Ich kam vom Friseur. Und für 80 € konnte man schon
mehr erwarten als bloßes Spitzenschneiden und Augenbrauenfärben. Ich jedenfalls
fühlte mich nicht wie eine neue Frau, sondern wie eine ausgeraubte Frau, die
man auf den Stuhl des Friseurs setzte, den Umhang überwarf, den Umhang wieder
abnahm und genauso wieder in die Welt entließ, die man durch den Besuch verändern
wollte. Aber um eben diese 80 € ärmer.
Je älter man wurde, desto mehr Geld war man bereit
auszugeben für Veränderungen. Und bestanden sie nur aus Versprechungen von
Veränderungen. Also aus Spitzen. Ich war 49, geschieden, eine erwachsene
Tochter aus erster Ehe, und immer pleite. Und es machte meine Haare auch nicht
besser, daß ich am nächsten Tag 50 sein würde. Ich lief entlang der Straße zu
meinem Auto, das auf der gegenüber liegenden Seite mitleidig parkte. Eine Frau
Mitte 30 kam mir entgegen. Sie klärte mich nasehoch darüber auf, daß der Gehweg
ihr und ihrem Alter gehörte.
Und ihrem Täschchen und ihrem Ellbogen. Und ihrer
gepuderten Nase eben, deren Löcher die Dichte der Wolke prüfte, die sich
bildete und über meinem gestutzten Kopf herbei schwebte. Dann brach der Absatz eines
ihrer Pumps ab, dann als sie den Schuh in der Hand hielt und ihn prüfte der
zweite, dann streckte ich ihr schnippig lachend die Zunge heraus, hinter ihrem
Rücken, ohne daß sie das merkte. Das Pech der einen ist das Glück der anderen
Frau.
Gut gelaunt wickelte ich den Autoschlüssel um meinen
Finger und ließ ihn kreisen. Querte die Straße. Näherte mich lächelnd meinem kleinen
Auto. Dann sah ich, wie der Schlüssel von meinem Finger glitt – wie in Zeitlupe –, und während ich
schon „Schei…“ schrie zu Boden auf einen Gullydeckel fiel, dort auf den Rippen
tänzelnd überlegte, ob der Tag noch beschissener werden sollte, und sich doch dafür
entschied, und narrend hineinfiel. „…ße, verdammte!“ Das Pech der einen ist das
Glück der anderen Frau.
Knurrend sah ich, wie auf der anderen Straßenseite
die nasehohe Frau mit den abgebrochenen Schuhabsätzen Ballerinas aus ihrem
Handtäschchen zog, sie knutschend begrüßte wie man Chihuahuas auf die nasse Schnauze knutschte, hineinschlüpfte, beschwingt
zu ihrem Auto schlenderte – natürlich einem
schönen, großen, weißen Range Rover –, den Autoschlüssel um den Zeigefinger
kreisen ließ, das Auto öffnete und mit elegantem Schwung in den Verkehr
einfädelte, nicht ohne vorher mit einem Lächeln in ein fröhliches Lebensliedchen
einzustimmen. „Argh!“
Ich rutschte auf den Knien, der Arm im Gullydeckel
und wußte, daß jeder, der entlang kam, auf meinen Arsch schielte. Ich bekam ihn
nicht heraus. Die letzten acht der 49 Jahre nicht. Dann faßte mich plötzlich
eine Hand an der Hand, schüttelte diese und der Gullydeckel sagte:
„Guten Tag!“
Die Hand hielt mich fest, ließ dann los, als ich
daran zog, und ich fiel hintenüber.
„Keine Angst! Ich bin’s nur. Der Gullymann. Ich lebe
hier.“
Blasse Finger umklammerten die Gullydeckelrippen. Der
Gullydeckelmann zeigte sein fahles Gesicht.
„Willst Du den Schlüssel haben? Dann biete ich Dir
einen Tausch an.“ Er hielt ihn glänzend vor.
„Du mußt mir nur einen Gefallen tun.“
Er versteckte den Schlüssel wieder in der Hand, als
ich danach griff. Einfach werden würde es also nicht.
„Ich sitze nun schon seit Jahren hier unten.“
Und er erzählte, wie es dazu kam und warum und
erzählte, wie er in all den Jahren überlegte, wieder herauszukommen. Und ich
hörte ihm gar nicht mehr zu. Und Petite Marie von Francis Cabrel legte sich über seine Ausführungen. Und der erzählte
von einem Mädchen, was er alles für sie tun würde und von Florida und daß er auf sie warten würde und ich hörte dem Lied in
meinem Kopf lieber zu, als mich mit dem Gullydeckel weiter unten zu
unterhalten. Und er erzählte und er erklärte und er hob hervor, was ich alles
nicht wissen wollte, wunderte mich nur, woher ich denn nun Musik in meinem Kopf
hörte. Und ob ich schon reif für die Klapse sei. Kam mir der Mann im Gully gar
nicht mehr so seltsam vor. Nur, daß jetzt diese Musik spielte. Wie sich
herausstellte, kam die Petite Marie
aus den Radiolautsprechern eines Autos, das hinter meinem Auto hielt. Und ich
war heilfroh, daß ich geistesgesund war. Blieb der Gullymann.
„Was denn für einen Gefallen?“, kürzte ich seine
Lebensgeschichte ab.
„Wir tauschen die Plätze. Für eine Stunde. Ich komme
heraus. Du gehst in den Gully hinein. Will mir nur mal wieder die Beine
vertreten. Und mich mal wieder richtig strecken. Frische Luft atmen. Dann
tauschen wir wieder. Und Du bekommst Deinen Autoschlüssel zurück.“
Ich schaute mich um. Und ich schaute auf meine Uhr.
Und ich überlegte, ob ich meine Erledigungen für den Geburtstag um eine Stunde
aufschieben konnte. Ich mußte wohl. Ohne Autoschlüssel ging ja eh nichts.
„Ach. Was soll’s.“ Ich stimmte ein.
„Abgemacht! Und wird nicht abgedacht!“
Der Gullymann packte meine Hand und schüttelte sie.
Dann schob er den Gullydeckel auf. Heraus kam ein schmales Männchen. Aschfahl
und grau. Die Jahre im Gully hatten ihre Spuren hinterlassen. Wir tauschten die
Plätze. Ich zwängte mich hinein. Und hatte das Gefühl, als ich hinabstieg, daß
ich auf einen Schlag zehn Kilo verlor oder daß sich der Gully auf mich
einstellte. Hatte dort mehr Platz, als erwartet. Der Gullymann schob den Deckel
zu. Und es machte mich schon ein wenig mißtrauisch, daß er sich freudig die
Hände rieb. Dann hüpfte er weg und ich verlor ihn aus den Augen. Vielleicht
könnte ich ja draußen warten, bis er zurückkam. Ich prüfte den Deckel und
drückte von unten gegen. Aber er ließ sich nicht bewegen. Ich saß hier unten also
erst mal fest.
Und nun gab es zwei Wahrscheinlichkeiten. Erstens,
es käme, wie man dachte und der Gullymann ließe mich hier zurück. Er bräche
sein Versprechen. Ich käme nie mehr aus dem Gully raus. Und ich wäre ja selbst
schuld, darauf eingegangen zu sein. Was ich nicht verübeln würde. Zweitens, der
Gullymann käme zurück, er hielte sein Versprechen, wir tauschten die Plätze wieder
und ich bekäme meinen Autoschlüssel zurück. Es wäre nur eine weitere Erfahrung
in meinem bald 50jährigen Leben. Und es gab noch dieses Drittens.
Und dieses Drittens spielte sich jenseits aller Versprechen
ab.
Einen Tag später.
Der Kuchen stand bereit. Die Kerzen steckten drin,
warteten darauf, angezündet zu werden. Eine 50
aus Marzipan sollte den Tag versüßen. Der Tisch im Garten war gedeckt. Kaffee
war gemacht. Kleine Kinder liefen um die Stuhlbeine herum. Ihre Kleider
verfingen sich mit den Beinen, und sie stolperten. Und die kleineren der
Kleinen machten es ihnen nach, weil sie das für den Teil des Spiels hielten.
Die Tochter schielte auf ihr Handy, wie üblich, Tante und Onkel verteilten
Besteck auf die Platzgedecke.
Die Kleidung verschlissen, der Mantelarm aufgerissen,
das Gesicht verschmutzt, die Haare zerzaust. 80 € für den Arsch. Die Schuhe auch
verloren. War ganz außer Atem. Ich mußte erst mal schlucken. Whiskey gab es nicht, also das andere.
Wasser. Ich schaffte es noch. Und saß nun an der Geburtstagstafel. Ich
schnappte der Tochter eine Zigarette weg. Hatte zuletzt als Teenager geraucht. Alle Augen auf mich
gerichtet.
„Du glaubst nicht, was mir passiert ist…“
Und dann schwieg ich. Wer nur die halbe Wahrheit
erzählt, der hat schon eine ganze Lüge ausgesprochen. Und ich wußte, daß ich
das Wichtige, das Entscheidende weglassen müßte, um meinen Zustand zu erklären,
damit er auch nachvollziehbar war. Wie ich aus dem Gully herauskam, wie ich all
meinen Mut aufbringen mußte, wie ich sogar das Gesetz brechen mußte und beinahe
einen Mord beging, war letztlich nicht mehr wichtig. Es war aber dieses
verdammte Drittens, das konnte ich sagen. Das jenseits aller Versprechen
Menschen aus vertrackten Situationen löste. Das man nicht erklären konnte. Das
einem nur widerfahren konnte und dem man widersprechen sollte. Wenn man ein
reines Gewissen behalten wollte. Aber jetzt saß ich hier. Den Autoschlüssel in
der Faust versteckt. Meine Schwester zündete die Kerzen an. Meine Tochter startete
den CD-Spieler. Wie vom Zufall bestellt, spielte er Downtown von Petula Clark.
Ich blickte noch mal in die Runde. Tausend Anfänge. Und kein Ende.
Dann pustete ich.
*
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