Zwei Linien. Nur.
Sand. Sind Parallelen.
Das einzige, was Du
siehst.
Unendlich sind die
beiden Linien im Sand.
Linien.
Wichtig ist nur, in
welcher Richtung man den Linien im Sand folgt.
Wir stellen sie
uns von Osten vor.
Als Spuren. In die
Wüste geschrieben von Autoreifen.
Von einem fernen
Horizont zum nächsten. Diese Linien hier sind krumm.
Sie folgen der
Krümmung der Erde. Das bleibt das einzig sichere.
Wir kommen heran.
Näher...
Noch ein wenig, bis wir
erkennen können.
Sand.
Sehen die Spuren nun vom
Boden aus. Das ist wichtig.
Wir blicken in beide
Richtungen.
Um uns die Wahl zu
erschweren, erinnern noch Staubfahnen zu beiden Horizonten an das, was war.
Oder das, was gleich
kommen wird.
Staubfahnen zu beiden
Seiten in der Ferne.
Am Rande.
Darauf kommt es nun an. Nun.
Da.
Kaum drei Meter von den
Spuren entfernt.
Da hockt Mama Ba'aku.
Und Opinga liegt am Boden.
Mama Ba'aku weint nicht
Mama Ba'aku weint nicht. Sie sagte:
„Opinga, weine nicht. Weine nicht, weine nicht. Opinga, weine nicht. Weine, wenn wir nach Jûbâ kommen. Weine dort. Hier nicht. Weine nicht hier. Hier ist
nicht dort. Opinga.
Ich zeige dir große
Schweine, die im Fluß baden. Du kennst Schweine nicht? Stell‘ sie Dir als dicke
Pferde vor. Die zeige ich Dir. Die zeige ich Dir nicht hier, dort, bleibe hier.
Weine nicht hier.
Wenn wir nach Jûbâ kommen...
Wenn wir nach Jûbâ kommen, zeige ich Dir Vögel, die
aus Brautschmuck Umhang tragen wie Röte am ersten Morgen nach der
Hochzeitsnacht, und im seichten Wasser schlafen, auf einem Bein. Opinga, dort.
Dort zeige ich dir den Grund, warum wir hier sind. Warum wir nicht fort sind. Opinga, weine nicht, weine nicht hier.
Zeige es nicht. Bleibe mir.“
Die Arme auf der
schmalen Brust gekreuzt. Lag Opinga
auf dem Rücken. Auf schwarzen Händen atmete der Wüstensand gegen. In weißer
Wolle, zweimal umschlungen, auf kräftigem Boden. Lag Opinga.
Mit schwarzer Röte gestreichelt vom Willkommen im Gesicht – groß wie Baobab,
die Krone, im Vergleich zum Stamm, der Kopf –, ein Geräusch in beiden Augen
– Jûbâ.
Die Flußpferde, die
Pelikane. Im weiten Himmel blau davor...
Mama Ba'aku hockte neben ihr, eine schmale Ziege neckte an der Schnur. Ans
Armgelenk gebunden.
Eine Schüssel, ein Schöpflöffel. Auf den Füßen. In den Kniekehlen eingeknickt.
Eine Hand hielt ihre Tracht gegen die Beuge, gegen die Zicke, die andere malte
Linien im Sand.
Weiße Zähne wie Diamanten des Lebens. Die Haut spannte, fehlte dort, wo sie sprach,
um sie zu schließen. Eingefallene Wangen, harte Knochen.
Schatten. Schwarzer Lidschatten. Die Sonne spielte die Wimpern in den Sand.
Mama Ba'aku weint nicht. Sie sagte:
„Opinga, weine nicht. Weine nicht, weine nicht. Opinga, weine nicht, trauere nicht um mich. Ich bleibe hier.
Ich reibe Dich mit Ziegenmilch ein, ich habe sie eben noch gemolken. Als Du
dich hingelegt hast. Dort.
Du sollst schön sein,
Deine Haut zart, wenn du dich auf die Reise nach Jûbâ machst. Sei höflich. Wie ich es Dir gesagt habe.
Ich komme nach. Zu denen, die Du triffst. Sie erzählen von Dir, je nachdem, wie
Du mit ihnen sprichst. Opinga.
Opinga, weine nicht, weine nicht, ich weine für Dich.“
Mama Ba'aku griff zum Schöpflöffel, die Ziege zog an der Schnur. Sie
meckerte. Vergebens. Sie schlug in die kleine hölzerne Schüssel hinein, als
wollte sie Rahm schlagen, kreisrund, schöpfte sie, bis sich doch noch eine
Pfütze sammelte, riß die Milch heraus, mit einem Ruck, weil sich auch die Ziege
wehrte, schüttete sie über die eigene Sanddornhand und verrieb sie gleich mit
heller Fläche über das Gesicht, als wusch sie die Tochter für den Morgen.
Wie jeden Morgen. In den
vier Morgenjahren zuvor. Vor der Hütte aus Zweigen. Wände aus Lehm. Hände aus
Angenehm.
Und neckte die Ziege mit Steinen. Die davor angepflockt war. Band sie später Opinga an. An denselben Pflock der
Ziege.
Damit sie nicht in die offene Wüste lief, seitdem sie laufen konnte.
Wusch ihr das Gesicht, mit Wasser und Seife, die krausen Haare, wie Milch. An
jedem Morgen. Nur Opinga verzog ihres
heute nicht.
„Weine nicht.“
Lag auf der Erde, hartem
Sand.
„Ich weine für Dich.“
Boden. Wie Ferne in der
Nähe.
„Ich bleibe für Dich.“
In Totemgewand. In
weißem Schal.
„Bleibe ich nicht für mich.“
War Opinga tot.
Gab ihr drittes Kind.
Mama Ba'aku weint nicht. Sie sagte:
„Opinga. Opinga, ich
erzähle dir von den Kamelen. Ich erzähle Dir ihre Geschichte. Sie beginnt mit
der Wüste. Sie beginnt nicht hier. Sie beginnt mit den Bullen...
Verstoßen ziehen sie in Junggesellenherden durch die Savanne. Sie wandern am
Rande der Wüste. ‚Savanne‘ ist ein
Wort aus dem Norden. Den Tag und die Nacht. Von Osten, wo sie vor Gott aufgeht,
bis Westen, wo sie sich in ein Feld aus Sandkörnern niederlegt, um sich vom Tag
zu reinigen. Streift sich die verbrannte Haut ab und reibt sich mit Ziegenmilch
ein. Um sich schön zu machen. Für den Morgen.
Taucht bei Morgenröte schnell ins Wasser der Wüste ein – sie muß sich beeilen –
im Osten und macht sich ein zweites Mal rein. Für ihren Ehemann.
Wegen dem Geliebten, wegen dem sie sich im Sande reibte. Dem im Westen.
Und sie badete. Zweimal
am Tage. Und zweimal in der Nacht, im Sande.“
Mama Ba'aku lachte.
Zähne wie Diamanten. Die
Haut spannte, fehlte dort, wo sie sprach. Eingefallene Wangen, harte Knochen.
Leise strich sie über das Kinderhaar. Kraus.
Wie weich es war.
Mama Ba'aku wischte den Rest der
Milch übers Engelsgesicht. Opinga
glänzte in dem Licht.
Mama Ba'aku weint nicht.
„Jûbâ.“
Und sie sagte es so, als
wäre es das Leben.
„Jûbâ.“
Mama Ba'aku legte ihr die Silben auf den Mund.
Sie küßte ihn. Zwei volle Augen, Geräusche darin verborgen.
Zwei volle Lippen, Stupsnase, heller Zipfel, Naseweis, viel zu klein für eine
Nase im Wüstenkleid, große Stirn.
Keine Zeit für Falten.
Und dieser Kinderkopf wie Baobab, der
Stamm im Vergleich zur Krone.
„Opinga...
Opinga, ich erzähle Dir von den Kamelen, von den Trampeltieren. Den
Dromedaren. Sie wehren sich nicht. Die Kühe nicht. Ich erzähle Dir von ihrem
Schicksal.
Am Rande der Savanne. Schicksal.
Dieses Wort stammt nicht aus dem Norden. Stammt von überall her... hörst Du
die Silben...
Du erkennst sie an den Höckern, die Kamele und die Dromedare. Du mußt sie
zählen. Ich zähle sie für Dich...
Treffen die Trampeltiere
dann auf eine Kuh am Rande der Oase, umringen sie diese und treiben sie in die
Wüste.
Und schäumen sich in Rage. Treffen sie am Tage, schneiden ihr den Weg ab,
reiben sich bis zum Abend, von allen Seiten, stoßen und beißen sie und treten
sie und bedrängen sie und trampeln sie.
Und schäumen sich in Rage. Bis sie müde ist. Vom Wehren. Je mehr Widerstand sie
gibt. Am Ende ihrer Kräfte. Besteigen die Kamele die Kuh. Einer nach dem anderen, nach dem anderen.
Einer nach dem. Opinga...
Opinga, weine nicht. Wir sind alle Kinder der Savanne. Wir sind alle
Kinder der Sonne. Sind alle Kinder der Wüste. Sind alle Kinder der Worte.
Vom Sand und der Sehnsucht nach Jûbâ.
Opinga, meine geliebte Opinga.
Opinga, Opinga...
Deshalb bleiben wir hier. Wir sind alle Kamele.
Wir unterscheiden uns nur in der Anzahl der Höcker.“
Mama Ba'aku zog das Kopftuch ins Gesicht.
Beträufelte die Stelle –
die Stupsnase, viel zu klein für eine Wüstennase – mit der letzten
Milch, die sie den Sanddornfinger abwrang.
Dann stand sie auf.
Überging den Schmerz in
den Kniekehlen, ordnete ihr Kleid nach der Richtung im Wind. Die Ziege zog sich
heran.
Folgte den Spuren kaum drei Meter entfernt – zwei Linien nur, Sand, sind
Parallelen, in die Wüste geschrieben von Autoreifen – und der Bogenlampe
der Sonne zu ihrem heimlichen Geliebten, oder doch zum Ehemann.
Wählte.
Zwei Staubfahnen zu
beiden Seiten in der Ferne. In entgegengesetzter Ortung.
Ging los, stramm. Die
Ziege am Armgelenk.
Schwarze Schatten von verbrannten Hütten im Rücken.
Ließ Opinga auf dem ausgedörrten
Boden liegen. In Jûbâ.
Und drehte sich nie mehr
um.
Mama Ba'aku weint nicht.
*
Zwei Linien. Nur.
Sand. Sind Parallelen.
Das einzige, was Du siehst.