Betrachtet man die Welt, die uns
erwartet, aus nur einem Auge, erscheint sie rund am Rand, unten hell und
oben dunkel. Diese Welt stand Kopf. Und drehte sich nun langsam gerade.
Man stellt sich vor: Wellen. Wohlgeformte Wellen, die nach innen
streben. Sichelförmig gebogen, als Boden. Kein gerader Horizont. Links und
rechts in den Augenwinkeln zwei Hügel, die in ihrer Mitte eine Mulde bilden,
aber keine Hügel sind. Ein Baum am linken Ende. Auch die Krone scheint,
wie der Himmel, rund. Rillen zogen farblos durch das Bild. Waren wie die
Wolken: Ackerfurchen.
Wie kommt
es, daß man nie von Farben träumt?
Die Welt wird allmählich kleiner.
Man sieht, sie spiegelt sich in einem Auge.
Antwort: In einem Traum braucht
man keine Augen. Farbe!
Das Grün des Ackers ließ sich im
Schwarz des Auges nieder. Dieser Traum hier wurde bunt.
Und wer keine Augen braucht, ist blind.
Der Blick wanderte nach rechts zu
den Augenrändern, ganz langsam, ohne daß sich das Auge bewegte, ging er
unmerklich in eine Landschaft über. Bauernland – noch immer drehen wir uns –
erstreckte sich zu Anas Füßen. Grüne Furchen, Erde. Ein Baum links
am Horizont. Der Blick ging zu ihr zurück. Das war, was sich in ihrem Auge
spiegelte.
Ana stand auf dem Feld ihrer
Träume. Regungslos umarmte sie eine Harke. Ihr Blick ging in die Leere und hing
ihr nach. Die Sonne sengte. Eine Spinne, die von rechts über die Erde huschte
und sich schon in den Kartoffeln sah, wurde prompt zerquetscht. Sie wählte den
Weg, der in die falsche Richtung führte. Aus Anas Sicht. In Anas Blick.
Ana hatte noch nicht viel Freude in ihrem
Leben gesehen. Von früh am Morgen bis spät abends stand sie auf dem Feld, dem
Acker, der ihr gehörte, und schuftete. Sie arbeitete hart, war fleißig. Auch
wenn sie oft verzweifelte. Ihre Mutter kannte sie kaum, sie war früh
verstorben. Ihren Vater kannte sie kaum nüchtern, er prügelte sie oft. Das bißchen
Land, das sie besaßen, bestellte sie fast alleine. Meistens reichten die Kräfte
nicht für beide. Dann mußte einer hungern. Sie.
Schien die Sonne stärker? Ana
wischte sich den Schweiß aus den Augen. Sie hackte Unkraut. Auch das half nicht
viel. Der öde Boden höhnte, dorrte. Der Blick zum Himmel verhieß nichts Gutes.
Blaue Leere, selten eine Wolke, traute sich, zu regnen. Der Schweiß tropfte auf
den Boden. Sie hackte schneller, wenn die Tropfen helfen würden. Das Kraut fing
es gierig auf, dankbar wuchs es. Nur die Kartoffeln verdursteten.
Sie legte die Harke beiseite und fegte das
Unkraut mit den Händen zusammen. Dann ließ sie den Haufen liegen und harkte
weiter. Furche um Furche, Haufen für Haufen. Auf und ab. Schließlich – es war schon spät geworden – nahm sie
sich des Korbes an, der die ganze Zeit über geduldig am Feldesrand gewartet
hatte. Verbissen zog sie ihn durch die Furchen. Von Haufen zu Haufen. Keuchte
vor Staub. Bis auch er sich nicht mehr bewegen ließ. Der Vater kam. Wortlos
prüfte er das Kraut. Das Tragegestell, das er mitgebracht hatte, band sich Ana
um die Schultern. Dann wuchtete er den schweren Korb auf ihren Rücken. Ana
machte sich auf den Weg.
Es war Nacht, als sie wiederkam. Grillen
sangen vom heißen Tag. Schnell warf sie den Apfelkern ins Gebüsch. Ihre erste
Mahlzeit heute. Der Vater stand schon vor der Hütte, er hatte getrunken. Er
lachte, als er Ana sah, und umarmte sie. Dann nahm er ihr den Geldbeutel ab.
Ein Blick genügte. Sie wußte, was jetzt kam. Er schimpfte, zog sie an den
Haaren und schlug ihr die grünen Augen blau. Fluchend kletterte der Vater auf
den dürren Esel, den er gutes Mädchen nannte, und trabte drauflos.
Irgendwo versoff er das bißchen Geld oder verjubelte es bei Huren. Ana rappelte
sich auf und ging in die Hütte. Ein Tisch, zwei Hocker, keine Stühle. Eine
Kerze brannte. Vor der rechten Wand hingen Stoffe von der Decke. Durch dünne
Binsen miteinander verbunden. Sie teilten die Stube. Ana nahm die Kerze und
ging mit ihr zur Stoffwand. Vorsichtig schob sie den Saum nach oben und
schlüpfte hinunter durch. Jetzt stand sie in ihrer Kammer. Sorgfältig prüfte
sie die Knoten. Ein Gestell aus Brettern und
Heukissen diente als Bett. Tränen
kamen zu ihr als getrockneter Schweiß. Einsam löschte sie die Kerze.
Der Vater kam. Er stand im Vorhang
und hielt ein Kleid. Verschlafen öffnete Ana die Augen. Durch die Tür kam Licht
herein. Es war früh am Morgen. Wortlos schaute er seine Tochter an. Dann warf
er ihr das Kleid aufs Bett. Und ging.
Ana stand auf dem Feld ihrer Träume und hackte
Unkraut. Sie trug das neue Kleid. Ein blauer Stoff. Die Sonne brannte. Selbst
das Unkraut wollte kaum noch wachsen. Die Kartoffeln trugen Trauer, die Blätter
welkten. Dann sah sie es. Unwirklich versteckte es sich unter dem Grün. Beinahe
hätte sie es mit der Harke zerschlagen. Das Ei, vielleicht von einem Huhn, lag
in einem schwachen Nest und war noch warm. Ana sah sich um. Sie hatte Hunger.
Und besann sich. Man würde es ihr doch nur nehmen. Sie hob die Harke, setzte
zum Schlag an und hielt inne. Dann arbeitete sie weiter. Furche für Furche,
Haufen um Haufen. Wieder band sie sich das Tragegestell um die dünnen
Schultern.
Ana lag im Bett. Sie träumte. Und
schlief. Und hielt sich die Augen. Am Morgen kam der Vater, doch er war nicht
allein. Die Frau, er nannte sie gutes Mädchen, war dick und häßlich und
lachte wie eine Taube. Gurr hahaha. Er hatte sie irgendwo aufgegabelt. Den Esel
brachte er nicht mit nach Hause. Sie blieb. Ana wechselte die Kammer. Sie
wartete bis die beiden hinter dem Vorhang verschwanden und räumte auf. Zum
Schlafen legte sie sich unter den Tisch.
Die Frau sagte kein Wort zu Ana. Sie grüßte
mit erhobener Nase, war nackt, mit Flecken um den Hüften und hielt den
Nachttopf in Händen. Ana war früh aufgestanden, um vor der Hütte nach Wasser zu
graben. Sie kam in die Stube zurück, einen Eimer zu holen. Die Frauen schwiegen
sich an. Dann wollte Ana etwas sagen, Hallo vielleicht, ich bin Ana,
oder auch nur lächeln, da schüttete die Frau den Nachttopf samt Inhalt vor ihr
aus.
Ana lag unter ihrem Tisch. Mit jedem Abend kam
der Vorhang ein Stückchen näher. Sie hörte das Lachen. Das Gesabberlachen
zweier, die saufen. Sie hörte das Gestöhne. Das Schnarchen. Das Gedröhne in
ihrem Kopf. Sie schrubbte. Das bißchen Wasser aus der Grube hätten die
Kartoffeln gut gebrauchen können. Die Sonne lähmte.
Ana hackte Unkraut. Der Boden wurde härter.
Sie kam zur Stelle mit dem Ei. Sie überlegte, zögerte. Verstohlen sah sie nach.
Es war noch da. Sie widerstand. Legte Kartoffelkraut über das Nest. Hackte,
hackte, hackte. Dann kam sie nach Hause. Der Vorhang hatte die Hälfte der Stube
und den Tisch verschluckt. Ana war leise, versteckte sich in der Ecke. Der
Vater stand nur noch zum Pinkeln auf. Oder – wenn er Ana verprügeln sollte. Es
war ihm gleich.
Ana kochte. Einen Brei aus Kraut
und Knollen. Doch er schmeckte. Die Frau steckte mit Kopf und Zunge in der
Schüssel. Und leckte. Ana sah sie an. Durch sie hindurch, während sie die Töpfe
putzte. Die Frau schmatzte wohlgefällig, aber bemerkte, daß sie keine Manieren
besaß. Manieren vergaß, die sie vielleicht einmal hatte. „Was glotzt du!“,
schrie sie Ana an, als sie das erkannte. Später, Ana lag in ihrer Ecke, wurde
der Vorhang, der nun fast bis zur linken Wand hin reichte, ein wenig angehoben.
Eine fleckige Hand schob eine Schüssel unter diesen durch. Essensreste. Der
Vorhang schloß sich wieder. Doch es dauerte eine Sekunde Stille, als ob er sich
vergewissern wollte. Anas Magen knurrte.
Sie stritten. Der Vater und die Frau. Und
tranken. Gesabber. Gestöhne. Gedröhne. Ana lag in ihrer Kammer, in der Ecke,
und löschte die Kerze.
Eines Morgens wachte Ana auf. Es war zu früher
Stunde. Der Vater schnarchte. Die Sonne war noch weit davon entfernt zu
scheinen. Da drangen von jenseits des Vorhangs dunkle Geräusche an ihr Ohr. Die
Frau packte Sachen. Eilig. Nahm sich, was sie tragen konnte. Ängstliche Blicke
zum Vater. Nur nicht aufwachen. Ana stand im Vorhang. Sie hielt die Kerze. Vor
Schreck ließ die Frau eine Pfanne fallen, fing sie aber im Fallen wieder auf.
Leblos standen sich beide Frauen im Halbdunkel gegenüber. Und sahen sich an.
Die Frau glänzte fahrig und atmete tief. Das machte sie ähnlich. Der Vater
schlief. Hätte Ana etwas sagen sollen?
Dann stand sie schon in der Tür, schämte, sich umzudrehen, ließ nur ihren
Charme zurück und kam wie der nie wieder.
Danach soff der Vater noch mehr als zuvor. Der
Vorhang aber wanderte auf seinen alten Platz zurück. Ana löschte die Kerze.
Ana stand auf dem Feld ihrer
Träume. Sie schwitzte und bangte. Der Blick zum Himmel verhieß nichts Gutes. War die Mühe vergebens? Die Kartoffeln
warfen ihr Kraut ab. Hunger. Wo lag das
Ei? Ana hackte, suchte. Sammelte das Grün zusammen. Der Vater kam und
prüfte. Er hatte getrunken. Dann fand er das Ei. Es lag im Korb zwischen dem
Kraut und war zerbrochen. Der Inhalt fehlte. Wortlos nahm er die Hacke zur
Hand. Mit dem Stiel schlug er auf die Tochter ein. Hacken, hacken, hacken.
Ana lag in ihrer Kammer und weinte. Rote
Tränen rannen aus ihrem rechtem Auge. Von jetzt an war sie auf einem Auge
sehend und auf einem Auge blind.
Am Abend nahm der Vater seinen
einfachen Mantel, die schweren Stiefel, die er eigentlich nicht brauchte, und
machte sich naserotzend auf den Weg – zu Fuß. Den Esel hatte er ja verkauft.
Ana sah ihm heimlich nach, wie er durch die Dunkelheit stapfte. Bis er
schnaufend hinter dem letzten Busch verschwand. Manchmal blieb er tagelang weg.
Das waren die
schönsten Tage in ihrem Leben. Er
konnte aber am nächsten Morgen schon wieder da sein, das wußte Ana nie.
Manchmal war er auch nüchtern und half mit auf dem Feld. Dann war er ganz
sonderbar. So nah, fast gefällig. Faselte was von gutes Mädchen.
Lächelte. Aber das war selten. Die Arbeit wurde dadurch nicht leichter. Wenn er
schlief war er am verträglichsten.
Dann saß Ana in ihrer Kammer und träumte. Von
edlen Rittern und Feen. Zauberern und Helfern. Prinzen, Prinzessinnen. Erwachte.
Saß dann lange in der Nacht und lauschte dem Schnarchen ihres Vaters. Er
schnarchte laut und kräftig. So kraftvoll, daß sich manchmal der Vorhang
deswegen bewegte. Wenn er schnarchte, schlief er. Und Ana war frei. Sie zuckte
jedes Mal zusammen, wenn das Schnarchen verstummte. Zählte die Sekunden.
…einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig… Das Schnarchen kam zurück: Er
hatte nur die Luft angehalten. Bewegte
sich der Vorhang? Sonor und gleichmäßig teilte sich der Atem wieder in Luft
und Lärm. Einmal kam sie auf einhundertundsiebenunddreißig! Bei
einhundert hatte sie Angst bekommen – danach hoffte sie. Zählen konnte sie gut,
nur Lesen und Schreiben konnte Ana nicht.
Wie immer hatte sie sich am Rande des Marktes
hingesetzt und befragte mit stummer Unschuld die Kundschaft. Das Kraut lag vor
ihr zum Trocknen ausgebreitet auf dem Boden. Nur wenige interessierten sich für
das schmale Mädchen mit dem schmutzigen Gesicht, das nicht lächelte, und
musterten ihre Sachen. Das Dorf hatte keinen Namen. Ein Trödler war gerade
dabei, seinen fahrenden Laden zu packen, als letzte Strahlen der Sonne um den
Tinnef ramschten. Der Schein fiel auf Anas totes Auge. Er blendete nicht.
Verstohlen holte sie das
schimmernde Etwas aus ihren Kleidern. Löste vorsichtig einen Knoten und schlug
ihn ängstlich auf. Was nun im Licht der Kerze rätselhaft flimmerte, ließ Anas
Auge von Neugier zu Behagen und dann zu Entzückung taumeln. Fest hielt sie den
Taschenspiegel in beiden Händen, den sie für das Kraut und ein Versprechen beim
Trödler getauscht hatte. Dann sah sich zum ersten Mal im selben. Und die
Beulen, die sie dafür in Kauf nehmen mußte. Ungläubig zeichnete sie mit den
Fingern das fremde Gesicht nach, das sich ihr offenbarte. Sich selbst zu sehen,
machte Freude, sich zu erkennen, traurig. Wenn das Schnarchen in der Nacht
besonders kräftig war, dann schaute sie lange jetzt in den Spiegel.
Ihr Gesicht war hübsch; ihre Haut
sonnenverbrannt und übersät mit Sommersprossen. Rotbraune Haare umspielten in
wilder Absicht einen starken Nacken. Ihr Körper war dünn, aber wohlgeformt, mit
von der Arbeit straffen Muskeln. Sie besaß eine ländliche, fast handfeste
Anmut. Sie gefiel sich im Spiegel. Und wenn sie genauer hinsah, erkannte sie
auch den sehnsüchtigen Glanz in klaren, grünen Augen. Dann legte sie den
Spiegel schnell wieder beiseite.
Als kleines Mädchen hatte sie einmal den Vater
gefragt, wie alt sie sei. Da sagte er, sie sei so alt, wie der Mond siebenmal
Geschwister hat. Aber der Mond hatte keine Geschwister. Also zählte sie die Sterne.
Aber davon gab es Tausende. Das sagte sie ihrem Vater. Dann nahm er seinen
Gürtel ab und sagte, sie sei so alt, wie sie Striemen auf dem Rücken hatte. Da
wußte Ana, daß sie fünf war.
Als sie neun war (bedeckte neun Striemen nun
mit dem Kleid) kam ein alter Mann zu ihrem Vater. Er brachte einen Krug Schnaps
und lachte. Lange verschwanden beide in der Hütte. Sie tranken laut und
kräftig. Später kam der alte Mann aus der Tür geschossen und fluchte. Der Vater
warf ihm den leeren Krug an den Kopf und schrie: „Für dreißig gebe ich sie
nicht her! Komm wieder, wenn du fünfzig hast!“ Der alte Mann kam nie wieder.
Jetzt war Ana dreizehn.
Sie löschte die Kerze und schloß die Augen.
Eine Welt lag ihr zu Füßen…
[...]
*
(aus Der
Liebhaber der Sonne – ein Märchen)