Der Esel nennt sich stets zuerst.
Nun war es nicht unüblich in Anbetracht von Wesen,
die einem ähneln, über Trennendes nachzudenken, da die Ähnlichkeit ja schon
gegeben war, derer wegen man sich die dadurch ausgelösten Gedanken überhaupt
erst machte. Der Esel machte „I-aaah!“,
und ich wunderte mich nicht, daß er mich so lautstark begrüßte, weil er in mir offensichtlich
einen Leidgenossen erkannte. Ich i-aaahte
zurück. Soviel zum Trennenden. Obschon es eher meiner Höflichkeit geschuldet
war, Grüße – und waren sie noch so banal
– mit ebensolcher Hingabe zu erwidern. Wer sich von vorne grüßt, der kann
sich schon mal nicht von hinten in den Rücken fallen.
„Ich
bin dynamisch, selbst wenn ich verharre.“, schien er zu
mir zu sprechen. Und ich verstand ihn nur zu gut.
Zumindest machte er gerade keine Anstalten, die
Koppel zu verlassen, obwohl der Pfleger im Zoo
Berlin sich noch so mühte. Alles
Schieben, Drücken, Fluchen zum Trotz und Schwanzgezerre. Der Esel bewegte sich
nicht ein winzig kleinen Willen von der Stelle. Und dazu kam noch das Wollen.
Das des Pflegers übrigens. Keine verbindlichen Attribute, die beiden: Willen
und Wollen. Nun könnte man meinen, der Esel sei dumm, vielleicht stur. Und da
erkannte ich das Verbindende – das
Trennende: Er war ein Esel, ich ein Mann; auch wenn manch eine Frau, die lippenlog,
beim besten Willenwollen darin keinen Unterschied erkennen mochte, sehr zu meinem
Unverständnis der Zusammenhänge wegen –, während die Frau, die log, auf
deren Lippe ich mich nun schon eine Weile befand – weil ich mich ja auf den Lippen ihrer Lügen bewegte –, und noch
die Hasenohren des Esels für seine Aufgestelltheit bewunderte, und das
Zottelige, selber stand, verharrte. Stur und dumm nun eben nicht. Das war das Verbindende. Ob dynamisch,
nun ja, ließ sich derzeit nicht erkennen. Stur und dumm nun aber nicht. Waren
Esel doch klug. Und besaßen vier Hufe. Und vier Gründe, sich eben diese zu
brechen. Jeden einzelnen davon. Und man hörte nie mehr von Eseln, die sich die
Hufe brachen, nie wieder. Sah man auch nie wieder welche. Waren also nur
vorsichtig. Schauten sich um. Und wenn die hübschen Augen des Esels mit dieser weißer
Umrandung, die sie so liebevoll für den Betrachter machten, auch nur ein
Stöckchen in weiter Entfernung witterten, über das sie hätten stolpern können,
bereitete ihnen das störrisches Unbehagen. Nun, es kam, wie es kommen sollte:
Ein zweiter Pfleger kam, klaubte das befremdliche Stöckelchen vom Boden, und
der Esel setzte sich in Bewegung.
Warum
weint sie denn jetzt schon wieder? Tränen liefen aus
ihren Augen, mit dieser Umrandung, die sie so liebevoll für den Betrachter
machten, aber doch nur Augen waren mit einer Umrahmung, bei objektiver
Betrachtung, in zwei Rinnen entlang der Nasenscheidenwand, daraus noch mehr und
stürzten in den aufgerissenen Mund. Naß ich nun, und keine Hemden zum Wechseln
in meiner mir unangenehmen Lage, dort auf der zitternden Unterlippe, schlug ich
gegen den Lippenwulst oben und beschwerte mich laut i-aaahend für dieses Betragen. Wenigstens nun dynamisch. In der
Hand hielt sie einen Apfel und schwang den Arm bis zum Ellenbogen nach oben,
nach unten, nach oben, als ob sie mit einer Hantel den dünnen Bizeps trainieren
wollte. War aber nur der dümmste Apfel, den man für Geld erwerben konnte: Braeburn. Wußte sie nicht, daß man fremdem Pferdengetier keine fremden Äpfel ins
Maul geben sollte? Führten nur zu Koliken. Warum allerdings vertraute Äpfel,
vornehmlich die von Pflegern hinein durften, erschloß sich mir nicht zur Gänze.
Wollte mir bei Gelegenheit den Unterschied zwischen fremdem und vertrautem Obst
noch mal zu Augen führen, da führte sie schon den Apfel davor und wollte gerade
abbeißen, wohl erkennend, daß man Tränen nicht essen konnte. Woher dann dieser Hunger kam?
Der Esel blickte sich noch mal um und nickte wissend
in meine Richtung. Ich beneidete ihn für seine Duldungsstarre, die er noch im
Gehen zu Haupt und Stolze trug, dann ersparte ich mir die Essensvorgänge, die
vorgingen, wenn man in einen Apfel biß. Waren keine schönen. Zumindest nicht,
wenn man dazwischen auf der Lippe um sein Leben hüpfte – und dann erst diese
Knirschgeräusche! Nun, irgendwann kam jeder Hunger auch mal zu Ende und sie
lief nun weiter durchs Gehege. Nun, erklärlicherweise auf dem Pfad zwischen
diesen. Wir waren zwar im Zoo, aber
sie war ja nicht im Zoo. Das waren die anderen Tiere. Sie hatten wohl ihre
Gründe. Wer wußte das schon? Der
Nächstliegende: Beizeiten in Freiheit eingefangen zu sein und nun zur Begaffung
der Besucher und Belustigung zu sorgen. Ob
sie einsam waren? Niemand machte sich wohl Gedanken darüber, wie es den
Tieren, Bestien und Mäuschen in ihren Unterkünften so erginge. Wie fühlten sich die Löwen, die
Langweiligen, die es immer in Zoos gab? Die kaum mehr brüllten, nur mehr
gähnten. Die ein Zoo nur heranschaffte, um zu beweisen, daß man das Animalische
vermenschlichen konnte. Die Giraffen mit ihren Flecken. Stießen die sich ihren langen Hals an den Zwängen? Die Ziegen, Gnus,
Hyänen und der Esel. Was dachten sie über
die Besucher, Hände, Finger, die winkend, schmutzig, sauber oder abfällig,
aufgeregt auf sie zeigten?
Die Einsamkeit der Schönen.
Im Gehege, und keine Wege. Führten nicht heraus. Und
war ich noch so klein, ein Däumling, und
selbst ja auch in einem Zwinger – der der
Frau, auf ihren Lippen, Wulst und Zähne –, so verstand ich nicht die
Einsamkeit der Tiere, schönen. Diese herrlichen Felle, die der Tiger, Muster,
Gefieder, Laute. Auch nicht die der weniger schönen, Hyänen. War sie mir nicht
geläufig. Seit Jahrzehnten nicht. Dem Leben zum Trotz. Und doch verstand ich
nun, warum sie weinte. Und vielleicht brauchte es einen Zoobesuch, einen Esel,
einen Apfel und einen Frühling, um das alles zu begreifen, als Kleinster unter
den Kleinen.
Rückte ich mich nun ein wenig näher an die Lippen,
die so gerne logen, und tröstete ich. Nicht aus Mitleid. Mitgefühl war das
Wort, das ich in ihren Rachen pustete, auch wenn es ungespürt blieb, doch war
nicht dumm – nur dreimal in meinem Leben
–, nichts würde sie aus ihrer Einsamkeit befreien, würde es mich nicht
befreien und auch nicht all die anderen Kreaturen, groß und klein. Die Schönen
und die Hyänen. Gab es keine Gelegenheiten. Von Möglichkeiten ganz zu
schweigen. Und dann?
Wenn einem nichts mehr einfällt, dann schreibt der
erfahrene Autor ‚Und dann?‘, las ich
mal in einem Buch von einem erfahrenen Autor geschrieben. Es muß ein guter
gewesen sein. Denn es fiel ihr nichts mehr ein.
Und dann war der Tag rum. Wieder einer.
*
Wie
es weiter geht: Borniert kommt nicht von Borneo
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen