"Hallo" ist das Pfandleihhaus des "Aufwiedersehn"...



Miniaturen des Absurden

Betrete mit der Miene der Abfälligkeit und erhalte Einlaß

Vom Jardin du Luxembourg zum Panthéon brauchte es schon mehr als platonisches Innehalten, um sich Gehör für Gesehenes zu verschaffen. Da...

Dienstag, 19. April 2016

Kunigunde die Karettschildkröte




Es...
 ...war einmal...

...es...
 ...gab einmal...

...diese Kunde...
 ...von dieser einen...

...die machte mal...
 ...ihre Runde...

Sie kam einmal...
 ...eine Stunde lang...

...doch nie...
 ...zu mir.


Woher ich‘s dennoch weiß?


Ein Delphin erzählte es mir…
 ...von ihr...

...hier...

...von einer Karrett–Schildkröte...
 ...auf ihrer Runde...

...mit Namen...


...Kunigunde.



Kunigunde die Karettschildkröte...


…schwamm gerade ihre Runde – war wie Fliegen, eine Flosse vor, eine zog gerade hinterher – dort am Korallenriff, in klarem Wasser, schon traf sie in dieser Sekunde...

 ...auf Reintraude, ihres Zeichen Seeigel, gewitzt und auf dem Grunde, blauschwarz und groß wie ein Schuhkarton. Reintraude bog gerade ihre Stachel. Danach gerade. Einen nach dem anderen, öffnete ihren Munde, steckte die langen Stäbe so dazwischen und putzte alle mit ihrer Zunge. Bald waren sie wieder rein, und sie ließ sie flitschen und sie strahlten im Fleckenlicht der flachen Sonne mehr blau als schwarz wie Gift und doch noch einen halben Meter lang.

Kunigunde, die Karettschildkröte, hatte keine Angst, sie schwamm dicht heran.
„Mein Tag ist so.“, sagte Reintraude stichelig. „Ich putze meine Stachel. Es ist ein Stacheltag. Mehr nicht.“ Grüßte höflich, aber stolz, und wünschte diesen als schönen noch.
Kunigunde grüßte ebenso höflich zurück, lächelte, zeigte ihren Panzer vor, dem eine der Hornplatten fehlte, aber da sah die Seeigelin schon lange nicht mehr hin.
Kunigunde schwamm weiter ums Riff herum.

Ein Korallenriff, so mußte man wissen, bestand aus Leben. Aus Totem nicht. Und aus Wasser. Mehr wissen mußte man nicht.

„Aus Sand.“, sagte Kamillo, der Pistolenkrebs, und wie zum Beweis bespritzte er Kunigunde mit vielem davon, und wirbelte mehr noch damit auf.
Er hopste heraus aus seiner Höhle, er traute sich vor, dann wieder nicht, schnappte sich eine Schippe voll des hellsten Korallenschutts, dann zischte er zurück. Aus dem Begehren. Dann aus dem Licht. Dann in seines ohne nicht. Seine ausgestellten Augen funkelten.

Er schmatzte, und es knirschte und seine Scheren schnippten wie eitle Friseure an Land, zu denen er mal kam, weil er gefangen war, in einem Aquarium, wie sie es nannten, und dann wieder nicht. Nicht gefangen war, weil er die Glasscheibe mit seinem Pistolentrick zertrümmert hatte. Sie warfen ihn zurück ins Meer. Die Scherben vor. Zuvor ihre Scheren auf den Boden. Eitel ersetzt durch Wut.
„Mein Tag ist so.“, sagte Kamillo schnippig. „Ich schnippe mit meinen Scheren. Es ist ein Scherentag. Mehr nicht.“

Grüßte höflich, aber stolz, und wünschte diesen als schönen Tag noch.

Kunigunde grüßte höflich zurück, lächelte, zeigte ihren Panzer vor, mehr als eben, dem eine der Hornplatten fehlte, aber da sah der Pistolenkrebs schon lange nicht mehr hin.
Kunigunde schwamm weiter ums Riff herum.

Wie Flügel. Wie Fliegen.

Eine Flosse vor, eine zog dann gerade. Einen halben Meter lang. Wenn sie sich streckte. Wie Schaufeln. Wirbelten sie den Sand darunter auf. Eine zeitlang. 

Dann.

Kam ein leichter Aufgang, ein Anstieg, eine Schneise im Korallenriff. Ein glitzerner Schleier, der im Wasser trieb und sich mit Schleifen umgab.
Erst die Hände, dann die Füße. Der Buckel trocknete schon in warmer Luft: Kunigunde machte einen Landgang.

„Eine Insel.“, sagte die Kokospalme und ließ aus Ungeschick gleich eine ihrer Kokosnüsse fallen.

„Verzeihung. Habe ich Dich getroffen? Wie ungeschickt von mir.“

Die Palme beugte ihren grauen Stamm vornüber, es knarrte, ganz bis zum Boden, bis auch endlich die grünen Blätter den Boden streiften, formte sie zu Händen, schob die gute Nuß mit der einen auf die andere Fläche, stellte sich nun gerade, stopfte die Fallengelassene zu den anderen, die schon warteten unter die Krone und stellte sich – nun aufrecht – auf andere Weise vor: Kunigunde die Karettschildkröte grüßte höflich Paloma, die Palme.

„Nicht Paloma. Die steht dort drüben. Zwei Stämme weiter. Ich bin Ortrude.“

Ortrude aber grüßte ebenso höflich zurück. Fächerte aufmerksam ein wenig ihre Palmenfächer, damit Kunigunde im Schatten war.

„Mein Tag ist so.“, sagte sie sorgsam und vergaß dabei nicht, ihre Nüsse zu hüten.
„Ich spende mit meinen Blättern Schatten. Es ist ein Schattentag. Mehr nicht.“
„Dann tust Du etwas für andere.“
„Ach, wirklich? Das glaube ich nicht. Nein. Tu ich nicht. Sonst stünde ich ja nicht hier. Im Licht.“
Ortrude grüßte höflich, aber stolz, und wünschte diesen als schönen Tag noch.
Kunigunde die Karettschildkröte grüßte höflich zurück, lächelte, zeigte ihren Panzer vor. Dem eine der Hornplatten fehlte.
Aber die fehlte in dem Schatten gar nicht, doch da sah die Kokospalme schon lange nicht mehr hin.
Kunigunde stapfte weiter. Um die Insel herum.
Eine Flosse vor, die andere kam dann gerade. Wie Bürde. Wie Hürde. Bis zu einer Stelle machte sie es so.

Dann.

Am Strand, dort, zwischen den Farben Meer und den Farben Wald: Eine aufgehäufte Grube, drei Steine in der Nähe. 

Kunigunde, die Karettschildkröte, erinnerte sich. Bewegte sich.
Bewegte sich... der Sand vor ihren Augen. Da!

Es gluckste, glickste, ein Putzen, ein Schnippen, ein Schatten, ein grünes Blättchen streifte durch den Boden.
Heraus schimpfte sich ein kleines Häuflein Schildkrötlein, kaum größer als ein ungestümes Leben.
Es spuckte, kaute auf dem Sand, der nicht wirklich schmeckte.

Dann kam es frei.

„Das hier ist das falsche Loch. Da hinten. Da! Du stehst im Wege!“, probte das kleine Leben seine Worte, ruderte mit den Armen, mit den Beinen, eine Flosse vor, dann stellte sich die andere gerade, und schwamm schon mal so, als wäre der Strand das Wasser.
Eine weiße Eierschale steckte auf dem Rücken als Panzer. Es wollte am großen, dem eine Platte in gleicher Größe fehlte, gleich vorbei.

„Mein Tag ist so.“, sagte es dabei.

Und beeilte sich, noch das heranrasende, das herausziehende Meer, das heranrasende zu erwischen.

„Guten Tag, guten Weg. Mehr braucht es nicht.“

Grüßte höflich, aber stolz, und wünschte diesen als schönen noch.

Kunigunde grüßte höflich zurück, lächelte und hielt in gleicher Sekunde ihren Panzer vor, dem eine der Hornplatten fehlte.
Da aber war das kleine Leben schon längst im Sputen, im Plätschern, in den Fluten verschwunden. Hoch und wieder runter.
Doch da war noch…

…die Eierschale.

Sie schwappte auf der Welle. Ein Windstoß und – hups. Der trug den weißen Panzer flugs an den Strand.
Zurück. Lag so da. Vor Kunigunde und funkelte nun in der Sonne unbewegt. 

„Ja, Du mußt wissen…", sagte sie der Schale. Sie hörte ihr nun zu. „…mein Tag ist so.“

Und zeigte ihren Panzer vor.

„Ich trage ihn. Doch hält er sich davor. Wie gerne würde ich ihn putzen. Oder mal reiben. Oder diese Stelle kratzen. Die ganz hinten. Sie juckt manchmal.
Das ich es nicht leiden mag. Doch meine Arme, meine Beine sind zu kurz. Sie kommen nicht an, dort hin.
Deshalb, liebe Schale, lebe ich im Meer. So bleibt mein Panzer auch rein. Und sauber geb‘ ich ihn nicht her.
Ja. Auch das ist wahr. Ich kannte mal eine Cousine.
Die war sich zu fein. Die war des Panzers müde. Von jedem Tage trage. Beim Bade. Sie zog so und zerrte. Und eines solchen dann.
Streifte sie ihn sich vom Leibe.
Wie leicht es war!
Zu schwimmen. Jauchzte. Ohne die Last auf dem Rücken. Und sie konnte sogar aus dem Wasser über die Wellen springen.
Was für eine Schildkröte niemals möglich war. Erst möglich wurde durch all das Gezerre.
Sie schwimmt nun schön und schnappt nach Luft wie zuvor.
Ihr Name: Margarethe.

Maßliebchen, nenn' ich sie.

Weil sie kleiner war. Als die anderen Delphine. Die sie nun war.
Ihre Augen glücklich.
Doch kann sie nie mehr an Land.
Nie mehr an den Strand, an die Stelle, wie Du als Eierschale eben bevor.
Mein Tag ist so.“

Sagte Kunigunde, die Karettschildkröte, hielt ihren Panzer vor, zeigte auf die Hornplatte, die fehlte, und grüßte höflich aus der Ferne:

Reintraude, die Seeigelin. Die unter Wasser bei den Korallen ihre Stachel putzte, bis sie wieder glänzten.
Kamillo, den Pistolenkrebs, der daneben mit seinen schweren Scheren voller Sand beschäftigt war, bis man sein zufriedenes Schmatzen hörte.
Die Palme Ortrude hier oben auf der Insel, die gerne Schatten spendete, und dabei behutsam ihre Nüsse hütete.

Und grub am richtigen Ort nun fröhlich ihre Kuhle.


„Mehr nicht. Und morgen? Bin ich ebenso.“









*




 Von einer Karrett-Schildkröte...

 ..auf ihrer Runde.

Kam die Kunde.

Ein Delphin erzählte es mir.

Ungelenk, vielleicht. Voll Leben.


Und doch ein Geschenk....



Sonntag, 3. April 2016

Einhundert Jahre Wimpernschläge


Als ich einhundert Jahre alt war, kam es mir vor, ich würde vergehen. Kam es mir vor, als schlüpfte ich aus zu großen Schuhen. Ich stellte sie zu den anderen, die mich einhundert Jahre lang begleiteten. Waren sie getragen?

Als ich zweihundert Jahre alt war, kam es mir vor, ich würde verstehen. Kam es mir vor, als zog ich Gewohnheiten an. Ich streifte sie über, wie die anderen, die mich einhundert Jahre lang kleideten. Wärmten sie mich?

Als ich dreihundert Jahre alt war, kam es mir vor, ich würde sehen. Kam es mir vor, als warf ich einhundert Schleier über. Ich lupfte sie nicht, wie die anderen, die mich einhundert Jahre lang verhüllten. Bewahrten sie mich?

Als ich vierhundert Jahre alt war, kam es mir vor, ich würde reden. Kam es mir vor, als entwaffneten sie einhundert Zungen. Ich verteidigte sie nicht, wie die anderen, die mich einhundert Jahre lang verschluckten. Versuchten sie mich?

Als ich fünfhundert Jahre alt war, kam es mir vor, ich würde verstummen. Kam es mir vor, als ergaben sich zweihundert Stimmen. Ich hörte ihnen nicht zu, wie den anderen, die mich einhundert Jahre lang besuchten. Straften sie mich?

Als ich sechshundert Jahre alt war, kam es mir vor, ich würde erwachen. Kam es mir vor, als gähnten sich einhundert Schlafe. Ich erwähnte sie nicht, wie die anderen, die mich einhundert Jahre lang einsperrten. Träumten sie mich?

Als ich siebenhundert Jahre alt war, kam es mir vor, ich würde brechen. Kam es mir vor, als verlor ich einhundert Stützen. Ich versagte nicht, wie die anderen, die mich einhundert Jahre lang hielten. Spürten sie mich?

Als ich achthundert Jahre alt war, traf ich auf alle Jahrhunderte zuvor. Sie sprachen über mich wie gute Freunde, doch urteilten über mich. Warum ich einhundert Jahre lang nichts tat, warum ich einhundert Jahre lang zögerte, warum ich einhundert Jahre lang zweifelte, warum ich einhundert Jahre lang verharrte, warum ich einhundert Jahre lang haderte, warum ich einhundert Jahre lang kauerte, warum ich einhundert Jahre lang wartete und warum ich einhundert Jahre lang nicht wollte. Warum es mich dann gab?

„Weil ich nicht glaubte,“, antwortete ich, „daß ich allen Jahrhunderten entsprach. Daß mir zu wenig Zeit gewährt wurde, um mich zu begreifen, während alle Jahrhunderte sich nur mühten, mich zu schaffen. Erschufen sie mich? Oder bewältigten sie mich nur? Während alle Jahrhunderte nichts taten, zögerten, zweifelten, verharrten, haderten, kauerten, warteten und nicht wollten, glaubte ich nicht daran, daß es mich für andere gab. Daß es mich gab. Für alle Jahrhunderte, die es noch zu leben gab, wenn ich aus einhundert Jahren die Jahre wählte, die es brauchte, den Tag zu finden, für den es sich lohnte, acht Jahrhunderte zu geben.“


Und für diesen einen Tag wählte ich einhundert Stunden. Aus denen sich nur die erinnerten, die vierundzwanzig ergaben.














*