"Hallo" ist das Pfandleihhaus des "Aufwiedersehn"...



Miniaturen des Absurden

Betrete mit der Miene der Abfälligkeit und erhalte Einlaß

Vom Jardin du Luxembourg zum Panthéon brauchte es schon mehr als platonisches Innehalten, um sich Gehör für Gesehenes zu verschaffen. Da...

Sonntag, 15. Oktober 2017

Julep


Was machen Menschen im schönen Oktober eigentlich, wenn die schöne Oktobersonne untergeht?
Ich will es gar nicht wissen.

Ich mag Autos. An Autos mag ich, daß sie immer ein Vorne und ein Hinten haben.
Menschen mögen auch ein Vorne und ein Hinten haben:
Sie schauen einen von vorne an, blicken aber von hinten weg. Allein deshalb meide ich schon Menschen.

Allein wegen der Unfallgefahr:
Sie blinken nicht, wenn sie aus der Spur fahren. Oder Flashen nur, wenn man selbst aus der Spur fährt.
Von hinten.

Bei Autos - so unterschiedlich sie auch sein mögen oder eben nicht - gibt es immer ein Vorne, ein Hinten, zwei Seiten, ein Unten und ein Oben. Das macht mir Autos sehr sympathisch. Das ist schon mal mehr als bei Menschen, die erwiesenerweise nur ein Vorne und ein Hinten haben.

Bei Motorrädern finde ich das noch, und - wenn sie über einen inneren Antrieb verfügen - bei E-Bikes. Was das Fortkommen, Verweilen oder Parken doch sehr bequem macht.

Kein Wunder, daß der Mensch dem Auto unterlegen ist.
Kein Wunder, daß mehr Autos gestohlen werden als Menschen.

Von Menschen kenne ich nur das Vorne und das Hinten.
Ich kenne mich daher nicht so gut bei den Menschenmarken aus.

Lieber kann ich mir stundenlang Gedanken darüber machen - und kriege schlechte Laune, weil die Auswahl so groß ist -, welche Farbe mein Rolls-Royce Phantom VIII denn nun haben soll:
Auffällig in Cherry Red oder Azurite-Blau? Einfarblackierung oder Zweifarblackierung? Unauffällig elegant der Main-Body in Anthracite, welches einen raffinierten Schuß Lila in sich birgt, und der Upper-Main-Body in Black?
Wie sieht Titanium mit Blue Ice aus? Von der Wirkung her.
Wegen der Wirkung google ich: Life-Pics.

Auch das fällt bei Menschen weg. Life-Pics. Noch so ein Nachteil gegenüber Autos.

Ich google also Rolls-Royce-Farben an Vergleichs-Modellen. Ob Ghost, ob Wraith. Auch das kann ich stundenlang.
Deshalb heißen sie ja Life-Pics. Sie nehmen Leben. Ha, ha.

Und stelle fest, daß das Licht in Miami, Florida, beim Händler doch ganz anders ist, als das in Edinburgh, UK, so daß Graphite in dem einen wie dem anderen Land ganz anders ausfällt.
Das mag an der Sonne, die in jedem Land gleich ist, liegen, oder an der Kamera.
Amerikaner überbelichten. Mit Dunst. Körnigem Life, fällt mir auf.

Interessiere mich aber nicht für Menschen und ihr Körniges und tendiere im Inneren zu Armagnac, einem kräftigen Braun gemischt mit Orange.
Komplementiert mit Arctic-White-Kontrastflächen. Vielleicht noch Baby-Blue? In den Inner-Pockets allemal. Das wäre der Touch.
Und nun: Mit Holz in den Türen oder ohne? Das beschäftigt mich sehr lange.

Allein die Namen der Farben, Lacke und Leder, sind vielfältiger als dringend benötigte, neue Babyvornamen aus Fernsehserien.
Zugegeben. Ich möchte kein Twilight Purple haben, das Khaleesi heißt.
Mit einem Spock! als Bohemian-Red kann ich leben. Er käme ja immerhin aus dem Ausland. Und nicht wie Bohemians aus dem Kiez.

Bei Bentley heißt Gelb-Metallic Julep. Mit Grüneinschuß. Julep!
'Romeo und Julep.' Das ginge auch als Menschenname durch.
Diese Engländer. Man muß sie einfach mögen.

Wenn sie nicht gerade im Fernsehen auftreten.

Ich mag Autos. Ich mag ihr Vorne und Hinten, die zwei Seiten, ihr Oben und Unten, ihr Inneres und die Namen ihrer Farben.
'Grigio Scuro'. Wie das schon geschrieben klingt. Eine Ferrari-Farbe. Uni.
'Solid' würde der Rolls-Royce sagen und es mit Doppel-L aussprechen.

'Dunkelgrau'.
So würde es der Deutsche aussprechen. Mit D und grau.
Und alle Oktober sind so golden schön! Das klingt auch schön. Deutsche, das muß man wissen muß man Deutschen lassen, können 11 Monate auf alle schönen Oktober warten.

'Dunkelgrau' - so heißt Grigio Scuro auf deutsch, was wiederum wie der Name eines vollständigen, italienischen Mannes klingt - klingt nicht wie ein Vor- und Zuname eines italienischen Mannes, wenn er Dunkelgrau heißt.
Klingt eher wie 'Vor- und Zuname'. Klingt wie deutsch.
Klingt wie 'Herr Grau Dunkel'. Die Reihenfolge beachtend. Wie seine Lebensgefährtin wohl heißt?

'Copine' sagt der Franzose.
'Ma Copine'. Selbst das klingt wie ein Name mit Farbe.
Jenseits der Sümpfe Louisianas am Schmortopf rührend kann ich mir sie auch gut ohne Deinen Kolonialismus unterstellend in einem französischen Banlieue vorstellen.
Als Reiseverkehrsfachfrau. "Flugreisen günstig nur bei Ma Copine!"

Ich empfehle, mal einen guten - also stundenbegehrenden - Konfigurator auszuprobieren. Samstags oder sonntags.

Menschen, die man nicht im Konfigurator erstellen kann, empfehle ich dagegen nicht.
Menschen, die man nicht im Konfigurator antreffen kann, empfehle ich auch nicht. Sie sind mir zu uniform.

Zu gleichfarbig. Zu wenige Kontrastziernähte. Vom fehlenden Piping und Pinstripe - vornehm: Coachline - ganz zu sprechen.
Als ob sie alle schwarzes Leder im Innenraum ausstatten. Wegen dem Wiederverkauf.
Wegen dem Es-Sich-Leisten-Können. Das Leder muß es schon sein. Wegen dem grauen Sofa daheim.
Wegen dem schwarzen Leben allgemein. Wenn "In Silber sieht er auch nicht schlecht aus..." ein Lebensmotto ist, verfehlen selbst bunte Kissenbezüge ihre Grau-Sofa-Wirkung.

Der Wiederverkauf. Graue Sofas verkaufen sich wieder gut.

Die Kissenbezüge kann man immer noch für Klein-Inventar verwenden, das nicht sichtbar sein soll, und so kratzfrei im nächsten Keller verstauen. Soll ja keiner unordentlich sein.
Unordentlichkeit fordert den Gast immer auf, mal aufzuräumen, bevor er sich aufs graue Sofa setzt.
Wie unhöflich passiv-unangenehm. Krimskrams? Schon verloren.

Ich mag Menschen nicht. Nicht, weil ich Menschen nicht mag.
Von der Konfiguratorseite her mag ich Menschen nicht. Ich mag Autos.

Ich habe gehört, es soll Menschen geben, die mögen keine Autos mehr.
Das konnte ich nicht glauben.
Wer keine Autos mag, mag auch keine Farben mehr, denke ich mir dabei.
Und wer keine Farben mehr mag, mag auch keine Farben mehr.

Ich mag Julep Bentley. Ein Mensch, der nicht mindestens Julep Bentley heißt, erregt nicht mehr mein Interesse.
Oder Iridium?

Menschen erzeugen Aufmerksamkeit nur für wenige Minuten. Mit ihrem Vorne und Hinten.
Das ließe sich wissenschaftlich beweisen. Halb-wissenschaftlich habe ich das mal ausprobiert. Und mich geopfert.
An Life-Pics.

Ja, es stimmt:
Menschen erregen Interesse nur für wenige Minuten, Autos dagegen für Stunden.

Autos haben sogar Lichter. Vorne, hinten, seitlich, innen. Autos sind hell.
Auch da ist das Auto dem Menschen eindeutig überlegen.

Das merke ich mir. Und frage mich:

Bei allen grauen Sofas, was machen Menschen im schönen Oktober eigentlich, wenn die schöne Oktobersonne untergeht?
Geben sie der untergehenden Farbe einen Namen? 'Rose Quartz' vielleicht?
Das ist eine Special-Order-Farbe. Bei Rolls-Royce. Eine Special-Order-Farbe! Bei Rolls-Royce!

Ich will es gar nicht wissen.

Vielleicht schauen sie ja den Rücklichtern nach.

Rücklichter haben ein Rücklicht. Ein Bremslicht. Ein Rückfahrlicht. Einen Blinker. Ein Nebellicht.
Und einen Reflektor. Allein das Rücklicht. Allein das Hinten.

Eindeutig. Alles mehr als beim Menschen.

Ich hege den leisen Verdacht, daß Menschen gar nicht so vielfältig sind, wie manchmal behauptet wird.


Ziehe daraus aber keine Schlüsse.






*







Montag, 9. Oktober 2017

Da war Leben


Im Auto. Lichter kratzten die Windschutzscheibe. Wahllos jaulten die Wischer gegen Tropfen an. Mutter saß am dunklen Steuer und fuhr nach Hause. Mißbrauchte Augen sahen zu Jenni hinüber.
„Warum tust du mir das an?“
Jenni starrte durch die beschlagene Seitenscheibe. Hauchte sie trübe. Mit leerem Blick folgte sie den Reklamelichtern. Wußte nicht, was in ihr vor sich ging. Plötzlich heulte der Motor auf! Im Leerlauf verhakte sich der Schaltknüppel unter Gas. Mutter wechselte den Gang.

„Gefühle sind was für Menschen. Was bist du für ein Mensch.“


*

Die Pistole rutschte über den Boden. Ein unangenehmes Schaben, das an Fingernagelkratzen auf rauhem Holz erinnerte. Und kam vor Jenni zum Liegen. Vor dem Tisch. Sie krabbelte heraus und stand auf. Ruhig, wie man es von ihr erwartete, nahm sie die Waffe in die Hand – sie war noch warm von allen Streitereien –, ließ Mutter liegen und humpelte auf Vater zu. Er lag auf dem Rücken. Ein ungewohnter Anblick. Er hielt sich den Bauch vor Schmerzen. Er röchelte. Der schöne Sommeranzug. Er glänzte rot. Vater sah ihr zu. Mit glasiger Neugier. Wie sie ihm langsam das Hemd aufknöpfte. „Ah…“, stöhnte er auf, weil die Luft das Blut kühler machte. Dann legte Jenni den Lauf der Dinge auf die Brust, fühlte damit das Herz, wie es sich hob und senkte, und drückte ab. Ein dumpfer Schlag, der ihr die Pistole aus der Hand schlug und taube Gefühle mit sich brachte.

„Kann nicht vor diesem Leben weglaufen, weil mein Knöchel schmerzt und ich Luft für anderes brauche.“

Sie öffnete Mutter den Mund, legte ihre Lippen auf diese kühlen. Und blies. Kurzatmig. In der Angst, die Luft könnte entweichen. Und blies. Und blies. Als blies sie einen Luftballon auf.

„Das Leben ist wie ein Luftballon.“, stieß sie mit verbrauchtem Atem aus. „Kaum beginnt er zu steigen,“, wühlte sie ihre Haare aus dem Gesicht. „hat man Angst, er könne platzen.“


*

Der rote Luftballon hing unter der Kuppel im Treppenhaus und hielt endlich still. Ich stand auf dem Podest und streckte die Hand aus. Gelächter von der Halle hackte sich ans Ohr. Er blieb von meinem dreizehnten Geburtstag über. Weil ich ihn nicht erreichte, kletterte ich auf das Geländer. Ich wackelte über dem Abgrund, aber stand. Ich berührte ihn mit den Fingerspitzen. Als er – platzte! Ein Knall, lauter als eine Brötchentüte …brachte mich aus dem Gleichgewicht. Unter mir der Abgrund. Im selben Moment ging die Wohnungstür auf. Vater hielt mich im letzten Moment am Zipfel meiner Jacke. Er hielt meinen Koffer für das Heim in der anderen. Er zog mich von der Wagnis in die sicheren Arme der Versuchung. Als ob ich eine Wahl gehabt hätte. Schulterte mir den Cassetten-Rekorder. Zerrte er mich die Stufen runter. Zu diesen Stimmen der Eingangshalle. Wie gerne hätte ich dieses Lied abgespielt. Kam aber an die Tasten nicht ran. So spielte ich es mir selbst vor:

Queen & David Bowie – Under Pressure…


„…mit dem Idealismus ist es wie mit einer intellektuellen Frau: Man muß ihn sich schön saufen. Ha, ha, ha!“

Lachen. Im Takt der Musik, der Stufen. Vaters Griff am Arm tat mir weh. Ich ließ es geschehen. Wie schön seine Stimme war. Diese Stimme. Wie schön, schön, schön sie war.

Begleitete mich auf dem Weg nach unten. Würde nie wieder zurückkehren. Wie vertraut sie war. Im Takt der Stufen. Wieviele es waren. Wie wenige es waren.

Herr Adamas sprach mit dem Spanier, der sich noch den Bauch hielt. Einwandweißes Hemd – wie seine Lache – mit feinen, dunklen Linien, die sich irgendwo kreuzten. Sah es zwischen den Geländern aufblitzen.
„Aus…?“
„Santiago.“
„Ah, ja… de Compostela. Ein Kreuzfahrer.“
„Nun, ja. Der Trubel…“
„…und nun soweit der Heimat. Ja, ja. Die Ferne.“, unterbrach ihn Adamas.

„Als ich jung war, da zog es mich auch in die Ferne. Und sah mir alles an. Fremde Sterne. Unter einem Sommerhimmel in Südfrankreich. Nein, nicht Spanien. Soweit kam ich nie. Da kommt ja der Weihnachtsmann her. Glauben nur die Holländer.“ Er zwinkerte dem Spanier  zu. Er machte ein paar Schritte, wischte. Der steckte sich das verrutschte Hemd in den Bund.

„Wie schön er war… aah… Der Mistral fern und sah. Sah und zählte meine Schritte, die ich mit diesem Knüppel auf und abwärts schlief. Schlaf war kostbar. Entlang der Hauswand dieser Farm mit diesen groben Steinen, die so zum Greifen waren, aber es nicht tat. Und folgte diesen Sternen. Den Kopf erhoben. Auf meiner Wache. Der kleine Wagen, der große Bär. Grillen, Zikaden. Wärme. Laue Wärme, die so angenehm auf der Haut war, wie nur in einem Sommer, wenn man jung ist, der Mistral fern und doch so nah an den Sternen. Was ich so sah.“ Der Spanier seufzte.

„Patagonien…“ Er sah den Feuchtwedel an. Als wäre es das Ende dieser Erde. Adamas Blick verweilte oben.
„Einmal… Einmal sah ich noch etwas. Ein Bild. Ein Bild von einer Frau. Nein, nicht Patagonien. Nahe Avignon. Das mich bis heute mehr verfolgt. Als alle Sterne zusammen. Zeigte eine junge Frau. Schön und reich, das sah man ihrer Kleidung an. Und wegen diesem Collier vielleicht, das wie Leben im Blitz des Kameraklicks funkelte. Vielleicht ein Modell? Oder Imitat war. Sah mich an. Dieser Mund weit aufgespreizt. Durch eine Kiefersperre. Rot. Alle Zähne herausgerissen. Alles Leben aus offenen Augen. Verfolgt mich bis heute ihr Blick, der traurig von der Folter kündete. Der Ohnmacht. Meiner Ohnmacht, dem Leid, dieses ungeschehen zu machen. Wegzuschauen, als ich auf meiner Pritsche lag. Sah ich diese Frau als …Poster, würden Sie sagen, als Bild auf dieser Tür kleben, die einzige, durch die man diesen Raum verlassen mußte. Jeden Tag. Und im Bett darauf starren mußte. Und das Imitat selbst dann noch leuchtete, wenn das Licht gelöscht wurde. Im Mannschaftszimmer. Meiner Heimat. Fern. Legio patria nostra. Und verfolgt mich bis heute. Verfolgt mich das Leid. Dieser Frau. Alles andere nicht. Seltsam, nicht? War nur ein Bild. Ein Engländer hatte es aufgehangen. Der Humor der Engländer. Fast wirkte sie echt.“

Der Spanier sagte kein Wort mehr heute. Der Hausmeister senkte seinen Kopf und besah diesen Boden. Das Schachbrettmuter. Was er schon gewischt hatte, die Feuchtigkeit verhauchte. Was auch immer er darin sah, er folgte einem Muster, das nicht das des Bodens war. Auch nicht der Kreuzlinien des Hemdes entsprach. Und wischte. Bis am Ende alles sauber war. Und nicht mal der Boden wußte, warum er sauber wurde. Der Spanier brachte seine schweren Schritte nach oben. Wir rempelten ihn an. Warteten. Ganz leise öffnete er die Wohnungstür, wahrscheinlich freute er sich über den Geruch der Familie, ganz leise schwang die Türe wieder zu. Bis das Klicken verstummte und die Halle leer wie vorher war.

Und Jenni? Die rannte gerade aus dem Keller nach oben. Man hörte ganz deutlich ihre Schritte. Kinderklappernde Sohlen, ein Schwung! Schon stand sie in der Halle. Heute hatte sie Geburtstag. Zehn mal Mai. Plötzlich wurde sie still. So, wie wenn man es ihr befahl. Sie versuchte nur die schwarzen Quadrate zu betreten. Vielleicht, weil es so auch stiller sei. Stiller als auf die weißen zu treten. Der Hausmeister wischte den Boden. Dreckschneefarbene Haar. Mit dem schlängelnden Rücken zu ihr. Er nuschelte vor sich hin. Er bemerkte sie nicht. Weiter hinten. In den Ecken, wo das Licht spärlicher floß und auch das Wischwasser schon lauer. „In der Sequenz des Lebens…“ Sprach er mit sich selbst. Mit seinem Ebenbild, das er als Schatten an die marmorne Wand warf. Während Jenni verbissen diese schwarzen Quadrate suchte.
„…in der Arroganz des Lebens. Seid ihr so mit eurer Belanglosigkeit beschäftigt.“ Wischte unwirsch über den Boden. „…so mit euren Berührungen beschäftigt, mit eurem Fingerspiel, daß mich eurer Anblick ankotzt…“ Wollte zur Treppe. Hoffentlich sieht er sie nicht. „…eure Unsicherheit, mit der ihr eure Täuschungen tarnt, euer Ausweichen, wenn man nach euch langt, mit eigenen Fingern. Für Träumer, für Wahnsinnige. Bin ich das Wort für Illusion.“ Schlich sich zum Aufgang. Legte die Hand auf das Geländer. Weil es feucht war, quietschte sie dabei. „Ich, der Legionär war in einer fremden Vision…“, fuhr der Hausmeister herum. „…Gedankenlepra, bin der Grund für Illusion!“ Jenni zuckte zusammen. Adamas sah sie mürrisch an. Sie erstarrte auf der ersten Stufe.
„Heimat. Im Kerker eines restlich verbliebenen kärglichen Verstandes. Im Kerker eines restlichen Verstandes. Im Kerker des Verstandes. Seid ihr so mit eurer eigenen Belanglosigkeit beschäftigt!“ Er spuckte auf den Boden. Vor ihr aus. Wischte es wieder weg. Seine Spuren.„Bin ich der Grund für Illusion. Bin der Grund.“

Herzrasendgedankenblasend außer Atem nach Luft ringend und um Fassung stürmte Jenni die Treppen hoch. Bis zur Festung. Der Kanzel. Trockener Schmerz im Mund. Dort oben. Atemnot. Stütze die Arme auf die Knie. Sah dann hoch, weil ein Schatten mit ihren Füßen spielte. Unter der Kuppel tanzte ein roter Luftballon. Er muß entwischt sein, als er für Jennis Geburtstagsfeier aufgeblasen wurde.


*


„Ich bin Boric. Mir wächst ein Strohhalm aus dem Kopf. Ich weiß auch nicht. Zuerst war da nur das Korn. Dann fing er an zu wachsen. Muß wohl an der Feuchtigkeit im Keller liegen. Seitdem wohnt in meinem Ohr auch ein Mann. Der ist natürlich ganz klein. Sonst würde er ja nicht in meinem Ohr wohnen. Er ist ein Horcher, sagt er. Der Horcher von ganz oben. Aber jetzt sind wir ja draußen. Stinkt nur wie unten. Pferdedung.“
„Und Aufregung.“ Wilodan schob Boric vom Astloch des Bretterverschlages weg, durch das sie sich den Blick in den Hof teilten.
„Und Mundfäule.“
„Ach, was weißt du schon von Essen, blöder Narr.“
„Eine ganze Menge. Jedes Jahr zum Mai…“
„Kinderkrätze. Ich habe schon mal ein richtiges Gelage mitgemacht. Damals. Noch mit dem alten Buldric. Das war ein Mahl. Mit Weibern und allen Soßen. Ja… Er machte einen drauf. In Farn. Von dem Geld, daß er für… was bekam. Und er soviel fraß, daß der Wirt die Kotze wieder aufklaubte und den anderen Gästen in die Schüsseln klatschte. Warm ja noch warm. Die Würmer sollen sich an ihm laben. Mistkerl.“
„Ruhe.“ Lynx ging dazwischen. „Es tut sich was.“

Den Hof von Mor mußte man so verstehen: Als Ort der Möglichkeiten. Wollte man mehr als bloßes Treiben unterstellen. Die sich in ihren Versammlungen – den Aufwartungen – nebeneinander stellten und auf den Füßen herumtrampelten. Mehr noch, da auch die Pferde ihre nutzten. Und ihre Kräfte, sich in der trägen Menge gegeneinander zu behaupten. Die Zügel stramm, die Rücken aufbegehrend, die Mienen der Reiter fester zurrend, die Knechte herumgeschubst, die Mägde mit Senkbleifäusten an den Rand. Immer nur am Rande. Weil das Fühlen einer Frau in Mor ungefähr so viel galt wie das dem unter Schweinen. Waren längst abgeschlachtet. Oder in einer Kuhle im Wald versenkt. An den Rand gedrängt. Am Rande auch… weil vielleicht ein Liebster unter dem Hemd der Rüstung schwitzte, während er die Fäuste fester um die Zügel ballte, doch sorgenvolle Augen heimlich die Aufruhr nutzten, dort oben auf dem Pferderücken, stille Küsse in den Gestank zu drücken, bis zu den Lippenblicken am Rande der Ställe, wo sie sich an der Angst, dieser furchtbaren Angst vor Verlust verbissen, bis zum Lippenbluten. Sah man heute viele Mägde mit geschundenen Lippen. Sah man viele Männerlippen spröde so und aufgebissen. Weil diese Angst auch die stärksten Kämpen ergriff. Und diese Abwiegelungen und Verniedlichungen und Beleidigungen, die sie sich für ihre Gegner draußen vor den Toren ausdachten und sich so die Zeit mit Spott überbrückten, keinen Lederwams dicker machten. Geschweige denn wärmer. Und sei er noch so glänzend eingeölt. Die Augenblicke spuckten sich ins Gegenüber. Das Lachen gewollt. Nur von dem Lippenbluten abzulenken. Vor dieser Angst. Der am Rande. Vor den Toren. Ebenso verschlossen.

Mußte man sich so vorstellen: Als Ort der Erwartungen! Den es zu queren galt. Aufrecht. Wie es nur den Angesehenen vorbehalten war. Die Köpfe nieder gen Boden. Weil angesehen nicht anzusehen war, wollte man den Hof nicht mit seinen Gülleblicken zuschütten. Bei stolzen Stapfen. Unbeholfen. Falsches Schuhwerk. War der Ort der Enthaltung! Sich. Eines Standpunktes zu enthalten. Seines Standes. Stehenbleiben – wurde durch strenges Ermahnen bestraft, durch drei Hiebe auf die flache Hand oder Hinterkopf – je nach Denkort und Denkart – und Spuckmütze: Ein grober Filzhut, zwei Ellen hoch, mit Flicken ausgebessert, weil es viele Ermahnungen und Denkarten im Jahre gab, und einen Krone oben drauf aus Turteltaubennest, in denen Läuselarven sich innen an den verschiedenen Haaren labten, die zu Besuch kamen, am späten Nachmittag mehr und am frühen Morgen als am Rest des Tages, und den man durch das Gesinde über den Hofe trug, bei Hohn und aller Plackerei, sich bei denen dennoch eine Pfütze Aufstand aus der Kehle spülte und die Spickermütze bespuckte und verlachte und verspottete, so sie sich den Weg durch den Ort der Verachtung bahnte. Wohl um das Wissen nicht kümmernd, da daß man selbst der nächste war, der da den Rotz über sich brachte, wenn man seinen Standpunk vertrat, eben, auf der Stelle, und nicht im Laufe verharrte. War der Ort der Bestallung. Für das Vieh gedacht, die Pferde. Der des Riemenschneiderns. Zum Ausbessern der Tragelasten. War der Ort der Aufmunterung. Des Augenzwinkerns, Flunkerns. Und der besseren Tage.

Aber noch war Zeit. Noch ein wenig. Kam es auf anderer Stelle darauf an. Etwas tiefer. Etwas durch die Beine der Pferde. Etwas dunkler. Vorbei am Troge. Nein, nicht durch die Pforte. Rechts davon. Nicht durch die Luke. Darunter. Dort. Das Astloch in der Planke. Über dem Boden. Gleich daneben ein zweites. Da war Leben.

„Was geht da vor?“ Der Aufruhr der Erwartung wich der Stille des Versammelns. Der Kleine zupfte an Lynx Hemd. „Gleich…“ Sechs gebannte Augen teilten sich zwei Gucklöcher. Er wandte sich Wilodan zu. „Warte, Kleiner…“
„Warum ist es so still? Kommt der Teufel?“ Boric lehnte mit dem Rücken an der Wand und ruhte sich aus. Ließ aber Wilodans Gesicht nicht aus den Augen. Er hielt den Bauch. Schwarzes Blut an den Händen lockte Fliegen. Ließ sich ablenken. Verfolgte ihren Flug und zeichnete ihn mit dem Kopf nach. Er grinste. Der Kleine stellte sich vor ihn hin. Tadelnd wog er den Kopf.

„Sie weichen zurück. Selbst die Reiter. Derbes Pack. Lachten mich stets aus. Spielten ihre Spiele.“
„Da. Die dicke Magda. Sie schlägt die Hand vors Gesicht. Senkt den Blick.“ Lynx senkte seinen. „Senkt den Blick. Rollt mit den Augen.“
„Schaut hoch. Muß alles ganz genau sehen.“
„Sie machen Platz. Ich höre einen Gaul.“
„Die Braut… zwei Wächter schützen sie mit ihren Piken.“
„Zeit, daß wir Noiset loswerden. Verdammte Hure. Schützen nicht…“
„Führen sie. Wie still es ist. Ich kann sie nicht sehen. Die Wächter verdecken sie.“
„Sehe eine rote Schleppe. Aus Entenfedern. Einhundert wurden geschlachtet. Habe die Frauen belauscht. Als ich in der Küche Brot klaute. Kenne geheime Gänge. Als ich jünger war, führten die zu den Türen. Im Rock. Den Bauern gestohlen. Haben die Hunde gegessen stattdessen. Dann folgten die Katzen. Als nächstes fressen sie die Ratten. Eine Woche haben sie gerupft, gewaschen, gefärbt, genäht.“
Sehe sie… Ein Karren bringt sie raus. Was für ein Anblick.“
„Ich will auch.“ Boric wollte aufstehen, sackte aber zusammen. Der Kleine schüttelte den Kopf mahnend. Sollte er nicht. Er behielt recht. Er zupfte an Wilodans Hose. Der machte endlich Platz. So konnte er durchs Guckloch blicken. Als einziger mit stehenden Augen. Er sah den Karren. Gezogen von einem Esel gezogen von einem Esel. Dahinter folgten die Wächter mit den Piken. Dann die Braut auf einem wunderschönen Schimmel. Seine Fesseln glänzten. Sie klangen. Goldene Glöckchen bimmelten bei jedem Schritt. Die rote Schleppe bedeckte den Pferdekörper als wäre er der eigentliche Schmuck. Ein blasses Mädchenbein hing herunter. Nackt. Es unterstützte nicht den Ritt.

„Soll den König von Broa gütig stimmen. Wenn ihm das Fleisch der Braut nicht schmeckt.“
Die Männer lachten sich an. Im düsteren Verschlag. Wer weiß, was sie sich sonst noch dachten. Der Kleine schaute beide fragend an. Lynx wuschelte ihm über den Kopf.
„Das ist noch nichts für dich. Ha, ha.“ Der Kleine wog den Kopf hin und her. Dann deutete er auf das Loch.

Lor.“

„Was?“
Lor. Da.“

„Was?!“ Lynx drückte ihn beiseite. Der Knabe fiel auf Borics Bauch. Der stöhnte vor Schmerzen auf. Der Kleine hielt ein Stück des Darms in Händen. Lynx traute seinen Augen nicht. War außer sich. Trommelte gegen die Planken. Wilodan mußte ihn festhalten. Unbändig sein Verlangen. Doch der alte Pferdeknecht hatte Erfahrung mit wildgewordenen Gäulen.

Da war sie nun. Die schöne Blasse. Ritt auf Flocke. Edel Umhang. Rot aus Federn, spitzen Piken, die sie schoben.

„Wenn sie vor die Tore geht, müssen wir unsere Gelegenheit nutzen. Dann sind alle Augen gerichtet. Und der Weg zum Brunnen frei.“

„Nein! Ich gehe nicht! Ohne Lor gehe ich nicht!“
Boric schafft es nicht alleine. Und der Kleine?“
„Warum Brunnen? Ich gehe mit durchs Tor hinaus. Ist dann doch auf. Ich höre schon das Krächzen.“ Der Kleine ließ sich von Borics Bauch plumpsen. Zu zweit stopften sie den Darm wieder rein.
„Müßt durch den Brunnen.“
„Nie ohne Lor!“ Lynx schüttelte sich frei.
„Und dann?“ Er heulte durch das Loch seine Ohnmacht heraus. Zog Lor an ihm vorbei. Mit gesenktem Haupt. Nackt. Der rote Umhang verrutscht, lag da nun ganz auf Flocke. Ein Aufstöhnen aus der Menge. So führten grüne Wächter sie zu Hochzeit. 

„Wie kam es bloß zu diesem Unheil…“


„Wie alles. Bloß aus Liebe.“






*