"Hallo" ist das Pfandleihhaus des "Aufwiedersehn"...



Miniaturen des Absurden

Betrete mit der Miene der Abfälligkeit und erhalte Einlaß

Vom Jardin du Luxembourg zum Panthéon brauchte es schon mehr als platonisches Innehalten, um sich Gehör für Gesehenes zu verschaffen. Da...

Samstag, 26. Juli 2014

Neurose 5…




...hieß Sarah, war 23 ...und hatte diesen zarten Überbiß, der begehrlich machte, allein dadurch, daß er all die ländlichen Physiognomien vergessen machte, die mich durch die Pubertät und diverse Acker stapfen ließen bei Nacht. Mit Stiefeln über Felder, um zu zeigen, wo der Bauer seine dicksten Kartoffeln ins Dunkle hielt.

Doch jetzt im Supermarkt...

...jetzt lächelte mich Neurose 5 mit neunmalklugen Titten durch das Regal bei Aldi an. Nein, nein. Ist wirklich so: Saft auf der einen, Tütenmilch auf der anderen. Mit braunen Komplizenaugen, diesem Überbiß, der benommen machte und ihren runden, weichen, großen ...äh, Augen, die sich aus ihrer Hülle stahlen. Und wieder. Und... Kein Grund, sich zu schämen. ...wieder.

Plötzlich formten ihre Lippen einen Satz:

„Du darfst dich als gefickt betrachten!


Wie alle anderen... Wegen den Preisen.“


„Ach so...“

Was mich dazu bewog, ihren Blick auf gewisse Art zu erwidern. Kein Grund, sich zu schämen. Doch dann verschwand sie hinter der H–Milch.

Ich erledigte meine Dinge: Nahrung zu erlegen – Ur-Trieb – steht bei mir an erster Stelle – nach Verlangen und Lasagne – und traf Neurose 5 im nächsten Gang bei der Aktionsware wieder. Jetzt sprach ich sie an.

Und sie erzählte:
Sie sei Kunststudentin. Und schon länger hier. Nein, noch nicht heimisch geworden. Und ja, Semesterferien. Und lebe bi. Und liebe diese Stadt und ihre Menschen. Nur sei es sooo schwer, neue Leute kennenzulernen. Moderne Zeiten eben. Seien so wählerisch. Die Menschen wie die Leute wie die Zeiten. Und so sprunghaft.

Boah, wie sehr sie das ankotze!

Daß sich niemand mehr die Zeit für den anderen nehme. Und sie sich selbst nach Nähe sehne. Aber sich keiner mehr nähern möchte – um die Distanz nicht zu verlieren. Einer Hure gleich, der man diese eben schulde.

„Alles Huren. Eben.“, hörte ich mich sagen.

Und wußte nicht, was ich sagte. Doch ich war so von ihren Worten eingenommen. Und dachte nur, wie klug sie doch sei. Das dünne Ding. Und so jung!
Kein Grund, sich zu schämen.

„Quersumme 5.“
„Was?“
„Eben.“

Mit chirurgischer Präzision lächelte sie sich ein letztes Mal durch meine herzführende Aorta, daß meine Hämozyten präzipitierten. Eine Kehrtwende auf dem absatzlosen Absatz – weil Flip-Flop –, dann warf sie mir, als sie wendete, einen Blick allein durch ihre Haltung zu und schlenderte sorglos entlang des Knabberkrams zurück in die Tiefe der Auslagen.

Einem Model von Gaultier gleich auf einer seiner bizarren Pret-a-Porter-Schauen in Paariiie. Oder doch einer Hure? Nur daß sie keine Matrosenkleider trug. Nur dieses hübsche Nichts aus Baumwolle und Blumensprenkeln.

Oder waren es Nummern? Telefonnummern? Oder Quersummen?

Ich kaufte weiter ein: Pizza, Joghurt, Pizza, Joghurt... Und war schon bei nutzloseren Gedanken. Und hatte sie schon fast vergessen. Lebe ja nicht für die Bedürfnisse anderer. Leben halt in einer schnellebigen Zeit...

...da traf ich Neurose 5 im letzten Gang wieder. Bei den OB's. Den unechten. Und bei aller Liebe, kein Grund, sich zu schämen: Die mit normaler Stärke.

Und als ob ich es ahnte, nahm sie mir dort ein Versprechen von den Lippen ab, nicht zu widersprechen, als sie durch den Munde Kunde tat:

„Ich will Dich schmecken. Aber schließe Deine Augen. Kann nur, wenn keiner guckt.“

Und dann küßte sie mich mit harten Schüben und prüfte mit der Zunge nach...

Und sagte, als sie meinen Sabber zu Ende schmeckte:

Mmmhh... Weißt Du was, Hase? Verpiß' Dich einfach. Du schmeckst zu sehr nach Nähe.“

Nun ist sie weg. Ganz und gar. Ich habe sie verloren. Bei Aldi. Bei den OB's. Den unechten.
Kein Grund, sich zu schämen.

Auch wenn ich es nicht zugeben mag:

Neurose 5, sie fehlt.


Sie war die liebste meiner Neurosen.








*



Mont-Saint-Michel


Paris lag hinter uns. Und vielleicht war es dem Umstand geschuldet, daß wir uns nun dem Mont im Mondlicht näherten, weil wir uns auf der Pont des Arts verloren, bevor diese unter all ihren Liebesschlössern ächzte.

Wir blickten auf dieselbe Weise auf die Seine. Saßen auf der Bank davor. Ließen unsere Wünsche schweifen.

Irgendwann tauchte er auf, unterwegs auf der D275, und space-needle-te die Spitze seiner Abtei ins Auge des zugekniffenen Mondes. Als zwinkerte der uns zu. Nun, kommt.

Der Damm stand noch vorn. Und wir parkten so nah es ging vor seinen Pforten. Betraten diese händchenhaltend mit dem Nachdruck, der entsteht, den anderen über diese Schwelle zu wollen. Viele Schritte, Blicke, Hände waren wir oben. Wenige Menschen, die uns begegneten. Und war es uns so genehm.

Das Lachen, das uns noch den Sacré-Cœur hochbrachte, und das wir hinunter über die Dächer der Stadt der Sehnsüchte schickten, versteckte sich im Wandeln eines Lächelns, das sein Geheimnis mit der Gewißheit teilte, dieses, von dem nur zwei wir wußten, für lange Zeit zu teilen.

Wir blickten auf den grünen Fluß Montmartres mit seinen beiden Treppen zur Seite. Saßen auf der Bank davor. Ließen unsere Erwartungen schweifen.

Musik lud uns ein in Stille, die Abtei zu betreten. Wandelten durch die Räume. Jeder auf seiner Seite eines Ganges oder einer Halle, von diesen wir wußten, daß die uns wieder zusammenfügten. Entfernen, um sich zu nähern. Als Einwand zu verstehen, dem anderen seine Freiheit zu geben. Als Gegebenheit zu begreifen, sich wieder hinzugeben und als Vorwand zu sehen, sich für kurze Zeit zu verweigern, damit man sich für lange alsbald erwartete.

Wir blickten durch die große Scheibe auf den Couesnon. Saßen auf der Bank davor. Ließen unsere Aussichten schweifen.


Lag Frankreich hinter uns.


Und so Vieles noch davor.





*