"Hallo" ist das Pfandleihhaus des "Aufwiedersehn"...



Miniaturen des Absurden

Betrete mit der Miene der Abfälligkeit und erhalte Einlaß

Vom Jardin du Luxembourg zum Panthéon brauchte es schon mehr als platonisches Innehalten, um sich Gehör für Gesehenes zu verschaffen. Da...

Freitag, 12. September 2014

Heinrichs Welt


Heinrich.

Heinrich war auch so ein komischer Kauz.

„Die Bomben! Die Bomben! Wo warst D u ?!“

Sagte er immer. Raunzte er immer. Rotzte dabei. Weil er das ‚Du’ so auseinanderzog. Ein Schluck aus dem Flachmann. Und dann dieses Husten. Tja, Heinrichs Welt. Das auch. Darüber müßte ich mal schreiben. Über den ollen Nazi. Wasser in den Beinen. Die Waden, dick und knautschig wie beim Michelin-Männchen. Kurz vor seinem Tode sah ich ihn wieder. Wie er da auf dem Sofa saß. Mit dem grünen Samtbezug. Und den Bommeln. Mit den ‚Kumpels’. Draußen. Im Hof. Ein schöner Tag war es eigentlich. Die Sonne schien. Frühlingsluft. Wie still er mich anschaute. Keine Bomben, kein „Wo warst D u ?!“. Kein Flachmann. Kein Husten. Nur Heinrich. Der olle Nazi. Der Mensch. Und die große Flasche Korn.

Ach, Heinrich. Da war ich doch noch gar nicht auf der Welt...

Heinrichs Welt. Wie habe ich sie gehaßt! Tagein, tagaus. Und dann? War sie weg. Einfach so. Und habe sie vermißt.


Komisch, nicht?


Oder der olle Seebär?

Der sich immer die graue Brust kratzte. Mit Fingernägeln so lang wie Brotmesser. Das Ratschen durch diese spröden Haare werde ich nie vergessen. Habe seinen Namen vergessen. Nun. Ich sah ihn wieder. Glaube ich. Jahre später. In der anderen Stadt. Seine dreckschneefarbenen Haare. Erkannte ihn daran. Dreckschneefarben. Das habe ich gleich übernommen. Eingebaut. Das einzige, was er mir schenkte. Nein. Nicht ganz. Ein weiteres: Er zeigte mir, wie weit ein Mensch gehen kann, um dann am Ende eines Weges aufzuhören, ein Mensch zu sein. Oder aufhörte, etwas vorzugeben. Wie er in dieser Mülltonne wühlte. Fand dort keine Flachmänner. Nur Dosen. Kramte diese grüne unter all dem anderen Unrat hervor und setzte sie an. Ohne zu zögern. Ich konnte das Glucken sehen. Aus der Ferne. Wie ich ihn gehaßt habe! Weil ich ihn nicht erkennen wollte. Deshalb kam ich nicht näher. Weil er nicht zögerte. Weil er glücklich war. In diesem Moment, der keiner war.


Komisch, nicht?


Oder der falsche Monegasse?

Der eigentlich Franzose war. Aber kein Franzose sein durfte. Weil er ja Franzose war. Wie war noch sein Name? Ach, mein Gedächtnis. Läßt mich wie immer auf dem Trockenen verdursten. Vielleicht erinnert es sich nicht mehr an die Namen, weil es die Menschen verdrängen will. Aber was macht das für einen Unterschied, wenn man jung ist! Und Sommer! Und die Pyrenäen so nah! An diesem Tag, der so seltsam war. Weil auch diese Sonne wieder schien. Wie an Heinrichs Tag im Hof auf dem Sofa. Und der Monegasse, der eigentlich Franzose war, besoffen war. Und alles mulmig war. Und ich mir fast vor Angst in die Hosen geschissen habe. Nein, das ist nicht wahr. Daß ich mir in die Hosen geschissen habe. Daß mir angst war. Weil mir mulmig war. Weil es seltsam war. Weil alles anders war.


Komisch, nicht?





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Für das nächste Leben vormerken: Weniger erlebt zu haben, mehr Zeit vor dem Fernseher verbringen. Oder gleich mit verschränkten Armen auf der Fensterbank aus dem geöffneten Fenster in die Welt hinausschauen. Am besten gleich mit geschlossenen Augen. Sich dann selbst vorstellen, wie man mit verschränkten Armen auf der Fensterbank aus dem geöffneten Fenster hinausschaut und dem Menschen, der dort in der Vorstellung vor dem Fenster steht von hinten mit den Handflächen die Augen zuhalten, damit die geschlossenen Lider auch geschlossen bleiben, und dann ins Ohr flüstern, was man vor dem Fenster sieht, wenn Menschen darunter vorbeiziehen, wobei diese sich beim Gehen selbst die Augen von hinten zuhalten, der Hintermann dem Vordermann, und abwarten, was geschieht, wenn sie gegen andere prallen, die sich ebenso die Augen zuhalten. Könnte so ein Bild von Magritte aussehen.


Oder mehr Zeit vor dem Fernseher verbringen.







Donnerstag, 11. September 2014

Von allem unbemerkt starrten die Schwalben in leere Nester


Wollte nicht bei dieser Stadtführung anwesend sein. Stadtführungen durch die eigene Stadt sind dumm und ergeben wenig Sinn, da man sich selber schon durch die engsten Winkel dieser gezwängt hatte und es unwichtig war, wer diese Stadt nun gründete und warum. Welches Haus schon länger stand, welches im Mittelalter abgebrannt war und welcher Kaufmann sich ein Haus baute, dessen Namen nun noch Jahrhunderte später auf den Wänden prangte. Kamen mir die Mithörer dümmer und ungebührlich vor, und ich hatte noch Stolz, der sich in all den langen Jahren angesammelt hatte. Stolz, den es zu verteidigen galt. Für all die langen Jahre, die noch zu kommen waren. Und sah weg. Entfernte mich von der Gruppe. Einen Schritt. Der genügte. Der mich auf die andere Seite brachte – der Stadtführer erläuterte die Geschichte eines Straßennamens –, zur Seite, zu der, der Vorbeiziehenden.

In der Fußgängerzone, an einer Häuserwand zwischen zwei Geschäften saß sie auf einer ausgebreiteten Decke und sah genau in dem Augenblick herüber, in dem ich wegschaute. War sie wohl neugierig, warum sich diese Gruppe nun dort sammelte. War sie zu jung für eine Obdachlose, und war sie auch gewissermaßen hübsch. So daß sie nicht dahin gehörte. Und ich sah ein zweites Mal weg, schnell, damit ich sie nicht in ihrem Leben auf der Straße störte, obwohl die Straße doch allen gehörte, und man sich auf der Straße auch alles ansehen durfte. War dies der Stolz, der ihr zustand. Wenigstens, wenn ich sie nicht weiter beobachte, damit sie im Treiben ihres Lebens eine Nische besetzen konnte. Wenigstens eine Nische. Dachte nur, während ich sie in meinem DVD-Brenner-Gedächtnis speicherte – nicht mehr als ein Blick reichte –, daß sie nicht dort sein durfte. Nicht, wenn sie jung war und auf ihre Art hübsch. Durfte so keine Obdachlose sein. Von allen Seiten betrachtet. Während junge Frauen ihres Alters durch die Geschäfte torkelten, betrunken von den Schnäppchen, in den Händen Tüten, neue Schuhe, neues Make-Up, neue Männer für den Herbst in ihren Köpfen. Dachte, wie mutig sie war, sich diesen Blicken auszusetzen. Und wie feige ich war, weil sich so viele Fassaden aufrecht erhielten. Auch meine eigenen. War das ihr freier Wille. Hätte ich mich dazu setzen müssen. Aber dann? Neigte sich der Sommer dem Ende entgegen. Von allem unbemerkt starrten die Schwalben in leere Nester.





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