"Hallo" ist das Pfandleihhaus des "Aufwiedersehn"...



Miniaturen des Absurden

Betrete mit der Miene der Abfälligkeit und erhalte Einlaß

Vom Jardin du Luxembourg zum Panthéon brauchte es schon mehr als platonisches Innehalten, um sich Gehör für Gesehenes zu verschaffen. Da...

Mittwoch, 3. Juni 2015

Ein Mann auf der Lippe: Der Esel und ich

Ich bin däumlingsklein. Zaubergewirk hat mich geschrumpft. Ich sitze auf der Lippe einer Frau. Zwischen ihren Lippenwulsten. Meine Beine baumeln herunter Richtung Kinn. Oben und unten könnten mich jederzeit zerquetschen. Ihr Lippenstift ist bräunlich rot. So dort zwischen den Küssen begleite ich ihren Tag. Ich erlebte mit ihr schon so einiges. War schon mit ihr in der S-Bahn. Wenn meine Füße drohen einzuschlafen, stehe ich auf und laufe auf ihrer Lippe hin und her. An den Zahnreihen vorbei. Ich habe dabei die Hände in meinen Hosentaschen. Ich bewege mich so auf den Lügen, kippelnd, ihrer Lippen. Meine Füßchen hinterlassen Spuren im Lippenstift. Man werfe das mir nicht vor. Ich kam durch Zauberfall in diese mißliche Lage. Manchmal rattere ich auch gegen ihre Zahnlatten. Heute war es schön. Heute gingen wir in den Zoo...


Der Esel nennt sich stets zuerst.

Nun war es nicht unüblich in Anbetracht von Wesen, die einem ähneln, über Trennendes nachzudenken, da die Ähnlichkeit ja schon gegeben war, derer wegen man sich die dadurch ausgelösten Gedanken überhaupt erst machte. Der Esel machte „I-aaah!“, und ich wunderte mich nicht, daß er mich so lautstark begrüßte, weil er in mir offensichtlich einen Leidgenossen erkannte. Ich i-aaahte zurück. Soviel zum Trennenden. Obschon es eher meiner Höflichkeit geschuldet war, Grüße – und waren sie noch so banal – mit ebensolcher Hingabe zu erwidern. Wer sich von vorne grüßt, der kann sich schon mal nicht von hinten in den Rücken fallen.

„Ich bin dynamisch, selbst wenn ich verharre.“, schien er zu mir zu sprechen. Und ich verstand ihn nur zu gut.

Zumindest machte er gerade keine Anstalten, die Koppel zu verlassen, obwohl der Pfleger im Zoo Berlin sich noch so mühte. Alles Schieben, Drücken, Fluchen zum Trotz und Schwanzgezerre. Der Esel bewegte sich nicht ein winzig kleinen Willen von der Stelle. Und dazu kam noch das Wollen. Das des Pflegers übrigens. Keine verbindlichen Attribute, die beiden: Willen und Wollen. Nun könnte man meinen, der Esel sei dumm, vielleicht stur. Und da erkannte ich das Verbindende – das Trennende: Er war ein Esel, ich ein Mann; auch wenn manch eine Frau, die lippenlog, beim besten Willenwollen darin keinen Unterschied erkennen mochte, sehr zu meinem Unverständnis der Zusammenhänge wegen –, während die Frau, die log, auf deren Lippe ich mich nun schon eine Weile befand – weil ich mich ja auf den Lippen ihrer Lügen bewegte –, und noch die Hasenohren des Esels für seine Aufgestelltheit bewunderte, und das Zottelige, selber stand, verharrte. Stur und dumm nun eben nicht. Das war das Verbindende. Ob dynamisch, nun ja, ließ sich derzeit nicht erkennen. Stur und dumm nun aber nicht. Waren Esel doch klug. Und besaßen vier Hufe. Und vier Gründe, sich eben diese zu brechen. Jeden einzelnen davon. Und man hörte nie mehr von Eseln, die sich die Hufe brachen, nie wieder. Sah man auch nie wieder welche. Waren also nur vorsichtig. Schauten sich um. Und wenn die hübschen Augen des Esels mit dieser weißer Umrandung, die sie so liebevoll für den Betrachter machten, auch nur ein Stöckchen in weiter Entfernung witterten, über das sie hätten stolpern können, bereitete ihnen das störrisches Unbehagen. Nun, es kam, wie es kommen sollte: Ein zweiter Pfleger kam, klaubte das befremdliche Stöckelchen vom Boden, und der Esel setzte sich in Bewegung.

Warum weint sie denn jetzt schon wieder? Tränen liefen aus ihren Augen, mit dieser Umrandung, die sie so liebevoll für den Betrachter machten, aber doch nur Augen waren mit einer Umrahmung, bei objektiver Betrachtung, in zwei Rinnen entlang der Nasenscheidenwand, daraus noch mehr und stürzten in den aufgerissenen Mund. Naß ich nun, und keine Hemden zum Wechseln in meiner mir unangenehmen Lage, dort auf der zitternden Unterlippe, schlug ich gegen den Lippenwulst oben und beschwerte mich laut i-aaahend für dieses Betragen. Wenigstens nun dynamisch. In der Hand hielt sie einen Apfel und schwang den Arm bis zum Ellenbogen nach oben, nach unten, nach oben, als ob sie mit einer Hantel den dünnen Bizeps trainieren wollte. War aber nur der dümmste Apfel, den man für Geld erwerben konnte: Braeburn. Wußte sie nicht, daß man fremdem Pferdengetier keine fremden Äpfel ins Maul geben sollte? Führten nur zu Koliken. Warum allerdings vertraute Äpfel, vornehmlich die von Pflegern hinein durften, erschloß sich mir nicht zur Gänze. Wollte mir bei Gelegenheit den Unterschied zwischen fremdem und vertrautem Obst noch mal zu Augen führen, da führte sie schon den Apfel davor und wollte gerade abbeißen, wohl erkennend, daß man Tränen nicht essen konnte. Woher dann dieser Hunger kam?

Der Esel blickte sich noch mal um und nickte wissend in meine Richtung. Ich beneidete ihn für seine Duldungsstarre, die er noch im Gehen zu Haupt und Stolze trug, dann ersparte ich mir die Essensvorgänge, die vorgingen, wenn man in einen Apfel biß. Waren keine schönen. Zumindest nicht, wenn man dazwischen auf der Lippe um sein Leben hüpfte – und dann erst diese Knirschgeräusche! Nun, irgendwann kam jeder Hunger auch mal zu Ende und sie lief nun weiter durchs Gehege. Nun, erklärlicherweise auf dem Pfad zwischen diesen. Wir waren zwar im Zoo, aber sie war ja nicht im Zoo. Das waren die anderen Tiere. Sie hatten wohl ihre Gründe. Wer wußte das schon? Der Nächstliegende: Beizeiten in Freiheit eingefangen zu sein und nun zur Begaffung der Besucher und Belustigung zu sorgen. Ob sie einsam waren? Niemand machte sich wohl Gedanken darüber, wie es den Tieren, Bestien und Mäuschen in ihren Unterkünften so erginge. Wie fühlten sich die Löwen, die Langweiligen, die es immer in Zoos gab? Die kaum mehr brüllten, nur mehr gähnten. Die ein Zoo nur heranschaffte, um zu beweisen, daß man das Animalische vermenschlichen konnte. Die Giraffen mit ihren Flecken. Stießen die sich ihren langen Hals an den Zwängen? Die Ziegen, Gnus, Hyänen und der Esel. Was dachten sie über die Besucher, Hände, Finger, die winkend, schmutzig, sauber oder abfällig, aufgeregt auf sie zeigten?

Die Einsamkeit der Schönen.

Im Gehege, und keine Wege. Führten nicht heraus. Und war ich noch so klein, ein Däumling, und selbst ja auch in einem Zwinger – der der Frau, auf ihren Lippen, Wulst und Zähne –, so verstand ich nicht die Einsamkeit der Tiere, schönen. Diese herrlichen Felle, die der Tiger, Muster, Gefieder, Laute. Auch nicht die der weniger schönen, Hyänen. War sie mir nicht geläufig. Seit Jahrzehnten nicht. Dem Leben zum Trotz. Und doch verstand ich nun, warum sie weinte. Und vielleicht brauchte es einen Zoobesuch, einen Esel, einen Apfel und einen Frühling, um das alles zu begreifen, als Kleinster unter den Kleinen.

Rückte ich mich nun ein wenig näher an die Lippen, die so gerne logen, und tröstete ich. Nicht aus Mitleid. Mitgefühl war das Wort, das ich in ihren Rachen pustete, auch wenn es ungespürt blieb, doch war nicht dumm – nur dreimal in meinem Leben –, nichts würde sie aus ihrer Einsamkeit befreien, würde es mich nicht befreien und auch nicht all die anderen Kreaturen, groß und klein. Die Schönen und die Hyänen. Gab es keine Gelegenheiten. Von Möglichkeiten ganz zu schweigen. Und dann?

Wenn einem nichts mehr einfällt, dann schreibt der erfahrene Autor ‚Und dann?‘, las ich mal in einem Buch von einem erfahrenen Autor geschrieben. Es muß ein guter gewesen sein. Denn es fiel ihr nichts mehr ein.


Und dann war der Tag rum. Wieder einer.







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Wie es weiter geht: Borniert kommt nicht von Borneo







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