6. Tag: New Territories; Langer Marsch,
kleiner Arsch...
„Je länger der Marsch,
desto kleiner der Arsch.“
Ursula lehnte sich zum Fenster, das zwei Zentimeter geöffnet war,
als wollte sie kuscheln, hielt sich am Griff fest, und hob ihren an, etwas nur,
so, daß man die spannende Falte zwischen beiden Hügeln der New Territories sehen konnte.
Der Taxifahrer war auf
meiner Seite. Vorne rechts. Mit dem Ausdruck, den er dem Innenspiegel zum
Handeln anbot, wie es nur Taxifahrer tun konnten, wenn ihnen etwas auffiel, was
Passagiere nie sehen konnten, oder was hinter ihnen vorging, drehte er die
Klimaanlage hoch.
Je länger der
Marsch, desto kleiner der Arsch. Aber Ursula sah nicht so aus, als hätten ihre
Beine je viel gesehen beim Gehen. Ich sagte nichts. Ich rückte ab. So laut
jedoch, daß Ursula mein Schweigen
schon für ein Gespräch hielt. Gespür.
Gespür.
An Gespür dachte ich.
Hong Kong winkte noch einmal mit seinen Wolkenhäuserhänden, dann
verschwand es schon hinter der nächst besten Kurve. Wie es nur Städte
tun konnten. Mit dem Ausdruck eines Taxifahrers, den Hong Kong zum
Handeln anbot, wenn auffiel, daß Passagiere es hinter sich ließen. Städte sind
immer dann so unwiderstehlich erregend, dann, genau dann, wenn man sie verläßt,
vielleicht, vielleicht, weil man sich selbst zurück läßt und nur der
Körper weggeht, und man sich ohne beides selbst vermißt, weil man sich so halb
nicht vorstellen könnte.
„Er setzt sich immer nackt mit steifen Pimmel in sein Teehaus, starrt auf den Steingarten hinaus und steckt sich den Griff eines blöden Samurai-Schwertes in den Arsch. ‚Seppuku! Seppuku!‘ schreit er dabei.“, fuhr Ursula fort. Langer Marsch. Doch noch fuhren wir.
„Rille für Rille. Dann weiß ich, daß der Tee zu grün war oder die Tasse zu kalt. Oder das Leben zu alt. Er zieht es dann heraus, leckt es ab und rührt den Zucker damit um. Wenn er nur mal die Schneide benutzte, dann! Ja, dann wär' er mal ein Mann! Doch dann hockt er nur da und flennt wie ein kleines Kind, das er vorher geprügelt hat. Danach muß ich ihn prügeln. So richtig, mit der flachen Hand. Keine Paddel. Nee, er will echte Gefühle. Spüren! Und, Du nennst mich Nutte? Kleine, miese Nutte? A-gäh-weg!“
Ursula wischte sich mit Zeigefinger und Daumen-U Tropfen von der Nase. Aus der sie laufen, gerade dann, wenn man sie nicht erwartete oder es keinen anderen Grund gab, außer zu wischen, da man erregt war, oder erkältet. Das Seitenfenster surrte hoch, im gleichen Maße, da es dem Fahrer zu warm wurde, und Ursulas Lider klappten zu. Bei jeder Bodenwelle lappten sie wieder auf, und wieder zu.
Shock-Absorber.
Ich dachte nun an
meinen Trolley im Kofferraum. An meinen blauen Overall. Und
an meine blitzglänzende Wasserrohrzange. An mein Rückflugticket.
An Miss JayJay*. An Frau Kwong*. Den Bambushain.
Und... an Ganesha.
Aber – wieder eine
Bodenwelle – dachten all die Dinge dort, die ich hinter mir klappern
hörte, auch an mich?
Der Trolley? Der
Overall? Die Wasserrohrzange? Das Rückflugticket? Der Bambushain? Miss
Jay Jay und Frau Kwong? Und Ganesha?
Ursula.
Ursula dachte an mich.
Mit ihrer Neonschminke, dem Hammerschlag–Lipgloss und diesem Mosaik-Nagellack.
War eingenickt. Aber dachte an mich. Ihre Augen öffneten und schlossen sich.
Wie bei einer Puppe, die man mit Wasser füllte, damit sie Pipi machte,
und einkleidete, und ihr die Haare kämmte, versengte oder abschnitt. Warum
eigentlich?
Warum schenkt man
Mädchen eigentlich so eine abscheuliche Puppe? Damit sie ‚was‘ lernen? Pipi zu machen? Zu trinken, um Pipi zu machen? Sich
die Haare zu kämmen? Abzuschneiden? Versengen? Arm auskugeln? Jammerschreien?
Ankleiden?
Ursula.
Ursula dachte an mich. Solange wenigstens wir in diesem Taxi saßen. Nicht mal der Taxifahrer dachte an mich. Er dachte nur an sich und seinen Toyota.
Ursula dachte an mich. Solange wenigstens wir in diesem Taxi saßen. Nicht mal der Taxifahrer dachte an mich. Er dachte nur an sich und seinen Toyota.
Tate‘s Cairn.
Wie Ursula in mein
Taxi kam?
Na, Tate‘s Cairn eben.
Aber davon später mehr.
*
*[Protagonisten aus vorangegangenen Episoden]