhone ärgert mich mit Try and Love Again von den Eagles.

Die pfirsichrote Strandtasche gebärt ein quengelndes Badehandtuch. Ich breite es aus. Lege mein dünnes Sommerkleid ab, darunter kommt der weiße Bikini zum Vorschein, darunter der Körper einer Frau, der man ansieht, daß sie mal schön war, wie auch das Gesicht, aber durch die Jahre die Aura der Jugend verloren hat. Der Sand ist heiß. Ich lege mich hin. Ohne mich vorher im Meer abgekühlt zu haben. Ich wünsche mir einen Eiswürfel herbei.

Ich spiele mit meinem Smartphone, spiele mit der Kamera, nehme im Liegen meine angehockten Oberschenkel auf, Meer und Facebook im Hintergrund. Surfe mir den Eiswürfel herbei: „Am häufigsten werden Eiswürfel zum Kühlen von Nahrungsmitteln verwendet. Fisch, Fleisch und andere leichtverderbliche Waren werden mit Eiswürfeln auf ihrem meist langen Transportweg frisch gehalten.“, sagt Wikipedia. Fühle mich wie eine leicht verderbliche Ware.

Und wenn ich selbst ein Eiswürfel wäre? Schweißtropfen rinnen meinem Bauch herunter. Würde ich jetzt ins Meer gehen und mich dort auflösen.

Ich entlasse den Gedanken und schwitze in der Sonnenhitze am Strand weiter.

Ich mache ein Selfie. Lächle. Nach einer Stunde ohne ins Meer gesprungen zu sein stehe ich auf und packe meine Sachen. Den Wagen finde ich oben am Abhang wieder. Wie immer. Ich starte den Motor. Schreibe eine Whatsapp. Bevor ich nach Poggio Pertuso weiterfahre, schaue ich mir noch die Bilder an, die ich geschossen habe. Die Bucht. Der Strand. Die Oberschenkel.

Auf dem gelben Badehandtuch liegen flach und strahlend weiß Bikini-Ober- und Unterteil im gebührenden Abstand zueinander. Eine Pfütze aus geschmolzenem Wasser ahmt Konturen nach. Von mir ist nichts zu sehen.

Ich schaue in den Rückspiegel. Ich weiß nicht, ob ich lächeln oder weinen soll. Wasser für Tränen habe ich nicht mehr.


Also das andere.







*




Wir brauchen Rauchen


Na gut. Dieses eine Mal legen wir die Zigarette beiseite und atmen stattdessen frische Luft.

Als ich noch lief – und ich tat dies mehrmals die Woche, 8 km –, lernte ich, daß man eine Stunde vorher und bis eine Stunde danach nicht rauchen sollte, weil sich durch das verstärkte Atmen beim Joggen die Lungenbläschen öffnen, um die benötigte Menge an Sauerstoff für die erhöhte Energieleistung aufnehmen zu können, und täte man rauchen, während dieser Zeit, so werden all die schädlichen Inhaltsstoffe einer Zigarette besser absorbiert von der Lunge.

Nun nehmen wir mal an, daß alles zuvor Geschriebene nichts mit dem weiteren Verlauf dieser Geschichte hier zu tun hat, und daß die Zigarette, die Lungenbläschen, das Joggen und der Sauerstoff nur dazu dienten, von Lia abzulenken.

Lia, so muß man wissen, erwarb ihre ungeheure Teleportationsgabe durch jahrelanges Konzentrieren auf ein halbvolles Wasserglas – starren könnte man sagen –, dessen Inhalt sie so vom Glasboden in ihren Magen verschob, im Alter von 5. Vierdimensionale Hexamentalarithmetik. Einfach ausgedrückt. Es hilft ihr, das Wasserglas in die exakte Mitte eines blanken Holzküchentisches – Palisander hat sich hier bewährt – zu stellen, die Ellbogen an der Kante abzustützen und die Hände so zu verbringen, daß sie das Kinn dort darauf ablegen kann. Sie rückvollzieht diesen Vorgang und das Wasser entfernt sich aus dem Magen zurück ins Glas, ohne daß sich Magensaftmoleküle mit den Wassermolekülen verbinden. Diesen Vorgang wiederholt sie mehrere Male, bis sie außer Atem ist. Wie gesagt. Die Lungenbläschen öffnen sich, um die höher benötigte Menge an Sauerstoff für die erhöhte Energieleistung aufnehmen zu können.

Ich traf Lia zum ersten Mal auf der örtlichen Kirmes, wo sie sich den Spaß erlaubte, Gewinnern beim Luftgewehrschießen die komischen Teddybären, Elefanten oder Giraffen nach dem Überreichen durch den Schießbudenbesitzer aus der Hand zu teleportieren. Sie versteckte sich in einer Ecke, konzentrierte sich, und schon lagen diese Stoffpuppen an altem Platz in der Bude. Sie hatte eine lukrative, vertragliche Vereinbarung mit dem Schießbudenbesitzer abgeschlossen. Wie sich später herausstellte. Hinter der Bude ließ sie sich die Scheine in bar auf die Hand auszahlen.

Lia, das hatte ich noch nicht erwähnt, war zu ihrer Kirmeszeit 15 Jahre alt. Ihre Eltern waren geschiedene Lehrer, sie wohnte im 11. Arrondissement de Popincourt, im 41. Quartier de la Folie-Méricourt, sie besuchte das Collège et Lycée Voltaire. Sie teleportierte einmal einen Stift in den Hintern des Französischlehrers, weil er ihr eine schlechte Note gab. Der schrak auf, wollte sich aber nichts anmerken lassen und verließ steif das Klassenzimmer zur Schultoilette.

Ich trug damals mein weißes Sakko mit Travolta-Kragen, weißerer Bundhose und grauen Gürteltier-Stiefeletten. Und hatte dort meine Geschäfte zu erledigen. Als sie wieder mal eines dieser Stofftiere zurückteleportierte trat ich in der Ecke an sie heran, wurde grob, aber merkte, als ich sie am Arm festhielt, daß sie sich zu wehren wußte mit Hilfe ihrer Teleportationsgabe, so daß ich zu smarteren Mitteln greifen mußte. Ich überredete sie zu einer Wette. Wenn ich es schaffte, auch etwas zu teleportieren, so würde sie fortan für mich arbeiten. Widerwillig, wie es nur 15jährige sein können, die etwas wollen und wiederum etwas nicht wollen, ging sie darauf ein.

Ich holte eine Zigarette aus meiner silbernen Schatulle, zündete sie an und teleportierte den Rauch mittels kräftigen Zugs vom Mund-Ende der Zigarette hinein zur Lunge. Und ich muß sagen: Es tat gut. Erhöhter Energiebedarf, Sauerstoffschuld, Lungenbläschen hin oder her. Ich teleportierte. Sie verlor ihre Wette und arbeite von nun an für mich. Wir ließen die Kirmeszeit hinter uns, und ich postierte sie fortan neben den größten Banken Paris. Jahrelang ging das so. Und was hatten wir für einen Spaß!

Heute ist Lia siebenundzwanzig und eine wohlhabende Frau, die eine feine Wohnung im 1. Arrondissement bezogen hat mit Blick auf den Eiffel-Turm.

Übrigens den Trick mit der Zigarette hat sie bis heute nicht durchschaut:

Sie ist Nichtraucherin.

Ich dagegen hatte nicht so viel Glück. Ich starb an einem kalten Januartag des Jahres 1982 an einer verschleppten Lungenentzündung. Die Bläschen. Die Sauerstoffschuld. Wahrscheinlich der Travolta-Kragen.

Es gibt Schlimmeres.

Wenigstens starb ich nicht an Krebs.

Lia teleportierte meine silberne Zigarettenschatulle in mein Grab. Vielleicht ahnte sie doch etwas.






*