„Ich
bewege mich auf den Lippen Deiner Lügen.“
Die Stange war das Problem. Ja, das war übel. Ich mußte
aufpassen, daß sie nicht ins Gehege mit den Lippenwülsten kam. Und ich so
herunterfallen. Was mir zugutekam?
Daß sie den Mund offen hielt. Hatte
sie etwas gesehen, daß sie so in Starre hielt. Konnte nicht beobachten, was sie
offen hielt. Ich balancierte schwitzend auf ihrer Unterlippe. Wie ich dahin kam? Das war eine seltsame
Geschichte.
Das letzte, an das ich mich erinnerte, bevor ich in
diese mißliche Lage geriet, war, daß ich neben ihr im Bett lag. Es war schon
weit nach Mitternacht, und eine dieser Nächte, denen man nicht seine Träume
anvertrauen sollte – der Mond schien –,
wenn man morgens noch beim Duschen hinterm Vorhang nicht erschrecken wollte. Sie
schlief unruhig und drehte sich zur Seite, was mir die Decke nahm. Ich zog am
Zipfel, vorsichtig, um sie nicht zu wecken. Sie drehte sich dabei zurück. So
landeten ihre Lippen auf meinen. Mit diesem Kuß schlief ich schließlich ein.
Ich war noch müde und hörte ein langes Gähnen. Ob es
mein eigenes war, ließ sich nicht bestimmen. Wie, wenn ein Zug in einen Tunnel
einfuhr. Dachte ich und schmatzte. Auch spürte ich den Wind dabei. Mein Kopf
lag noch auf seinen Armen, meine Beine waren angewinkelt, wie als Kind, um sich
selber Wärme zu schenken. Ich lag weich gebettet, nur war es hell und ich
verspürte ein wiederkehrendes Beben. Und wieder ein Gähnen. Ich öffnete ungern
meine Augen. Das Licht schien zu hell für meine müden Lider. Ich tastete das
Bett ab. Was ich zuerst nicht glauben konnte, war es doch weicher und wärmer als
gewohnt. Die Augen nun ganz offen: Über mir ein roter Wulst. Jetzt erst wurde
mir klar: Ich lag auf ihrer Unterlippe.
Sie torkelte ins Bad, die Neonröhre strahlte, und das Beben kam von ihrem
Gehen. Und die Lippen wollten sich gerade wieder schließen, ah!
Bevor ich zerquetscht wurde und mich fragen konnte,
wie ich überhaupt in diese unangenehme Lage kommen konnte, hielt die obere
Lippe… inne. Im letzten Augenblick. Zum Glück. Nun fragte ich mich, ob sie mich
im Badezimmerspiegel sah und daher den Mund vor Staunen offen hielt. Ich stand
auf und winkte mit den Armen. Ich glaube, ich rief sogar. Doch soweit es von
hier zu erkennen war, bemerkte sie mein Herumzappeln nicht. Ich hielt mich so
gut es ging gerade und stützte mich mit erhobenen Armen an ihrer oberen Lippe
ab. Sie ah-te. Jetzt dachte ich, sie hätte mich bemerkt. Ich sah im Spiegel den
erschrockenen Ausdruck in ihrem Gesicht, den man sich vorstellte, wenn ein
erwachsener Mann nach dem Schlafen auf den Lippen einer Frau erwacht. Ich
stellte mich schon auf stockende Erklärungen ein. Ihre Hände griffen nun
Richtung Ausdruck. Und ich sah mich schon meiner mißlichen Lage befreit. Doch
dann griffen alle Finger einer erschrockenen Frau am Morgen nach einer
traumlosen Nacht – nach einem Pickel auf der rechten Backe. Ah! Aus dem Rachen. So laut ah-te sie
wieder, daß ich mir die Ohren zuhalten mußte. Und beinahe die hart erkämpfte Balance
verlor. Das Schlimmste, was mir passieren konnte, dachte ich. Das Schlimmste,
was einer Frau passieren konnte, dachte sie, war ein Pickel auf der Backe, der
sich über Nacht dort eingenistet hatte, und noch nicht reif zum Ausdrücken war.
Verstehe einer die Frauen. Aber ich war doch auch noch da!
Ich überspringe die Maßnahmen, die sie unternahm,
den Pickel ungeschehen zu machen. Sah Tuben, Pasten, Dosen, die ich noch nie im
Badezimmer bemerkt hatte. Waren so viele da. Ich verschweige auch die
demütigende Erfahrung, einem rotierenden, elektrischen Zahnbürstenkopf
auszuweichen – ich quetschte mich in den
letzten Mundwinkel –, verschweige es, vom Zahnpastaschaum eingesaut geworden
zu sein, fast vom Wassergurgeln erst in die Mundhöhle, dann ins Waschbecken
geworfen zu werden und erzähle lieber von dieser Stange, die mir wahrscheinlich
mein Leben rettete. Sie führte einen weißen Zahnseide-Stick zu den Zähnen,
wohl, weil sie noch ein Krümelchen vom gestrigen Mohnkuchen zwischen den Lücken
erblickte. Er kam auf mich zu – und ich ergriff meine Chance! Ich schnappte ihn
ihr gleich aus den Händen, als er in Reichweite kam, was sie überraschte.
Fragte sie sich sicher, wohin er war. Aber ich hielt den Stick triumphierend
zwischen aufgebrachten Fingern. So aufgeregt war ich noch nie in meinem Leben
gewesen. Vielleicht nur so, wie ich es war, als ich als Kind mal einen echten
50-Mark-Schein vor der Kellertür gefunden hatte. Hielt die Stange nun wie ein
Seiltänzer und balancierte auf ihrer Lippe. Von einer Seite zur anderen. Was
mir Sicherheit gab. Mußte nur aufpassen, daß die Stange nicht mit den
Lippenwülsten ins Gehege kam. Oben und unten. Und stellte mich – so realistisch schätzte ich meine Lage ein
– schon mal auf eine längere Zeit hier auf ihrer Unterlippe ein.
„Ich bewege mich auf den Lippen Deiner Lügen.“
Kam mir in den Sinn. Als sie nicht mal bemerkte, daß
ich im ungemachten Bett fehlte, während sie die Wohnung zur Arbeit verließ.
Nicht mal ein langgezogenes Tschüß! Wie
sie es immer tat. Nach all den Jahren inniger Beziehung. Mal sehen. Wenn ich
sie auf der Lippe durch ihren Alltag begleite, vielleicht lerne ich sie so
besser kennen. Mein erster Eindruck, als sie im Büro ankam und vor dem PC
arbeitete: Das kann mitunter lange dauern. Sehr lange.
Ich setzte mich. Während Excel-Tabellen so groß wie
im Autokino vor meinen Augen auftauchten und wieder verschwanden. Und ließ
meine Beine von ihrer Unterlippe baumeln. Die Stange ruhte dabei schlapp auf
dem Schoß. Dann ließ ich sie herunter wie eine Angel. Manchmal kam ein Stift zu
Besuch zwischen den Lippen. Er wanderte hin und her. Sie murmelte etwas. Ich
rückte etwas zur Seite und beachtete ihn nicht weiter. Ich gestehe. Ich habe
mir das Leben einer modernen Frau aufregender vorgestellt. Aber das wird sich
ändern. Gleich ist Mittag. Es gibt Ratatouille.
Ich hörte, wie sie es zu einer Kollegin sagte. Seit wann war sie Vegetarierin? Hatte sie mich auch dabei angelogen?
Ich richte mich schon mal auf ein Mundmassaker ein. Die Kollegin nimmt das
Jägerschnitzel. Und sonst? Ein erstes
Zwischenfazit konnte ich schon ziehen. Die Lippen einer Frau werden im
Allgemeinen überschätzt. Ist so, als säße man auf einer Luftmatratze. Man ist
am See, macht sich die Mühe, sie aufzublasen. Legt sich drauf. Und dann kommt
doch immer Regen. Und muß, während man naß wird, die Luft wieder rauskriegen.
Sie hatte eine sehr feuchte Aussprache. Was mir noch nie auffiel, als ich noch
groß war. Und sie redete. Und redete. War mir auch das neu. Pflegten wir doch
unsere Beziehung in harmonischer Stille.
„Männer!“, klagte sie gegenüber der Kollegin, die
schadenfroh ihren Pickel musterte, um davon abzulenken. Männer, lernte ich, waren
immer dazu gut, um von was abzulenken.
„Männer sind wie Herpes: Sie tauchen unvermittelt
auf, hängen an Deinen Lippen, bereiten nur Kummer und Schmerz. Und dann
verschwinden sie wieder. Haben sich aber für den Rest des Lebens in Dir
eingenistet.“
Und vielleicht dachte ich auch, was jeder sofort
denken würde, der sich auf den Lippen einer Frau bewegt: Daß das alles nur ein
böser Traum sei. Ein feuchter. Aber nur ein Traum.
Nur, wenn, dann wachte ich nicht auf. So sehr ich
mich auch bemühte. Gab es beim Träumen doch einen Mechanismus, der einen
erwachen ließ, wenn der Traum zu unangenehm werden drohte oder sich in einer
Endlosschleife zu verheddern. So sah ich das erst einmal als gegeben an. Und so
saß ich nun auf der Lippe einer Frau. Wie Herpes. Und beruhigte mich. Auch der
ging ja irgendwann wieder mal weg.
Mache also das Beste daraus. Und erzähle von nun an – von Zeit zu Zeit –, was ich auf den
Lippen einer Frau, die lügt, so erlebe.
*
Wie
es weiter geht: Der Lippenstift-Vorfall