"Hallo" ist das Pfandleihhaus des "Aufwiedersehn"...



Miniaturen des Absurden

Betrete mit der Miene der Abfälligkeit und erhalte Einlaß

Vom Jardin du Luxembourg zum Panthéon brauchte es schon mehr als platonisches Innehalten, um sich Gehör für Gesehenes zu verschaffen. Da...

Sonntag, 3. August 2014

Subito ergo sum


10. Tag: Tate‘s Cairn


Das Taxi ließ uns raus. Der Fahrer war so nett und öffnete den Kofferraum. Er drückte mir den Trolley in die Hand, lächelte chinesische Schriftzeichen in mein Notizbuch namens Beilauf-Miene eines Gesichtsausdrucks, setzte sich ans Steuer, schlug die Tür zu, fuhr an, wendete und fiel den Berg herunter der Straße folgend froh über die hinzugewonnene Schwerkraft seines Toyota Crown Comfort, der sich doch lieber in Hong Kong aufhielt, mehr noch am Flughafen als am Meer, mehr noch als am Hafen, sicher sehr. Ich winkte ihm noch hinterher, bis zur nächsten Spitzkehre, dann verlor ich ihn aus den Augen, gewann aber Ursulas Erstaunen stattdessen und dessen Schwere.

Das Taxi ließ uns raus. Der Fahrer war so nett und öffnete die Fondtür. Er drückte mir Ursula in die Hand, lächelte chinesische Schriftzeichen – Mandarin – in mein Notizbuch namens Einlauf-Miene eines Gesichtsausdrucks, setzte sich ans Steuer, schlug die Tür zu, fuhr an, wendete und fiel den Berg herunter der Straße folgend froh über die hinzuverlorene Schwere seines Toyota Crown Comfort, der sich doch lieber in Hong Kong aufhielt, sicher sehr, mehr noch, wenn sich niemand im Fond aufhielt. Ich winkte ihm noch hinterher, bis zur nächsten Spitzlippe, dann verlor ich ihn aus den Augen, gewann aber Ursulas Lipp-Gloss auf einer Wange meines Erstaunens stattdessen.

Natürlich. Natürlich war es etwas ungewohnt, diese Nähe, diese Wärme, aber auch diese Schwere und diesen Schweiß in beiden Händen zu spüren, meinen Trolley in der einen, in der anderen eine alte Frau. Ursula. Vielleicht tröstete mich der Gedanke, wenn man auf der Spitze eines Berges überhaupt klar denken konnte, der dünnen Luft wegen, die noch dicker wurde, da sich Ursula in meinen Mund ausatmete, daß ich mich des zweiten Hauchs einer Ahnung diesmal nicht erwehren konnte, wollte schon, da nicht ich der Träger beider Umstände war – die meines Trolleys, besonders des Inhalts, und einer schissschwitzenden Ursula –, sondern umgekehrt. Kurz. Ursula hatte mich als Handtasche dabei und führte sie nun stolz zu den Stufen der Aussichtsplattform von Tate‘s Cairn.

Natürlich. Natürlich war es etwas ungewohnt, diese Nähe, diese Wärme, diese Mühe, aber auch diese Leere und diesen Fleiß in beiden Händen zu spüren, meinen Trolley in der einen, in der anderen die Sorgnis einer alten Frau, die sich gerade eine neue Handtasche für ihre Beteuerungen kaufte. Ich merkte mir vor, ihre Berührungen in Rechnung zu stellen. Schließlich war sie die Nutte, und ich kein Freier. Freier ging es dann weiter, als ich mich löste wie eine Mutter von der Schraube, wobei Ursula ja eine Mutter war und ich Schreck, als ich staubte, als ich festere Schritte wählte für meinen Freigang und mich entfernte und sie mir wieder näher kam, daher der Schreck, da die Aussichtsplattform zwar einen beinahe endlosen Ausblick bot – über den Hafen, das Meer –, aber keinen Ausgang – nein, daher der Schreck –, es sei, man wollte sich gleich in den Abgrund stürzen, aus Verzweiflung oder Langeweile oder besser noch aus nichts von beidem, was goldene Sandalen und eine Plastiktüte im Bauch trug. Auftrag. Daher doch eher der Schreck.

An meinen Auftrag dachte ich. Schnell stellte ich meinen Trolley zwischen mir und Ursulas Begehren um des Habenwollens, und wenn man es haben soll, um des Bewundertwerdens des Habenkönnens, wenn man das Kann im Wort zu einem Muß macht und die Macht im Wort zu Herrschaft und den Herrn im Wort zu Lust und die gleich noch zu Verlust, wenn man Ohnmacht verspürte beim Handtaschentausch, weil nichts ankam gegen das Begehren einer Frau, wenn sie neue Sachen wählte und das Gute im Worte doch nur Güter waren, da das Gekaufte den Preis fürs Erwerben selber zahlten sollte. Nun so. 

An meinen Auftrag dachte ich. Subito ergo sum. Schnell, also bin ich. Mit geschickten Fingern öffnete ich den Trolley, zog nur meinen blauen Arbeits-Overall heraus, schloß ihn wieder, klinkte den Griff in die Armbeuge ein, stülpte den Overall über wie einen Parachute – die Hosenbeine bliesen sich auf –, dann stürzte ich mich in die Tiefe. Lachend, denke ich.



Wie es weiter ging?



Nun, davon später mehr.




*



Wer ausbricht, gelangt nur in ein größeres Gefängnis


7.  bis 9. Tag: Im Niemandswann zwischen Zeiger und Rattrapante


Nun, das war so. Noch am Flughafen. Dort. Da ist es passiert. So kam Ursula in mein Taxi.

Wie? Nun, das ist eigentlich eine andere Geschichte. Und wenn man eine Geschichte erzählt, ist es immer gut, sie zu beginnen und zu beenden, bevor man eine neue erzählt. Ursula aber dachte nicht daran, sich an Regeln zu halten. Zumindest nicht an einfache. Vielleicht aber tat ich Ursula Unrecht. Vielleicht tat sie sich selbst Unrecht. Vielleicht tat ich aber besser auch nichts.

Als Ursula ausbrach. Dort. Am Ausgang des Hong Kong International Airports Chek Lap Kok. Nein, etwas weiter. An der Ausfahrt zum Highway. Ich saß schon in meinem Chamäleon-Taxi auf den Weg in die New Territories, als die Rücklichter einer schwarzen Limousine vor uns aufbrannten wie die Feuer von Troja, die Fondtür sprang auf, als klappte ein Wal seine Schlagflosse auf, fiel eine Frau vom lederbesesselten Fauteuil auf die von Arthrose gezeichneten Knie, die Hände vorgestreckt, als drückten sie ihren Ruhm vor Grauman‘s Chinese Theatre in Hollywood in den frischen Zement, hinterließen tatsächlich Spuren, in den von der Mittagshitze aufgeweichten Bitumen der Zubringerstraße – die machte ihrem Namen Ehre – flogen ein Handtäschchen – Gucci – hinterher, ein Schminkspiegel – der zerbarst –, ein Ausdruck darin in den Splittern des vermeintlichen Werfers – verächtlich –, eine Plastiktüte, die sie später in meinem Taxi wieder aus den Bauchfalten kramen wird, so als wäre es eine Geburt, das Verlegenheitsknistern die Wehen. 

Ein sonnengebräunter Arm, schmale Finger, gepflegte Nägel, eine Armbanduhr von Audemars Piguet blitzte am Gelenk auf – Grande Complication, Foudroyante, Stop für Stunden, Minuten, Sekunden, Schleppzeiger, Rattrapante, Großdatum, Silizium-Schnickschnack und Réserve de Marche –, langte sogleich nach dem Griff, als packte er in die wütenden Hörner einer Färse, und zog die Fondtür zu. Ein schattiertes Zeichen durch die abgedunkelte Heckscheibe an den Chauffeur und die schwere Limousine brauste mit quietschenden Reifen davon. Ein anderes Quietschen lag vor uns auf der Straße nun und blockierte den Verkehr. Mein Toyota Crown Comfort verlor seinen Comfort und hupte. Und mit ihm der Stau hinter uns, der sich bildete und als Stau auch so entstanden wäre ohne Ursula.

Nur eben ohne Ringelshirt. Und den goldenen Sandalen, die sich um Haftung bemühten. Und den Bermudas, die sich so sehr nach den Bermudas in ihrem Blau sehnten. Ursula kratzte sich vom Asphalt auf, schleuderte das Gucci-Täschchen auf selbigen und trat es in den Straßengraben zu den Grillen. All jene Dinge, die das Leben einer Frau, all jene Dinge, die das Leben einer Frau um die Sechzig erleichterten purzelten heraus und verstreuten sich als Abfallprodukte eines High-Society-Lebens, Ablebens über kurzgehaltenes Gras – Lippenstifte waren darunter, ein mit Glitzersteinchen versetztes Vertu-Handy, Tabletten gegen das Alter, Tabletten gegen das Gewissen und Tabletten gegen die Ohnmacht all dessen. Hätte ich sie stehen lassen sollen? Ursula? Als Ursula ausbrach.

Wer ausbricht, gelangt nur in ein größeres Gefängnis. Dachte ich.

Und als ich noch darüber nachdachte, wer gefangen war und wer nicht, wer in einem Taxi saß und wer nicht, schlugen schon verdreckte Hände gegen meine Seitenscheibe. Brüllten etwas, wie aufgelöste Hände es nur tun konnten, wenn sie etwas taten, was sie nicht tun sollten, und wischten den ausgehauchten Atem mit einem Wisch weg wie nichts, wenn er gegen Klimakonditionen kondensierte. Ich suchte nach dem Schalter, so schnell konnte ich gar nicht suchen, da fand ich ihn in der Konsole und die Scheibe surrte herunter. Pupillen, so weit geöffnet wie Einschußlöcher, ein Mund, der nichts anderes sein wollte außer Ausgang für Worte. Ursula schrie mich an:

„Man muß nach den Sternen greifen, um auf einen Baum zu steigen! Wer auf einen Baum steigt, um nach den Sternen zu greifen, wird nichts anderes zu fassen bekommen, außer nackte, dünne, leere Luft!“


So kam sie in mein Taxi.

Und ich rutschte auf den Platz hinter dem Fahrer.

Wie es weiter ging?


Nun, davon später mehr.





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