...hieß Sarah, war 23 ...und hatte diesen zarten
Überbiß, der begehrlich machte, allein dadurch, daß er all die ländlichen
Physiognomien vergessen machte, die mich durch die Pubertät und diverse Acker
stapfen ließen bei Nacht. Mit Stiefeln über Felder, um zu zeigen, wo der Bauer
seine dicksten Kartoffeln ins Dunkle hielt.
Doch jetzt im
Supermarkt...
...jetzt lächelte mich Neurose 5 mit neunmalklugen Titten durch
das Regal bei Aldi an. Nein, nein.
Ist wirklich so: Saft auf der einen, Tütenmilch auf der anderen. Mit braunen
Komplizenaugen, diesem Überbiß, der benommen machte und ihren runden, weichen,
großen ...äh, Augen, die sich aus ihrer Hülle stahlen. Und wieder. Und... Kein Grund, sich zu schämen. ...wieder.
Plötzlich formten ihre
Lippen einen Satz:
„Du darfst dich als
gefickt betrachten!
Wie alle anderen...
Wegen den Preisen.“
„Ach so...“
Was mich dazu bewog,
ihren Blick auf gewisse Art zu erwidern. Kein Grund, sich zu schämen. Doch dann
verschwand sie hinter der H–Milch.
Ich erledigte meine
Dinge: Nahrung zu erlegen – Ur-Trieb –
steht bei mir an erster Stelle – nach
Verlangen und Lasagne – und traf Neurose
5 im nächsten Gang bei der Aktionsware wieder. Jetzt sprach ich sie an.
Und sie erzählte:
Sie sei Kunststudentin.
Und schon länger hier. Nein, noch nicht heimisch geworden. Und ja,
Semesterferien. Und lebe bi. Und liebe diese Stadt und ihre Menschen. Nur sei
es sooo schwer, neue Leute kennenzulernen. Moderne Zeiten eben. Seien so
wählerisch. Die Menschen wie die Leute wie die Zeiten. Und so sprunghaft.
Boah, wie sehr sie das
ankotze!
Daß sich niemand mehr
die Zeit für den anderen nehme. Und sie sich selbst nach Nähe sehne. Aber sich
keiner mehr nähern möchte – um die Distanz nicht zu verlieren. Einer Hure
gleich, der man diese eben schulde.
„Alles Huren. Eben.“,
hörte ich mich sagen.
Und wußte nicht, was
ich sagte. Doch ich war so von ihren Worten eingenommen. Und dachte nur, wie
klug sie doch sei. Das dünne Ding. Und so jung!
Kein Grund, sich zu
schämen.
„Quersumme 5.“
„Was?“
„Eben.“
Mit chirurgischer
Präzision lächelte sie sich ein letztes Mal durch meine herzführende Aorta, daß
meine Hämozyten präzipitierten. Eine Kehrtwende auf dem absatzlosen Absatz – weil Flip-Flop –, dann warf sie mir,
als sie wendete, einen Blick allein durch ihre Haltung zu und schlenderte
sorglos entlang des Knabberkrams zurück in die Tiefe der Auslagen.
Einem Model von Gaultier gleich auf einer seiner
bizarren Pret-a-Porter-Schauen in Paariiie. Oder doch einer Hure? Nur daß sie keine Matrosenkleider trug. Nur
dieses hübsche Nichts aus Baumwolle
und Blumensprenkeln.
Oder waren es Nummern?
Telefonnummern? Oder Quersummen?
Ich kaufte weiter ein:
Pizza, Joghurt, Pizza, Joghurt... Und war schon bei nutzloseren Gedanken. Und
hatte sie schon fast vergessen. Lebe ja
nicht für die Bedürfnisse anderer. Leben halt in einer schnellebigen
Zeit...
...da traf ich Neurose 5 im
letzten Gang wieder. Bei den OB's.
Den unechten. Und bei aller Liebe, kein Grund, sich zu schämen: Die mit
normaler Stärke.
Und als ob ich es
ahnte, nahm sie mir dort ein Versprechen von den Lippen ab, nicht zu widersprechen,
als sie durch den Munde Kunde tat:
„Ich will Dich
schmecken. Aber schließe Deine Augen. Kann nur, wenn keiner guckt.“
Und dann küßte sie mich
mit harten Schüben und prüfte mit der Zunge nach...
Und sagte, als sie
meinen Sabber zu Ende schmeckte:
„Mmmhh... Weißt Du was,
Hase? Verpiß' Dich einfach. Du schmeckst zu sehr nach Nähe.“
Nun ist sie weg. Ganz
und gar. Ich habe sie verloren. Bei Aldi.
Bei den OB's. Den unechten.
Kein Grund, sich zu
schämen.
Auch wenn ich es nicht
zugeben mag:
Neurose
5,
sie fehlt.
Sie war die liebste
meiner Neurosen.
*