"Hallo" ist das Pfandleihhaus des "Aufwiedersehn"...



Miniaturen des Absurden

Betrete mit der Miene der Abfälligkeit und erhalte Einlaß

Vom Jardin du Luxembourg zum Panthéon brauchte es schon mehr als platonisches Innehalten, um sich Gehör für Gesehenes zu verschaffen. Da...

Sonntag, 27. Juli 2014

Raketenhände


Orbiteraugen umkreisten in Niedervoltspannung die grüne Welt, die blauen Meere, die weißen Wolken, erfassten den silbernen Schweif, der sich aus der Atmosphäre löste, und dockten an die bevorstehende Landung der Space Explorer an. Supertramp’s Cannonball schoß auf die Tür, und sie öffnete sich mit einem unwirschen Zisch im Sauerstoffnebel der Verspätung. Zu den Orbiteraugen gesellte sich ein Satellit namens Mike, der sich die Zeit notierte. Niemand lachte zur Begrüßung, der Ernst der Lage ließ dies nicht zu. Die Mission war verloren.

Die Crew verteilte sich auf die Unterkünfte. Deren Köpfe unter den Achseln geklemmt wie die Raumschiffhelme. Man trennte sich wortlos. Sechs Duschen später und in enge Overalls gekleidet lagen sie auf den Pritschen. Zwölf Augen suchten in den Decken der Kabinen nach den Gründen für ihr Versagen. Unruhige, zuckende, glasige, starre, fragende, dumpfe. Die Orbiteraugen suchte man vergebens. Nach und nach, nach langem Ringen, legten sie sich schlafen.

Eve meldete sich nach fünf Stunden. „…Guten Morgen. Es ist jetzt 23:00 h. In 30 Minuten ist Besprechung. Ich wünsche einen angenehmen Tag…“ Eve war das automatisierte Computerprotokoll, das jedem Mitglied der Mannschaft von der Agency zur Verfügung gestellt wurde. Sie wurde so programmiert, daß sie Vertrauen allein durch ihre Stimme erweckte, die doch nur aus Bits und Bytes bestand, und sonst nur aus Schaltkreisen und Routinen. Doch jeder liebte sie. Tat sie doch nicht mehr, als das Gefühl zu vermitteln, anwesend zu sein. Und das war schon mehr als es andere vermochten, die auf der verlorenen Erde auf ihr Ende warteten.

Die Crew nahm im Besprechungsmodul Platz. Elektrodynamische Stühle stützten mit ausfahrbaren Zylindern die Rücken und Köpfe, Interfaces surrten sich vor die Gesichter. Computerzeilen erwarteten Befehle. Die Augen rauschten durch die Stellen, Lidschläge klickten enter. Große Monitore erwachten aus dem Schlaf. Die Erde erschien als Hologramm. Sie drehte sich um die Pole. Die Orbiteraugen riefen Eve.

„…Ich bin da, Commander…“

Schauten sich um. Jeder der Verlorenen gab sein Okay. Auf dem großen Monitor erschien eine Kapsel. Sie löste sich von der Station und beschleunigte, als die Raketen zündeten. Dann schlug sie auf der Erde ein. Ein kurzes Blitzen. Ein Warten. Dann implodierte die Welt ins Nichts. Die Antimateriebombe funktionierte.

„Eve.“

„…Ja, Commander… Ich bin da…“

„Spiel‘ Musik. Irgendwelche.“

„…Ich suche… Eintrag gefunden… Gaye, Marvin… Mercy Mercy Me… Haben Sie noch einen weiteren Wunsch?...“

„Nein.“

„…Vielen Dank, Commander, ich wünsche einen angenehmen Tag…“

Lag ein jeder auf seiner Pritsche. Fixierten Augen die Decke. Fragten, suchten, versagten, klagten, harrten der Lage und starrten.

Mike, der Satellit, notierte die Uhrzeit. Die Orbiteraugen spielten sich die Erde noch mal als Hologramm vor und hielten sie in beiden Raketenhänden. Umschlossen sie. Bis sie kleiner wurde und verging. Und nur ein Glitzerfunken übrig war. Bis auch der verschwand.

„Eve.“

War Eve so programmiert, daß sie Vertrauen allein durch ihre Stimme erweckte, die doch nur aus Bits und Bytes bestand, und sonst nur aus Schaltkreisen und Routinen, und keinen Gefühlen. Tat sie doch nicht mehr, als den Eindruck zu vermitteln, anwesend zu sein. Zu jeder Zeit. Und das war schon mehr als es andere vermochten, die auf der verlorenen Erde weilten, als die Orbiteraugen die Raketenhände schickten, sie in den Schlaf zu streicheln.

„…Ja, Commander…“

War Eve da.

„…Ich bin da…“



Immer da.






*


Samstag, 26. Juli 2014

Neurose 5…




...hieß Sarah, war 23 ...und hatte diesen zarten Überbiß, der begehrlich machte, allein dadurch, daß er all die ländlichen Physiognomien vergessen machte, die mich durch die Pubertät und diverse Acker stapfen ließen bei Nacht. Mit Stiefeln über Felder, um zu zeigen, wo der Bauer seine dicksten Kartoffeln ins Dunkle hielt.

Doch jetzt im Supermarkt...

...jetzt lächelte mich Neurose 5 mit neunmalklugen Titten durch das Regal bei Aldi an. Nein, nein. Ist wirklich so: Saft auf der einen, Tütenmilch auf der anderen. Mit braunen Komplizenaugen, diesem Überbiß, der benommen machte und ihren runden, weichen, großen ...äh, Augen, die sich aus ihrer Hülle stahlen. Und wieder. Und... Kein Grund, sich zu schämen. ...wieder.

Plötzlich formten ihre Lippen einen Satz:

„Du darfst dich als gefickt betrachten!


Wie alle anderen... Wegen den Preisen.“


„Ach so...“

Was mich dazu bewog, ihren Blick auf gewisse Art zu erwidern. Kein Grund, sich zu schämen. Doch dann verschwand sie hinter der H–Milch.

Ich erledigte meine Dinge: Nahrung zu erlegen – Ur-Trieb – steht bei mir an erster Stelle – nach Verlangen und Lasagne – und traf Neurose 5 im nächsten Gang bei der Aktionsware wieder. Jetzt sprach ich sie an.

Und sie erzählte:
Sie sei Kunststudentin. Und schon länger hier. Nein, noch nicht heimisch geworden. Und ja, Semesterferien. Und lebe bi. Und liebe diese Stadt und ihre Menschen. Nur sei es sooo schwer, neue Leute kennenzulernen. Moderne Zeiten eben. Seien so wählerisch. Die Menschen wie die Leute wie die Zeiten. Und so sprunghaft.

Boah, wie sehr sie das ankotze!

Daß sich niemand mehr die Zeit für den anderen nehme. Und sie sich selbst nach Nähe sehne. Aber sich keiner mehr nähern möchte – um die Distanz nicht zu verlieren. Einer Hure gleich, der man diese eben schulde.

„Alles Huren. Eben.“, hörte ich mich sagen.

Und wußte nicht, was ich sagte. Doch ich war so von ihren Worten eingenommen. Und dachte nur, wie klug sie doch sei. Das dünne Ding. Und so jung!
Kein Grund, sich zu schämen.

„Quersumme 5.“
„Was?“
„Eben.“

Mit chirurgischer Präzision lächelte sie sich ein letztes Mal durch meine herzführende Aorta, daß meine Hämozyten präzipitierten. Eine Kehrtwende auf dem absatzlosen Absatz – weil Flip-Flop –, dann warf sie mir, als sie wendete, einen Blick allein durch ihre Haltung zu und schlenderte sorglos entlang des Knabberkrams zurück in die Tiefe der Auslagen.

Einem Model von Gaultier gleich auf einer seiner bizarren Pret-a-Porter-Schauen in Paariiie. Oder doch einer Hure? Nur daß sie keine Matrosenkleider trug. Nur dieses hübsche Nichts aus Baumwolle und Blumensprenkeln.

Oder waren es Nummern? Telefonnummern? Oder Quersummen?

Ich kaufte weiter ein: Pizza, Joghurt, Pizza, Joghurt... Und war schon bei nutzloseren Gedanken. Und hatte sie schon fast vergessen. Lebe ja nicht für die Bedürfnisse anderer. Leben halt in einer schnellebigen Zeit...

...da traf ich Neurose 5 im letzten Gang wieder. Bei den OB's. Den unechten. Und bei aller Liebe, kein Grund, sich zu schämen: Die mit normaler Stärke.

Und als ob ich es ahnte, nahm sie mir dort ein Versprechen von den Lippen ab, nicht zu widersprechen, als sie durch den Munde Kunde tat:

„Ich will Dich schmecken. Aber schließe Deine Augen. Kann nur, wenn keiner guckt.“

Und dann küßte sie mich mit harten Schüben und prüfte mit der Zunge nach...

Und sagte, als sie meinen Sabber zu Ende schmeckte:

Mmmhh... Weißt Du was, Hase? Verpiß' Dich einfach. Du schmeckst zu sehr nach Nähe.“

Nun ist sie weg. Ganz und gar. Ich habe sie verloren. Bei Aldi. Bei den OB's. Den unechten.
Kein Grund, sich zu schämen.

Auch wenn ich es nicht zugeben mag:

Neurose 5, sie fehlt.


Sie war die liebste meiner Neurosen.








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