Der Zug –
sagen wir mal, es ist ein ICE, ein TGV wäre sicher zuverläßiger, sagen wir mal,
es ist nicht Winter, also ist es nicht besonders kalt, und es ist nicht Sommer,
also ist es nicht besonders heiß – ist abgefahren. Sie rennt hinterher. Ich
überlege, ihr hinterherzuwinken. Scheitere aber an der Zuglok am Ende, die wohl
mit anschieben muß, damit ein ICE überhaupt, wenn nicht vom Fleck, so
wenigstens vorwärts kommt. Die hat kein Fenster mit Ausblick. Das Abteil schon,
blickt aber durch die schnatternde Tür nur auf die Loklichter. Die sind
ausgeschaltet – darauf komme ich später zurück. Sehr viel später.
Ich schicke ihr dennoch einen Gruß mit besten
Wünschen – er findet einen Ausgang –
und lasse diesen auf die Gleise poltern. Sie rennt hinterher. Angezogen – gerade noch rechtzeitig, sie kämpfte mit
ihrer Puste – vom Pol-pol-poltern kommt sie wieder näher – es ist ein ICE, denken Sie nicht – und
aus ihrer Sicht mag es wie ein Winke-Winke, wie ein Fünf-Finger-Nasennarren,
wie eine ausgestreckte Hand erscheinen. Egal. Mein Grinsen ist universal – es paßt für jedes dieser Zwecke –,
verschwindet in der Landschaft, als es am Seitenfenster aufgefressen wird. Sie
klopft an die Scheibe – es ist ein ICE,
denken Sie nicht –, dann zieht der Zug wieder an. Langsam, aber wieder an.
Mein Grinsen prägt wieder die Landschaft. Sie rennt hinterher.
Ich mache es ihr jetzt etwas schwerer. Ich
schlendere durch die Abteile. Und aus ihrer Sicht müßte es jetzt so erscheinen,
als entfernte ich mich mehr. Könnte sie mich so sehen. Ich mache mir das Reisen
bequem und setze mich auf einen der Plätze. Schlage meine Beine übereinander,
was für Verwirrung unter den anderen sorgt, flitsche einen Fussel vom Schenkel,
was für Gelächter sorgt, wende mich von deren Unterhaltung ab, suche die im
Fenster. Sie klopft an die Scheibe – es
ist ein ICE, denken Sie nicht –, sie kämpft mit ihrer Puste, wedelt mit
etwas herum, dann zieht der Zug wieder an. Ich denke an einen Vogel. Weil
gerade ein Vogel den Zug begleitet, nun überholt – es ist ein ICE, denken Sie nicht –, nun entschwindet. An einen
anderen, der für sich eine Weise entdeckt hat, wie man Nüsse knackt. Satt dann
war, aber nicht gewußt hat, wie er sein Wissen mit seinen Artgestalten teilt.
Er dann zum Himmel flog, mit ihm all sein Wissen. Ich bestelle bei der
wandelnden Reiseapotheke namens Zugbegleiter, überteuert – es ist ein ICE, denken Sie nicht –, eine Tüte Nüsse,
Freundlichkeit obendrauf. Kaue alle auf, werfe, weil ich kein Abfalleimerchen
am Sitzplatz finde, das Tütchen aus dem Fenster, es ließ sich kippen – denken Sie nicht – und geleite sein
Schnattern – als wär’s ein lieblich‘
Vöglein – nach hinten. Denke, das war’s, schlage meine Beine übereinander,
flitsche einen Krümel durch die Aussicht. Sie klopft an die Scheibe.
Sie hält das Tütchen nun in Händen, wedelt in der
anderen mit etwas herum – zählen Sie die
Hände nicht –, als wäre es ein Liebesbrieflein und liest nun daraus vor.
Ich lese von ihren Lippen. Wie gut, daß Zugfenster keine Worte zulassen. Und
aus ihrer Sicht müßte der Abfall samt Zutatenliste auf der Rückseite – das sind die Worte – wie ein bengalisches
Tigertaschentuche aussehen. Die Ansichten variieren. Der Zug fährt an. Sie
rennt hinterher. Ich schicke ihr ein O
aus offenem Munde hinterher. Sie langt nach dem Buchstaben, schlüpft hinein,
irgendwie bleibt er an zu schmalen Hüften hängen, kreist dort nun. Sie rennt
nun hulahuppend hinterher. Ich vergesse sie. Ich nummeriere die Landschaft nach
den Gleichstrommasten. Fotografiere die Abschnitte dazwischen mit meiner
Klimperknipse, die Ausschnitte überlappen, setzen sich zu einem Film zusammen.
Ich entscheide mich für einen anderen und tippe mich durch die fahrenden
Zahlgäste, die meisten stehen, der Zug ist überfüllt – es ist ein ICE, denken Sie nicht –, tausche die Batterien meiner
Fernbedienung aus, Infrarot nun tot, schicke einen Photonenschwarm stattdessen – wie und auf welche Art bleibt mir
überlassen, denken Sie nicht –, bedenke die Gravitation, die von den
Mitreisenden ausgeht, daran heften sich meine Blicke, halte jede Zicke, die
mich mit ihren bemängelt, für eine mit einem Knall, einen gehörigen – jede für sich ein Urknall, denken Sie
nicht –, halte den einen nun für Unsinn, zumindest den, die mir die
Blondine von gegenüber mit den wackelnden Moskitostichen nun in meine
Penis-Pupille übermittelt – können
Pupillen hören? Denken Sie nicht –, berechne die Ausdehnung mit dem Maßstab
des Schwellkörpers, zweifele an deren Linearität, stoße mich nun selber ab,
abgestoßen nun von den Möglichkeiten einer Reiseromanze, mehr von deren Folgen – mäh-määh, denken Sie nicht –, bleibt
nur das Fenster. Sie klopft an die Scheibe.
Ich sinke nun nieder. Tiefer in meinen Sitz hinein – eine Frau, die einem Mann hinterherrennt,
die einem Zug hinterherrennt: der Tod des kleinen Mannes –, sehne mich nach
der Zigarette danach, zünde mir gleich eine an – es ist ein ICE, denken Sie nicht –, beschwere mich über den Qualm bei den anderen Fahrgästen – das hilft immer –, flitsche sie in
erstaunte Gesichter, das sorgt für Glut, zünden sich die ersten ihre damit an,
das sorgt für Gelächter, die Stimmung nun gelassen, mehr und mehr, die
gelassene Stimmung nun heiter, zücken sich Feuerzeuge in die Nähe von Affären,
von denen die Reisenden – Mann und Frau,
denken Sie nicht – nicht mal wußten, daß sie möglich waren – Handynummern tauschen sich in
SIM-Speicherherzen, einige bleiben ein Leben –, bevor es Züge ohne
Zigaretten gegeben. Die Züge nun bequem –
der Zug, nun ja, es ist ein ICE, denken Sie nicht –, bald in Berlin. Außer
Puste, hulahuppend, in Händen wedelnd mit einer leeren Tüte Erdnüsse, in der
anderen – denken Sie nicht – etwas
anderes, rennt sie hinterher.
Ich steige aus dem Zug. Verabschiede die Glücklichen,
die sich Lungenküsse geben, in ein vergnügliches Leben, die piefigen Paffer in
ihr Smog-Leben, schlendere mich entlang der Bahnsteigkante, dann mittels
Rolltreppe nach unten, durch den häßlichsten aller Bahnhöfe – Wartebänke für die Auf-die-Verspätung-Wartenden
sucht man in den Köpfen der Architekten vergebens, denken Sie nicht, die reisen
in langen Limousinen –, bewundere die Abwaschbarkeit der Edelstahl-Ruine – wenn man Menschen als Schmutz betrachtet,
so ergibt das sogar Sinn, denken Sie nicht – und wähne mich schon in Ruhe,
als ich mich endlich auf den Ausgang zu bewege. Nehme den zum Leben hin. Hinter
dem anderen steht eine Waschmaschine –
wenn man Menschen als Schmutz betrachtet, so ergibt das sogar Sinn, denken Sie
nicht –, die ist gerade kaputt. Als
mich ein Atem von hinten überrennt.
War für den Augenblick abgelenkt von all den langen
Seidenbeinen, die mir Berlin in Baggies
oder Blue Jeans entgegenstreckt, mit Flip-Flops gegen den Asphalt bewaffnet
und leicht gezeigten Fußsohlen gegen den Alltag – entblößt eine Frau ihre Fußsohlen, bewußt oder unbewußt, so ist sie
zum Liebesakt bereit, denken Sie nicht –, als mich ein Grabschen von hinten
an der Schwelle hält. Sie wedelt mit der leeren Tüte Erdnüsse in den Händen,
liest daraus vor, als wäre es ein Liebesbrief – ich höre nur Nüsse, Salz, Glutamat, in der Abfolge der Menge –, ich
übersetze aus ihrer Sprache – „Weil ich
Dich liebe, liiiebe.“ –, und dann kommt zum Tragen, was sie mir die ganze
Zeit über hinterhertrug. Etwas
Ausgeklügeltes? Etwas Cleveres? Etwas Hintersinniges? Nein. Etwas Banales.
So enden nun mal solche Geschichten mit solchen Frauen, die einem Mann
hinterherrennen, die einem fahrenden Zug hinterherrennen, die nicht wissen, daß
man zu Beginn einer Reise den Zug an einem Bahnhof besteigt: Sie enden ohne
Zuspitzung. Zittrig drückt sie sie mir in die Hand. Sie ist noch ganz warm. Von
all den Mühen, mir hinterherzurennen. Vielleicht die erste Wärme, die sie
tauschte.
„Du hast Deine Fahrkarte vergessen.“
„Der Zug ist abgefahren.“
„Nein. Ist. Er. Nicht!“
Meine Sorgen möcht‘ ich haben.
*
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