"Hallo" ist das Pfandleihhaus des "Aufwiedersehn"...



Miniaturen des Absurden

Betrete mit der Miene der Abfälligkeit und erhalte Einlaß

Vom Jardin du Luxembourg zum Panthéon brauchte es schon mehr als platonisches Innehalten, um sich Gehör für Gesehenes zu verschaffen. Da...

Mittwoch, 29. November 2017

Als es euch gab


Eine typische Familie in Kanada.



Im Berliner Kiez ist die Welt noch in Ordnung.

Auf märkischem Sand gebaut, und kleiner als ein Dorf auf dem Land in der Provinz.
Wo Provinzstädte schon größer sind als Berlin, als ein Kiez allemal.

Und im Kiez ist das Leben noch überschaubar.

Da regt sich noch Widerstand, wenn ein Haus verändert werden soll.
Was natürlich erzkonservativ ist.
Was man natürlich nicht ist, weil man wählt natürlich das Bewahrende.
Man bewahrt nur die Welt, die man kennt - also die Welt im Kiez - vor der großen Welt da draußen, die man nicht kennt. Und die Welt ist so schnuckelig. Bewahren ist Konservendose. Und fuchtel nicht mit dem Dosenöffner. Das ist der Feind der Konservendose.

Im Kiez wähnt man die Welt vom Auto fern.
In der Welt da draußen feiern sie die Welt da draußen jenseits des Konservats - ein Derivat aus Reservat und konservieren - mit Autos in Hunderterstückzahlen in jeweils Millionenhöhe.
Aston Martin mit dem Valkyrie, McLaren mit dem BP23, Mercedes-AMG mit dem Projekt One, die Paganis, und von den LaFerraris, den Centenarios ganz zu schweigen, ganz diskret im Distrikt des Verdrängens: Dem Kiez der Heilsamkeit.

Alles Autos, die so drei Millionen Euro kosten werden. Und ein schnöder Porsche 911R wird auch schon für eine Million gehandelt.
Die Millionäre dieser Welt wollen Auto. Und schon vorgestellt, schon bestellt und Sold-Out. Die wahren Influencer.

Denn bei Mr JWW schreiben sie unter seinen Videos:

"Ich will mein Studium beenden. Ich will reich werden. Ich will Millionär werden, damit ich mir auch diese geilen Autos kaufen kann. Lamborghini Superveloce, yeah!"

Und man antwortet dem anerkennend zu. Nicht ich, die anderen. Die wahren beinfluencten.

Neben Pornos sind Autos die meistgesehenen Seiten im Internet. Vielleicht weil beides geil macht.
Nur im Kiez nicht. Im Kiez ist man nicht geil. Im Kiez liest man Studien.
In Studien liest man wie man geil wird. So ganz in Wörtern. In Studien darf man noch glücklich werden.

Also, wenn sie denn auf einen zuträfen. Dann bewahrt man das Glück auf in den Zeilen.

Und in den Zeilen ist sie da nicht klitzeklein versteckt? Die Hoffnung?

Heather Ballentine mag das ein wenig anders sehen. Pin-Up-Model und Superluxe-Entrepreneur aus Uptown Toronto.
Auch so ein Provinzstädtchen.
Mädchen, die noch vor ihrem dreißigsten Geburtstag zu Frauen werden wollen, wenn sie ihre Studien im Kiez durchgehen, sollten sich mal Heathers Videos anschauen. Und ist nicht jede Frau noch neunundzwanzig? Und sind Millenials nicht 17-jährige?

Vielleicht machen sich ältere Frauen zu Millenials, weil sie zu den Neunzigern nicht passen wollen. Allein vom Lidschatten nicht, der länger wird bei jeder einzelnen Wimper, wenn die Sonne tief steht und tiefer unterm Fernsehturm und keiner in die geschlossenen Lider so haucht, daß man die Augen auch geschlossen halten will.
Und sie ihren Generationskiez brauchen, um nicht zu den Neunis zu gehören, die keiner mag, der den Verstand für die Achtziger oder die Zweitausender brauchte.
Aber Millenials kennen sich mit Computern aus: Wisch links, wisch rechts.
Und dumme Menschen wie ich kennen sich nur mit Aldi-PCs aus, die man in den Neunzigern kaufte, um ein mühsames Studium von Windows 95 zu beginnen, und mit jedem Untermenü und jedem Systemabsturz und jedem minutenlangem Laden auch erfolgreich zum Abschluß brachte. Das sind unsere Kriegserfahrungen.

Dann zaghaft haben wir unsere glorreichen Erfahrungen gesammelt in Foren, die zu Geschichten inspirierten, mit ihrer Baumstammstruktur, um den anderen mit gewählten Worten in geschliffenen Bon-Mots auszuknocken: Subtil in Bonbonpapier verpackte Beleidigungen, und man schaute genüßlich zu, wie das Bonbonpapier knisternd entwickelt wurde und die Beleidigung gelutscht wurde, als wäre es die süßeste Karamellkamelle, die man je schlutschte.

Dann kamen die Zehnerjahre, die Erniedrigungen. Die Mißerfolge.

Wir steckten diese Bauchschläge ein und steckten sie weg. Wir tragen unsere Verletzungen. Wir zeigen sie nicht vor. Wir lehnen uns auf, wir verstummen wieder. Wir hören dem Geschrei zu.
Fragen werden hervorgebracht, die keine Fragen mehr sind, nur mehr Vokativ, nur mehr Ausrufezeichen.

Wir sind mißerfolgreich. Aber wir werden auch diese überleben.

Letztens hatte ich einen ganz schlimmen Gedanken gehabt:

Trotz Jahrzehnten und Tausender Nachrichtentoten bin ich nicht abgestumpft. Selbst bei Tierdokumentationen kann ich noch immer nicht hingucken, wenn ein Löwe eine Antilope frißt. Ich schaue dann weg, weil ich nicht will, daß sich solche Bilder in meine Festplatte einbrennen.
Aber letztens dachte ich ernüchtert, als wieder mal ein junger Mensch starb, und ich noch sagte:
So jung. Wie schrecklich. Dann, da, dachte ich das Schreckliche:

Auch diesen jungen Menschen habe ich überlebt.

Und es wird noch mehr junge Menschen geben, die ich überleben werde.

Ich bin erfolglos, in dem, was ich tue. Aber das kann ich immerhin: Überleben.

Ich fürchte, es gibt so viele von uns. Wir streben nichts mehr an. Wir sind nicht mehr erfolgreich.

Wir werden nicht mehr glücklich werden.

Wir streben keine Beziehungen mehr an.

Wir sind gar nicht mehr im Bewußtsein.

Wir sind die Generation, die überlebt.

Immerhin.

Vielleicht setzten wir uns vielen Gefahren aus, vielleicht duckten wir uns nur aus Versehen vor tief fliegenden Kugeln. Vielleicht überlebten wir nur aus Gewohnheit, weil wir uns ans Leben gewöhnten.

Aber wir überlebten.

Wir sind eure nächste Generation.
Und ihr werdet sterben.

Und wir werden uns an euch erinnern.

Ihr suchtet uns nicht aus. Ihr wolltet andere haben, die an euch erinnern.
Das macht wütend.
Wütend sind wir schon lange nicht mehr.

Buchhalterisch nehmen wir euer Ableben zur Kenntnis. Wir stumpfen nicht ab. Das tun wir nicht.
Schon seit Jahrzehnten nicht.


Aber wir überleben euch einfach weiter.






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