„Das Innere geht nach dem Äußeren.“
Tattooarm. Irgendwelche bunten Schmetterlinge,
Vögelchen, Ästchen. War ihre innere Mitte, Mitte 20 zu sein. In Berlin, nicht ganz in Mitte.
„Das schönste Make-up
ist ein nacktes Lächeln.“
Widersprach jedoch der Spiegel.
Geschminkt wie aus einem youtube-Tutorial
entsprungen warf sie sich einen Handkuß zu. Aus Eitelkeit wohl. Wohl aus Stolz,
etwas zu entsprechen. Weil, wenn nicht schon jemand, sie sich wenigstens selbst
so liebte. Und wohl um einem Bild zu entsprechen. Wenigstens einem Bild. Das
sie auf einem dieser Bilder-Portale im Internet sah. 2D. Und wollte es zu Leben
bringen, in 3D, im Badezimmer, oder im Stehspiegel der aufgeräumten Wohnung. Eine
solcher Wohnungen, karg, nur Details, die schmückten, um karge Bilder für diese
Bilder-Portale machen zu können, aber in denen man nicht leben konnte.
Zumindest nicht zu zweit. Dafür fehlte alles Bunte. Wild und wirr, wie das
Leben nun mal mitunter war. Entsprach die Wohnung dem Inneren ihres Kopfes. Aufgeräumt.
Eingerichtet. Einem Katalog entsprungen. Und dachte ich, der ja nun auf ihrer
Unterlippe wohnte, während sie log, war die doch bunt, durch Lippenstift, jetzt
endlich wäre meine Chance gekommen, von eben dieser über der ihr aus dem
Spiegel entgegengestreckten Hand herunterzuspringen, da kam ich dem Spiegeltrug
dahinter. Wie dumm von mir. Täuschte mich dessen Illusionen. War es nur ein
Spiegelbild der Hand und der Handkuß gar nicht jemand anderem gewidmet. Nur ihr
selbst. Dem Bild, das sie von sich machte. Karg und aufgeräumt. 2D. Wie einem
Katalog entsprungen. Mit dem Wesentlichen eingerichtet, wenn es einem denn
wesentlich war.
Was mich ärgerte, überhaupt darauf hereingefallen zu
sein. Ein Mann, der sich in Illusionen spiegelt. Und war er noch so klein wie
ich, und waren es nicht seine eigenen, der fällt nicht gerne auf das
Offensichtliche herein. Das Oberflächige. Und waren es die Illusionen einer
Frau, mit mir auf ihrer Lippe. So zog sie die Hand im Spiegel zurück, ihren Arm
in 3D mit den Schmetterlingen drauf, Vögelchen, Ästchen, und ich blieb auf
ihrer Lippe gefangen.
„Das Schönste.“
Sagte sie. Wild und munter nicht. Und gelächelt hat
sie auch nicht wirklich. Zum Glück. So pressten sie sich wenigstens nicht
gegeneinander. Mit mir dazwischen. Die Lippen eines Lächelns. Wurde es doch
zunehmend ungemütlich auf ihrem Lippenwulst. Und war Schneewittchen noch so
tausendmal schöner als sie, so lebte diese nicht in der Zeit der Katalogmenschen,
die hunderttausendmal häufiger angesehen wurden durch eben diese Tutorials. Waren diese auch nicht den
Launen einer bösen Schwiegermutter ausgesetzt, nur dem Wetter. Sah man diese
niemals draußen posieren. In ihren Tutorials.
Die Scham der Straße. Nur vor Spiegeln. Oder diesen Spiegeln heutzutage, mit
denen man noch telefonieren konnte. Wenn man diese Funktion denn versteckt
hinter den Touchscreen-Tastaturen
samt Autokorrektur entdeckte. Autokorrekturmenschen
müßte es genauer heißen, dachte ich hier oben auf meiner Lippe, während sie die
perfekte Augenbraue malte – Frida Kahlo
oder Chloé Sevigny zum Trotz –, die auch zwischen Hackesche Höfe und Starbucks
an der Rosenthaler Straße bestehen
mußte. So perfekt verließ sie das Haus. Nicht ohne sich vorher durch die Haare
zu fahren und diese große, schwarze Brille auf die Nase zu setzen, was sie klug
aussehen lassen sollte, doch nur ein modisches Accessoire unter Berliner Katalogmenschen war.
„Das Innere geht nach dem Äußeren.“, verstand ich
wohl falsch. Meinte sie doch eher das Äußere von anderen, und daß sich ihr
Inneres nach diesen Äußeren der anderen richtete. So mußte es wohl sein. Bei
diesen Menschen, die man nie im Supermarkt um die Ecke traf. Nur vom Hörensagen
her kannte. Was machen denn all diese
Katalogmenschen, wenn sie ins Alter kommen, wenn sich der Gilb der Jahre in
ihren Gesichtern widerspiegelte?, fragte ich nur aus Neugier. Ziehen diese dann auch innerlich um? Vom
Kargen ins Fade? Weil sie selbst
nicht mehr zur Wohnungseinrichtung passen? Und es fiel mir auf, daß immer
ein Spiegel zugegen war. Um wohl den Verfall zu dokumentieren oder eher sich zu
vergewissern, daß er noch nicht eingetreten war. Noch nicht. Noch nicht. Noch
nicht. Und ich erschrak. Weil ich gerade bemerkte, daß ich sie nicht
wiedererkannte. Aller Beteuerungen zum Trotz im Spiegel. Fühlte mich nicht auf
ihrer Lippe heimisch, sondern wie auf einer fremden Frau, nach all den langen
Jahren unserer Beziehung.
„Katalogmenschen bestellen ihre Gefühle im Katalog.“,
dachte ich laut und konnte es mir nicht verkneifen, sie an der Lippe zu kitzeln.
„Geliefert wird an die falsche Adresse. Oder man ist nie Zuhause. Oder man muß
sie sich selbst an der Pack-Station abholen. Schlimmer noch in der Filiale.
Dort muß man lange anstehen. In einer langen Schlange dort. Vor einem all die
anderen.“
Noch ein Blick auf die Aufgeräumtheit der Wohnung,
dann wendete sie sich dem Leben zu. Sie traf sich heute bei Starbucks mit einer Freundin. Dazwischen
lag Berlin. Wild und wirr und bunt.
Und mehr noch grau. Und viele, viele blaue WhatsApp-Häkchen
später bestellten sie sich zusammen einen Caramel
Macchiato und einen Chocolate Mocha.
Nicht derer zwei. Da waren ihre schlanken Körper
gegen. Später noch zwei schmale getoastete Toastscheiben ohne Lätta oder gar Butter mit Mozzarella und Cherry-Tomaten, aber
dafür brauchte sie noch frische Basilikum-Blätter vom EDEKA gegenüber, um das Essen auch zu posten. Das war das ganze Essen einer Frau, auf deren Lippe ich
mich bewegte, die log, an einem ganzen Tag.
Das Gespräch mit der Freundin verlief in üblichen
Bahnen: Man beklagte, daß der Tag in üblichen Bahnen verlief. Mit absurden
Folgen für eine Frau, Mitte 20, die das Wilde, Wirre wollte, aber aufgeräumt
und karg wie diese Katalogmenschen und in 2D angemalt war. Im Gesicht und auf
dem Oberarm. Eingerichtet in Gefühlen wie in diesen Katalogwohnungen, in denen
nicht das Leben wohnte. Aber die man ständig putzen mußte. Damit sich
wenigstens die Möbel wohlfühlten.
EDEKA
gegenüber. 2 Stunden später.
„Kann ich mal vorbei!“, fragte sie nicht höflich, wie
man es gewohnt war, sondern sagte sie pampig, demjenigen, der an der Kasse
anstand und darauf wartete, daß sein Einkauf abkassiert wurde.
So, als müßte sich derjenige, der da stand, dafür
entschuldigen, daß er an der Kasse anstand, daß es wenig Platz dort gab und daß
es eben kein Ausgang war, wenn man einen Supermarkt verlassen wollte, da sie
innen erst merkte, nachdem sie ihn betreten hatte, daß man nicht das fand, was
man vorzufinden wünschte. Hier: Basilikum-Blätter. Das Essen-Posten stand auf der Kippe. Und wie
konnte es derjenige, der das Prinzip verstand – Einkauf, Kassengang, bezahlen –, wagen, einfach so an der Kasse
am Warenband zu stehen? Warten bis er dran war und den Ausgang, der kein
Ausgang war, blockieren? Und sie konnte es wohl nicht fassen, daß derjenige
nicht sofort auf das Kassenband sprang, weil er sie auch nicht bemerkte, erst
als sie es ihm wütend von hinten zu verstehen gab. Wie konnte der es wagen, zu existieren?
Der war keiner ihrer Katalogmenschen. Und wußte es
auch nicht zu schätzen, daß eine dieser Katalogmenschenfrauen ihm nun an der
Kasse eines Supermarktes begegnete. Und sei es nur, um seine Anwesenheit zu
bemängeln. War keiner dieser Autokorrekturmenschen, die schon eigene Fehler
erahnten und automatisch korrigierten, was mitunter zu bizarren Ergebnissen
führte, und sei es nur, um Platz zu schaffen, wo keiner war, damit sie endlich
diesen Supermarkt verlassen konnte, der keine Basilikum-Blätter hatte. Das
Essen-Posten stand auf der Kippe.
Getoastete Toastscheiben mit Mozzarella
und Cherry-Tomaten und dekoriert mit Basilikum-Blättern. Das Dekorieren war das
Wichtige. Und machte sie das noch wütender, weil sie nichts zum Dekorieren
hatte und der es auch gewagt hatte, der Supermarkt, sie nicht zum Einkauf zu etwas
anderem zu bewegen und sie so den Laden doppelt umsonst aufgesucht hatte, in Berlin-Mitte, Mitte 20, karg und
angemalt, mit schwarzer Brille auf den Lippen, aus denen gehauchte Flüche kamen
und nicht mehr so perfekter Lage ihrer schwarzen Haare und Falten in sonst so
perfekten Wohnungs-Augenbrauen. Und sowieso. Stapfte sie wütend von dannen. Mit
einem Cowboy-Gang, der, man mußte es
sagen, viel Kraft kosten mußte beim Gehen, bemerkte ich von meiner Lippe, wenn
man wie sie so auf ihren Gang achtete. Ihn sich also bei jedem Schritt bewußt
machte, mußte das sehr anstrengend sein, immer darauf zu achten – Sitzt meine Oberschenkel-Lücke? –, um
wohl irgendwas auszudrücken, oder einfach aus Selbstunsicherheit heraus, wie
immer, dachte ich auf ihrer Lippe, lief es darauf hinaus, und so wohl nie
locker einen Weg ohne Basilikum aus Supermärkten finden könnte. Berlin-Mitte. Mitte Zwanzigjährige.
„Immer dieser Al-dente-Wahn!
Ich mag meine Nudeln weich.“
Sie fand noch eine Fertigpackung Spaghetti. In der kargen
Katalogmenschen-Wohnung. Eine andere Form von Autokorrektur. Sie wärmte sich an
der Farbe der Soße.
Das Posten
fiel heute aus.
Mitte 20 zu sein, machte wütend. In Berlin, nicht ganz Mitte. Und wohl auch anderswo.
Das Innere überlebte nicht immer das Äußere.
Und ich kämpfte mit den Resten zwischen ihren
gefletschten Zähnen.
Ich fand dort noch Basilikum-Spuren von der Würzmischung.
*
Wie
es weiter geht: Notfallplan rote Unterwäsche – ein
fremder Mann kommt zu Besuch