Damit wäre auch schon alles gesagt.
Und man müßte nicht weiterlesen. Das ist so einfach,
daß es ein jeder versteht.
Oder ich mache es kompliziert – und erzähle von
meinem Nachbarn.
Ich mag meinen Nachbarn nicht. Nachbarn, so heißt
es, kann man sich nicht aussuchen. So gesehen ähneln sie der eigenen Familie,
die man sich ja auch nicht aussuchen kann. Man wächst mit seinen Brüdern und Schwestern unter einem Dach auf, aber irgendwann, wenn die Zeit reif ist,
zieht man aus und geht seiner Wege. Mit Nachbarn verhält es sich ähnlich. Man
wohnt unter demselben Dach, die Wohnungen bilden die verschiedenen Zimmer der
Familie, nur man zieht nicht aus. Ist also auf Gedeih und Verderb dem anderen
ausgeliefert. Länger als einem mitunter lieb ist.
Gut ist es, wenn man sich grüßt, einen ‚Guten Tag und guten Weg.‘ wünscht und sich
nicht weiter miteinander beschäftigt. Leben und leben lassen. Besser, man geht
sich gleich aus dem Weg. Irgendwie hat es sich bewährt, daß Wände und
Wohnungstüren zwischen den
verschiedenen Leben liegen.
Hausgemeinschaften unterliegen sozialen Regeln. Damit
man sich eben guten Gewissens aus dem Weg gehen kann und sich nicht weiter
miteinander beschäftigen muß. Irgendwie hat sich auch das bewährt.
Mein Nachbar hält sich nicht an soziale Regeln. Mein
Nachbar ist asozial.
Nun könnte man meinen, kein Mensch sei asozial.
Könnte man meinen, wer jemand anderes als asozial bezeichnet, diskriminiert
diesen. Dies kann verschiedenen Begründungen unterliegen: Daß man Abneigungen
gegen alles Fremde hegt. Daß man sich erhöht, indem man andere erniedrigt. Daß
man sich daran erfreut, wenn es einem nicht so gut geht, daß es dem anderen
noch schlechter ergeht. Daß man generell übellaunig ist und antipathisch. Daß
man die eigenen Unzulänglichkeiten dem anderen unterschiebt.
Mein Nachbar ist alkohol- und drogensüchtig, dreht jeden
Tag bis 3 Uhr morgens laute Musik auf bis die Boxen scheppern, ob werk-, ob
sonn-, ob feiertags – der Rekord liegt
bei 11 Stunden am Stück –, sondert wüste Beleidigungen und Bedrohungen
gegenüber jedem ab, der ihm begegnet, hat fünfmal die Glastür zum Treppenhaus
eingetreten, tritt gerne mal auch Wohnungstüren ein, wirft Dinge vom Balkon, zerschlug
seine gesamte Wohnungseinrichtung und zieht randalierend durchs gesamte Haus.
Die Polizei hat ihn schon mehrfach in Gewahrsam genommen.
Er leidet an einer Psychose.
Nun, bevor Mitgefühl aufkommt, muß erwähnt werden: Alle anderen leiden unter seiner
Psychose. Bevor Mitgefühl aufkommt: Man stelle sich mal vor, der eigene Nachbar
im eigenen Zuhause wäre alkohol- und drogensüchtig, drehte jeden Tag bis 3 Uhr
morgens laute Musik auf bis die Boxen scheppern, ob werk-, ob sonn-, ob
feiertags, sonderte wüste Beleidigungen und Bedrohungen gegenüber jedem ab, der
ihm begegnete, träte fünfmal die Glastür zum eigenen Treppenhaus ein, träte
gerne mal auch Wohnungstüren ein, würfe Dinge vom Balkon, zöge randalierend
durch das gesamte Haus, man lebte ständig in Angst, daß er die eigene Wohnungstür
im Drogenwahn einträte und man müßte selbst die Polizei rufen. Und das seit
Monaten. Ich glaube, die Geduld und Nachsicht eines jeden wäre damit
überstrapaziert.
Mein Nachbar ist asozial. Er ist die Definition von asozial.
Weil er unbelehrbar ist.
Weil
er nicht anders kann?
Weil
er an einer Psychose leidet und alkohol- und drogensüchtig ist?
Aus welchem Grunde ist letztlich egal.
Als mir mein Nachbar zufällig über den Weg lief – die Begegnung war mir unangenehm –,
sagte ich ihm ganz ruhig, daß er in der Psychiatrie landen und seine Wohnung
verlieren wird. Ich eröffnete ihm also die
Konsequenzen seines Tun und Handelns.
Seine
Reaktion? Er lächelte nur.
Nun, ich habe ihn durch die Wände auch schon
schizophren lachen gehört. Minutenlang. Und jetzt bin ich mir nicht mehr
sicher, ob es ihn weiter bringt – oder
nicht. Ein falsches Lachen und ein Lächeln:
A false laughter takes you five meters. A smile takes
you a mile.
Pflege ich zu sagen. Der Vermieter hat mitgeteilt,
daß ihm gekündigt wurde. Das letzte Mal, als ihn die Polizei festnahm, kam auch
der Krankenwagen, der ihn in eine psychiatrische Klinik brachte, wo er vier
Tage zur Beobachtung verblieb. Der Sozial-Psychiatrische
Dienst der Stadt ist verständigt. Er hat ein Strafverfahren wegen
Sachbeschädigung am Laufen. Er wird auf der Straße landen, also obdachlos
werden, eine Zukunft in einer Psychiatrie ist im obendrein gewiß. Das Leben hat
ihn aufgegeben. Und er rächt sich. Und es rächt sich. Keine Schuldzuweisungen. Nur,
daß er das anderen zum Vorwurf macht, indem er sein Gebaren anderen aufzwingt.
Er stört. Aus einem Egoismus heraus, der verletzt. Meine Einschätzung
bewahrheitet sich. Nur eine Frage von Wochen.
Was wäre denn
dieses ‚Weiter‘?, frage ich mich.
Gibt es aus seinem Standpunkt überhaupt ein ‚Hier‘?
Nun, nüchtern betrachtet: Sein ‚Hier‘ ist nichts. Sein ‚Weiter‘ ist Aufmerksamkeit. Sein Dasein
ist nicht Scheitern. Denn dazu
gehört es, es schon versucht zu haben. Sein Sein ist der
Moment, in dem er das tut, was er gerade tun will. Muß. Um sich selbst die
Aufmerksamkeit zu geben, nach der er verlangt. Ein Schreier in einer schalldichten
Kabine. Sein Selbst steht draußen davor und kann sich nicht hören. Nur daß ihn jeder
Nachbar mitanhören muß. Aber so gut es geht ignoriert. So versucht er es mit
Zerstörungen. Nur, daß er damit nichts erbaut, womit er sich beschäftigen kann.
Sein ‚Hier‘ ist der
Moment, wenn er sich vergewissert, daß er alle stört. Sein ‚Weiter‘, wenn andere sich mit ihm
beschäftigen müssen. Besonders, wenn sie es nicht wollen. Es gibt Menschen, die
machen ihre Probleme zu den Problemen anderer. Klammern sich fest, aber wollen
andere nur zu sich nach unten ziehen. Allein das täuscht einen Vorgang vor.
Aber Stillstand ist nicht das Gegenteil von Bewegung. Stillstand ist nicht
Mißerfolg. Es ist nur null Beschleunigung. Wenn Stillstand Mißerfolg bedeutete
und Bewegung Erfolg, worin begründete sich dann Erfolg, der sich dadurch
definiert, daß man ihn in Ruhe betrachtet, um ihn überhaupt zu bemerken. Wie
kann man den Weg erblicken, den man mit einem Boot auf einem Fluß zurückgelegt
hat, wenn man nicht am Ufer Halt macht, also stillsteht in aller Ruhe, um zu
bemerken, daß sich das Wasser im Fluß überhaupt bewegt? Worin begründete sich
dann sein Erfolg, wenn er sich in Bewegung setzt? Randalierend. Daß er als
Obdachloser auf der Straße landet oder mit Obdach in der geschlossenen
Psychiatrie? Herausgeführt in Handschellen mit einem falschen Lachen. Dort draußen
auf der Parkbank dann oder drinnen zufrieden sitzend mit einem Lächeln. Sein
Ziel erreicht.
A false laughter takes you five meters. A smile takes
you a mile.
Es bringt ihn also nirgendwo hin. Und doch, er
lächelt. Und lacht. Und wenn er nicht lächeln und nicht lachen würde, wäre es auch
wie oben beschrieben. Nur, daß es mir zu denken gibt.
Wie zerbrechlich ein ‚Weiter‘ ist.
Damit kein falscher Eindruck entsteht:
Kein Mitgefühl von meiner Seite.
Ich mag meinen Nachbarn nicht. Mein Nachbar ist
asozial. Er hält sich nicht an soziale Regeln, die ein Nebeneinander – es muß kein aufgezwungenes Miteinander sein – erst ermöglichen.
Ich freue mich schon auf den Tag, wenn er weg ist. Dann haben alle, habe ich
endlich meine Ruhe.
Ich mag meine Ruhe. Allein das ist mein ‚Weiter‘.
Ein ‚Weiter‘ kann nur der
Standpunkt sein, der in Beziehung zu etwas anderem steht. Und sei es, dynamisch
zu sein, selbst wenn man verharrt.
Somit habe ich beschlossen, anzunehmen, daß mein
Nachbar gar nicht lacht oder gar lächelt. Er gibt nur Lärm von sich und zieht
dabei die Mundwinkel nach oben.
Damit wäre auch schon alles gesagt.
*
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