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Miniaturen des Absurden

Betrete mit der Miene der Abfälligkeit und erhalte Einlaß

Vom Jardin du Luxembourg zum Panthéon brauchte es schon mehr als platonisches Innehalten, um sich Gehör für Gesehenes zu verschaffen. Da...

Freitag, 23. Januar 2015

Ein Mann auf der Lippe: Lippenlügen


„Ich bewege mich auf den Lippen Deiner Lügen.“

Die Stange war das Problem. Ja, das war übel. Ich mußte aufpassen, daß sie nicht ins Gehege mit den Lippenwülsten kam. Und ich so herunterfallen. Was mir zugutekam? Daß sie den Mund offen hielt. Hatte sie etwas gesehen, daß sie so in Starre hielt. Konnte nicht beobachten, was sie offen hielt. Ich balancierte schwitzend auf ihrer Unterlippe. Wie ich dahin kam? Das war eine seltsame Geschichte.

Das letzte, an das ich mich erinnerte, bevor ich in diese mißliche Lage geriet, war, daß ich neben ihr im Bett lag. Es war schon weit nach Mitternacht, und eine dieser Nächte, denen man nicht seine Träume anvertrauen sollte – der Mond schien –, wenn man morgens noch beim Duschen hinterm Vorhang nicht erschrecken wollte. Sie schlief unruhig und drehte sich zur Seite, was mir die Decke nahm. Ich zog am Zipfel, vorsichtig, um sie nicht zu wecken. Sie drehte sich dabei zurück. So landeten ihre Lippen auf meinen. Mit diesem Kuß schlief ich schließlich ein.

Ich war noch müde und hörte ein langes Gähnen. Ob es mein eigenes war, ließ sich nicht bestimmen. Wie, wenn ein Zug in einen Tunnel einfuhr. Dachte ich und schmatzte. Auch spürte ich den Wind dabei. Mein Kopf lag noch auf seinen Armen, meine Beine waren angewinkelt, wie als Kind, um sich selber Wärme zu schenken. Ich lag weich gebettet, nur war es hell und ich verspürte ein wiederkehrendes Beben. Und wieder ein Gähnen. Ich öffnete ungern meine Augen. Das Licht schien zu hell für meine müden Lider. Ich tastete das Bett ab. Was ich zuerst nicht glauben konnte, war es doch weicher und wärmer als gewohnt. Die Augen nun ganz offen: Über mir ein roter Wulst. Jetzt erst wurde mir klar: Ich lag auf ihrer Unterlippe. Sie torkelte ins Bad, die Neonröhre strahlte, und das Beben kam von ihrem Gehen. Und die Lippen wollten sich gerade wieder schließen, ah!

Bevor ich zerquetscht wurde und mich fragen konnte, wie ich überhaupt in diese unangenehme Lage kommen konnte, hielt die obere Lippe… inne. Im letzten Augenblick. Zum Glück. Nun fragte ich mich, ob sie mich im Badezimmerspiegel sah und daher den Mund vor Staunen offen hielt. Ich stand auf und winkte mit den Armen. Ich glaube, ich rief sogar. Doch soweit es von hier zu erkennen war, bemerkte sie mein Herumzappeln nicht. Ich hielt mich so gut es ging gerade und stützte mich mit erhobenen Armen an ihrer oberen Lippe ab. Sie ah-te. Jetzt dachte ich, sie hätte mich bemerkt. Ich sah im Spiegel den erschrockenen Ausdruck in ihrem Gesicht, den man sich vorstellte, wenn ein erwachsener Mann nach dem Schlafen auf den Lippen einer Frau erwacht. Ich stellte mich schon auf stockende Erklärungen ein. Ihre Hände griffen nun Richtung Ausdruck. Und ich sah mich schon meiner mißlichen Lage befreit. Doch dann griffen alle Finger einer erschrockenen Frau am Morgen nach einer traumlosen Nacht – nach einem Pickel auf der rechten Backe. Ah! Aus dem Rachen. So laut ah-te sie wieder, daß ich mir die Ohren zuhalten mußte. Und beinahe die hart erkämpfte Balance verlor. Das Schlimmste, was mir passieren konnte, dachte ich. Das Schlimmste, was einer Frau passieren konnte, dachte sie, war ein Pickel auf der Backe, der sich über Nacht dort eingenistet hatte, und noch nicht reif zum Ausdrücken war. Verstehe einer die Frauen. Aber ich war doch auch noch da!

Ich überspringe die Maßnahmen, die sie unternahm, den Pickel ungeschehen zu machen. Sah Tuben, Pasten, Dosen, die ich noch nie im Badezimmer bemerkt hatte. Waren so viele da. Ich verschweige auch die demütigende Erfahrung, einem rotierenden, elektrischen Zahnbürstenkopf auszuweichen – ich quetschte mich in den letzten Mundwinkel –, verschweige es, vom Zahnpastaschaum eingesaut geworden zu sein, fast vom Wassergurgeln erst in die Mundhöhle, dann ins Waschbecken geworfen zu werden und erzähle lieber von dieser Stange, die mir wahrscheinlich mein Leben rettete. Sie führte einen weißen Zahnseide-Stick zu den Zähnen, wohl, weil sie noch ein Krümelchen vom gestrigen Mohnkuchen zwischen den Lücken erblickte. Er kam auf mich zu – und ich ergriff meine Chance! Ich schnappte ihn ihr gleich aus den Händen, als er in Reichweite kam, was sie überraschte. Fragte sie sich sicher, wohin er war. Aber ich hielt den Stick triumphierend zwischen aufgebrachten Fingern. So aufgeregt war ich noch nie in meinem Leben gewesen. Vielleicht nur so, wie ich es war, als ich als Kind mal einen echten 50-Mark-Schein vor der Kellertür gefunden hatte. Hielt die Stange nun wie ein Seiltänzer und balancierte auf ihrer Lippe. Von einer Seite zur anderen. Was mir Sicherheit gab. Mußte nur aufpassen, daß die Stange nicht mit den Lippenwülsten ins Gehege kam. Oben und unten. Und stellte mich – so realistisch schätzte ich meine Lage ein – schon mal auf eine längere Zeit hier auf ihrer Unterlippe ein.

 „Ich bewege mich auf den Lippen Deiner Lügen.“

Kam mir in den Sinn. Als sie nicht mal bemerkte, daß ich im ungemachten Bett fehlte, während sie die Wohnung zur Arbeit verließ. Nicht mal ein langgezogenes Tschüß! Wie sie es immer tat. Nach all den Jahren inniger Beziehung. Mal sehen. Wenn ich sie auf der Lippe durch ihren Alltag begleite, vielleicht lerne ich sie so besser kennen. Mein erster Eindruck, als sie im Büro ankam und vor dem PC arbeitete: Das kann mitunter lange dauern. Sehr lange.

Ich setzte mich. Während Excel-Tabellen so groß wie im Autokino vor meinen Augen auftauchten und wieder verschwanden. Und ließ meine Beine von ihrer Unterlippe baumeln. Die Stange ruhte dabei schlapp auf dem Schoß. Dann ließ ich sie herunter wie eine Angel. Manchmal kam ein Stift zu Besuch zwischen den Lippen. Er wanderte hin und her. Sie murmelte etwas. Ich rückte etwas zur Seite und beachtete ihn nicht weiter. Ich gestehe. Ich habe mir das Leben einer modernen Frau aufregender vorgestellt. Aber das wird sich ändern. Gleich ist Mittag. Es gibt Ratatouille. Ich hörte, wie sie es zu einer Kollegin sagte. Seit wann war sie Vegetarierin? Hatte sie mich auch dabei angelogen? Ich richte mich schon mal auf ein Mundmassaker ein. Die Kollegin nimmt das Jägerschnitzel. Und sonst? Ein erstes Zwischenfazit konnte ich schon ziehen. Die Lippen einer Frau werden im Allgemeinen überschätzt. Ist so, als säße man auf einer Luftmatratze. Man ist am See, macht sich die Mühe, sie aufzublasen. Legt sich drauf. Und dann kommt doch immer Regen. Und muß, während man naß wird, die Luft wieder rauskriegen. Sie hatte eine sehr feuchte Aussprache. Was mir noch nie auffiel, als ich noch groß war. Und sie redete. Und redete. War mir auch das neu. Pflegten wir doch unsere Beziehung in harmonischer Stille.

„Männer!“, klagte sie gegenüber der Kollegin, die schadenfroh ihren Pickel musterte, um davon abzulenken. Männer, lernte ich, waren immer dazu gut, um von was abzulenken.

„Männer sind wie Herpes: Sie tauchen unvermittelt auf, hängen an Deinen Lippen, bereiten nur Kummer und Schmerz. Und dann verschwinden sie wieder. Haben sich aber für den Rest des Lebens in Dir eingenistet.“

Und vielleicht dachte ich auch, was jeder sofort denken würde, der sich auf den Lippen einer Frau bewegt: Daß das alles nur ein böser Traum sei. Ein feuchter. Aber nur ein Traum.

Nur, wenn, dann wachte ich nicht auf. So sehr ich mich auch bemühte. Gab es beim Träumen doch einen Mechanismus, der einen erwachen ließ, wenn der Traum zu unangenehm werden drohte oder sich in einer Endlosschleife zu verheddern. So sah ich das erst einmal als gegeben an. Und so saß ich nun auf der Lippe einer Frau. Wie Herpes. Und beruhigte mich. Auch der ging ja irgendwann wieder mal weg.


Mache also das Beste daraus. Und erzähle von nun an – von Zeit zu Zeit –, was ich auf den Lippen einer Frau, die lügt, so erlebe.






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Wie es weiter geht: Der Lippenstift-Vorfall



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