"Hallo" ist das Pfandleihhaus des "Aufwiedersehn"...



Miniaturen des Absurden

Betrete mit der Miene der Abfälligkeit und erhalte Einlaß

Vom Jardin du Luxembourg zum Panthéon brauchte es schon mehr als platonisches Innehalten, um sich Gehör für Gesehenes zu verschaffen. Da...

Freitag, 1. August 2014

Ana


Betrachtet man die Welt, die uns erwartet, aus nur einem Auge, erscheint sie rund am Rand, unten hell und oben dunkel. Diese Welt stand Kopf. Und drehte sich nun langsam gerade. Man stellt sich vor: Wellen. Wohlgeformte Wellen, die nach innen streben. Sichelförmig gebogen, als Boden. Kein gerader Horizont. Links und rechts in den Augenwinkeln zwei Hügel, die in ihrer Mitte eine Mulde bilden, aber keine Hügel sind. Ein Baum am linken Ende. Auch die Krone scheint, wie der Himmel, rund. Rillen zogen farblos durch das Bild. Waren wie die Wolken: Ackerfurchen.
Wie kommt es, daß man nie von Farben träumt?
Die Welt wird allmählich kleiner. Man sieht, sie spiegelt sich in einem Auge.
Antwort: In einem Traum braucht man keine Augen. Farbe!
Das Grün des Ackers ließ sich im Schwarz des Auges nieder. Dieser Traum hier wurde bunt.
Und wer keine Augen braucht, ist blind.
Der Blick wanderte nach rechts zu den Augenrändern, ganz langsam, ohne daß sich das Auge bewegte, ging er unmerklich in eine Landschaft über. Bauernland – noch immer drehen wir uns – erstreckte sich zu Anas Füßen. Grüne Furchen, Erde. Ein Baum links am Horizont. Der Blick ging zu ihr zurück. Das war, was sich in ihrem Auge spiegelte.
Ana stand auf dem Feld ihrer Träume. Regungslos umarmte sie eine Harke. Ihr Blick ging in die Leere und hing ihr nach. Die Sonne sengte. Eine Spinne, die von rechts über die Erde huschte und sich schon in den Kartoffeln sah, wurde prompt zerquetscht. Sie wählte den Weg, der in die falsche Richtung führte. Aus Anas Sicht. In Anas Blick.
 Ana hatte noch nicht viel Freude in ihrem Leben gesehen. Von früh am Morgen bis spät abends stand sie auf dem Feld, dem Acker, der ihr gehörte, und schuftete. Sie arbeitete hart, war fleißig. Auch wenn sie oft verzweifelte. Ihre Mutter kannte sie kaum, sie war früh verstorben. Ihren Vater kannte sie kaum nüchtern, er prügelte sie oft. Das bißchen Land, das sie besaßen, bestellte sie fast alleine. Meistens reichten die Kräfte nicht für beide. Dann mußte einer hungern. Sie.
 Schien die Sonne stärker? Ana wischte sich den Schweiß aus den Augen. Sie hackte Unkraut. Auch das half nicht viel. Der öde Boden höhnte, dorrte. Der Blick zum Himmel verhieß nichts Gutes. Blaue Leere, selten eine Wolke, traute sich, zu regnen. Der Schweiß tropfte auf den Boden. Sie hackte schneller, wenn die Tropfen helfen würden. Das Kraut fing es gierig auf, dankbar wuchs es. Nur die Kartoffeln verdursteten.
 Sie legte die Harke beiseite und fegte das Unkraut mit den Händen zusammen. Dann ließ sie den Haufen liegen und harkte weiter. Furche um Furche, Haufen für Haufen. Auf und ab. Schließlich – es war schon spät geworden – nahm sie sich des Korbes an, der die ganze Zeit über geduldig am Feldesrand gewartet hatte. Verbissen zog sie ihn durch die Furchen. Von Haufen zu Haufen. Keuchte vor Staub. Bis auch er sich nicht mehr bewegen ließ. Der Vater kam. Wortlos prüfte er das Kraut. Das Tragegestell, das er mitgebracht hatte, band sich Ana um die Schultern. Dann wuchtete er den schweren Korb auf ihren Rücken. Ana machte sich auf den Weg.
 Es war Nacht, als sie wiederkam. Grillen sangen vom heißen Tag. Schnell warf sie den Apfelkern ins Gebüsch. Ihre erste Mahlzeit heute. Der Vater stand schon vor der Hütte, er hatte getrunken. Er lachte, als er Ana sah, und umarmte sie. Dann nahm er ihr den Geldbeutel ab. Ein Blick genügte. Sie wußte, was jetzt kam. Er schimpfte, zog sie an den Haaren und schlug ihr die grünen Augen blau. Fluchend kletterte der Vater auf den dürren Esel, den er gutes Mädchen nannte, und trabte drauflos. Irgendwo versoff er das bißchen Geld oder verjubelte es bei Huren. Ana rappelte sich auf und ging in die Hütte. Ein Tisch, zwei Hocker, keine Stühle. Eine Kerze brannte. Vor der rechten Wand hingen Stoffe von der Decke. Durch dünne Binsen miteinander verbunden. Sie teilten die Stube. Ana nahm die Kerze und ging mit ihr zur Stoffwand. Vorsichtig schob sie den Saum nach oben und schlüpfte hinunter durch. Jetzt stand sie in ihrer Kammer. Sorgfältig prüfte sie die Knoten. Ein Gestell aus Brettern und
Heukissen diente als Bett. Tränen kamen zu ihr als getrockneter Schweiß. Einsam löschte sie die Kerze.

Der Vater kam. Er stand im Vorhang und hielt ein Kleid. Verschlafen öffnete Ana die Augen. Durch die Tür kam Licht herein. Es war früh am Morgen. Wortlos schaute er seine Tochter an. Dann warf er ihr das Kleid aufs Bett. Und ging.
 Ana stand auf dem Feld ihrer Träume und hackte Unkraut. Sie trug das neue Kleid. Ein blauer Stoff. Die Sonne brannte. Selbst das Unkraut wollte kaum noch wachsen. Die Kartoffeln trugen Trauer, die Blätter welkten. Dann sah sie es. Unwirklich versteckte es sich unter dem Grün. Beinahe hätte sie es mit der Harke zerschlagen. Das Ei, vielleicht von einem Huhn, lag in einem schwachen Nest und war noch warm. Ana sah sich um. Sie hatte Hunger. Und besann sich. Man würde es ihr doch nur nehmen. Sie hob die Harke, setzte zum Schlag an und hielt inne. Dann arbeitete sie weiter. Furche für Furche, Haufen um Haufen. Wieder band sie sich das Tragegestell um die dünnen Schultern.

Ana lag im Bett. Sie träumte. Und schlief. Und hielt sich die Augen. Am Morgen kam der Vater, doch er war nicht allein. Die Frau, er nannte sie gutes Mädchen, war dick und häßlich und lachte wie eine Taube. Gurr hahaha. Er hatte sie irgendwo aufgegabelt. Den Esel brachte er nicht mit nach Hause. Sie blieb. Ana wechselte die Kammer. Sie wartete bis die beiden hinter dem Vorhang verschwanden und räumte auf. Zum Schlafen legte sie sich unter den Tisch.
 Die Frau sagte kein Wort zu Ana. Sie grüßte mit erhobener Nase, war nackt, mit Flecken um den Hüften und hielt den Nachttopf in Händen. Ana war früh aufgestanden, um vor der Hütte nach Wasser zu graben. Sie kam in die Stube zurück, einen Eimer zu holen. Die Frauen schwiegen sich an. Dann wollte Ana etwas sagen, Hallo vielleicht, ich bin Ana, oder auch nur lächeln, da schüttete die Frau den Nachttopf samt Inhalt vor ihr aus.
 Ana lag unter ihrem Tisch. Mit jedem Abend kam der Vorhang ein Stückchen näher. Sie hörte das Lachen. Das Gesabberlachen zweier, die saufen. Sie hörte das Gestöhne. Das Schnarchen. Das Gedröhne in ihrem Kopf. Sie schrubbte. Das bißchen Wasser aus der Grube hätten die Kartoffeln gut gebrauchen können. Die Sonne lähmte.
 Ana hackte Unkraut. Der Boden wurde härter. Sie kam zur Stelle mit dem Ei. Sie überlegte, zögerte. Verstohlen sah sie nach. Es war noch da. Sie widerstand. Legte Kartoffelkraut über das Nest. Hackte, hackte, hackte. Dann kam sie nach Hause. Der Vorhang hatte die Hälfte der Stube und den Tisch verschluckt. Ana war leise, versteckte sich in der Ecke. Der Vater stand nur noch zum Pinkeln auf. Oder – wenn er Ana verprügeln sollte. Es war ihm gleich.
Ana kochte. Einen Brei aus Kraut und Knollen. Doch er schmeckte. Die Frau steckte mit Kopf und Zunge in der Schüssel. Und leckte. Ana sah sie an. Durch sie hindurch, während sie die Töpfe putzte. Die Frau schmatzte wohlgefällig, aber bemerkte, daß sie keine Manieren besaß. Manieren vergaß, die sie vielleicht einmal hatte. „Was glotzt du!“, schrie sie Ana an, als sie das erkannte. Später, Ana lag in ihrer Ecke, wurde der Vorhang, der nun fast bis zur linken Wand hin reichte, ein wenig angehoben. Eine fleckige Hand schob eine Schüssel unter diesen durch. Essensreste. Der Vorhang schloß sich wieder. Doch es dauerte eine Sekunde Stille, als ob er sich vergewissern wollte. Anas Magen knurrte.
 Sie stritten. Der Vater und die Frau. Und tranken. Gesabber. Gestöhne. Gedröhne. Ana lag in ihrer Kammer, in der Ecke, und löschte die Kerze.
 Eines Morgens wachte Ana auf. Es war zu früher Stunde. Der Vater schnarchte. Die Sonne war noch weit davon entfernt zu scheinen. Da drangen von jenseits des Vorhangs dunkle Geräusche an ihr Ohr. Die Frau packte Sachen. Eilig. Nahm sich, was sie tragen konnte. Ängstliche Blicke zum Vater. Nur nicht aufwachen. Ana stand im Vorhang. Sie hielt die Kerze. Vor Schreck ließ die Frau eine Pfanne fallen, fing sie aber im Fallen wieder auf. Leblos standen sich beide Frauen im Halbdunkel gegenüber. Und sahen sich an. Die Frau glänzte fahrig und atmete tief. Das machte sie ähnlich. Der Vater schlief. Hätte Ana etwas sagen sollen? Dann stand sie schon in der Tür, schämte, sich umzudrehen, ließ nur ihren Charme zurück und kam wie der nie wieder.
 Danach soff der Vater noch mehr als zuvor. Der Vorhang aber wanderte auf seinen alten Platz zurück. Ana löschte die Kerze.

Ana stand auf dem Feld ihrer Träume. Sie schwitzte und bangte. Der Blick zum Himmel verhieß nichts Gutes. War die Mühe vergebens? Die Kartoffeln warfen ihr Kraut ab. Hunger. Wo lag das Ei? Ana hackte, suchte. Sammelte das Grün zusammen. Der Vater kam und prüfte. Er hatte getrunken. Dann fand er das Ei. Es lag im Korb zwischen dem Kraut und war zerbrochen. Der Inhalt fehlte. Wortlos nahm er die Hacke zur Hand. Mit dem Stiel schlug er auf die Tochter ein. Hacken, hacken, hacken.
 Ana lag in ihrer Kammer und weinte. Rote Tränen rannen aus ihrem rechtem Auge. Von jetzt an war sie auf einem Auge sehend und auf einem Auge blind.
  
Am Abend nahm der Vater seinen einfachen Mantel, die schweren Stiefel, die er eigentlich nicht brauchte, und machte sich naserotzend auf den Weg – zu Fuß. Den Esel hatte er ja verkauft. Ana sah ihm heimlich nach, wie er durch die Dunkelheit stapfte. Bis er schnaufend hinter dem letzten Busch verschwand. Manchmal blieb er tagelang weg. Das waren die
schönsten Tage in ihrem Leben. Er konnte aber am nächsten Morgen schon wieder da sein, das wußte Ana nie. Manchmal war er auch nüchtern und half mit auf dem Feld. Dann war er ganz sonderbar. So nah, fast gefällig. Faselte was von gutes Mädchen. Lächelte. Aber das war selten. Die Arbeit wurde dadurch nicht leichter. Wenn er schlief war er am verträglichsten.
 Dann saß Ana in ihrer Kammer und träumte. Von edlen Rittern und Feen. Zauberern und Helfern. Prinzen, Prinzessinnen. Erwachte. Saß dann lange in der Nacht und lauschte dem Schnarchen ihres Vaters. Er schnarchte laut und kräftig. So kraftvoll, daß sich manchmal der Vorhang deswegen bewegte. Wenn er schnarchte, schlief er. Und Ana war frei. Sie zuckte jedes Mal zusammen, wenn das Schnarchen verstummte. Zählte die Sekunden. …einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig… Das Schnarchen kam zurück: Er hatte nur die Luft angehalten. Bewegte sich der Vorhang? Sonor und gleichmäßig teilte sich der Atem wieder in Luft und Lärm. Einmal kam sie auf einhundertund­siebenunddreißig! Bei einhundert hatte sie Angst bekommen – danach hoffte sie. Zählen konnte sie gut, nur Lesen und Schreiben konnte Ana nicht.
 Wie immer hatte sie sich am Rande des Marktes hingesetzt und befragte mit stummer Unschuld die Kundschaft. Das Kraut lag vor ihr zum Trocknen ausgebreitet auf dem Boden. Nur wenige interessierten sich für das schmale Mädchen mit dem schmutzigen Gesicht, das nicht lächelte, und musterten ihre Sachen. Das Dorf hatte keinen Namen. Ein Trödler war gerade dabei, seinen fahrenden Laden zu packen, als letzte Strahlen der Sonne um den Tinnef ramschten. Der Schein fiel auf Anas totes Auge. Er blendete nicht.

Verstohlen holte sie das schimmernde Etwas aus ihren Kleidern. Löste vorsichtig einen Knoten und schlug ihn ängstlich auf. Was nun im Licht der Kerze rätselhaft flimmerte, ließ Anas Auge von Neugier zu Behagen und dann zu Entzückung taumeln. Fest hielt sie den Taschenspiegel in beiden Händen, den sie für das Kraut und ein Versprechen beim Trödler getauscht hatte. Dann sah sich zum ersten Mal im selben. Und die Beulen, die sie dafür in Kauf nehmen mußte. Ungläubig zeichnete sie mit den Fingern das fremde Gesicht nach, das sich ihr offenbarte. Sich selbst zu sehen, machte Freude, sich zu erkennen, traurig. Wenn das Schnarchen in der Nacht besonders kräftig war, dann schaute sie lange jetzt in den Spiegel.
 Ihr Gesicht war hübsch; ihre Haut sonnenverbrannt und übersät mit Sommersprossen. Rotbraune Haare umspielten in wilder Absicht einen starken Nacken. Ihr Körper war dünn, aber wohlgeformt, mit von der Arbeit straffen Muskeln. Sie besaß eine ländliche, fast handfeste Anmut. Sie gefiel sich im Spiegel. Und wenn sie genauer hinsah, erkannte sie auch den sehnsüchtigen Glanz in klaren, grünen Augen. Dann legte sie den Spiegel schnell wieder beiseite.
 Als kleines Mädchen hatte sie einmal den Vater gefragt, wie alt sie sei. Da sagte er, sie sei so alt, wie der Mond siebenmal Geschwister hat. Aber der Mond hatte keine Geschwister. Also zählte sie die Sterne. Aber davon gab es Tausende. Das sagte sie ihrem Vater. Dann nahm er seinen Gürtel ab und sagte, sie sei so alt, wie sie Striemen auf dem Rücken hatte. Da wußte Ana, daß sie fünf war.
 Als sie neun war (bedeckte neun Striemen nun mit dem Kleid) kam ein alter Mann zu ihrem Vater. Er brachte einen Krug Schnaps und lachte. Lange verschwanden beide in der Hütte. Sie tranken laut und kräftig. Später kam der alte Mann aus der Tür geschossen und fluchte. Der Vater warf ihm den leeren Krug an den Kopf und schrie: „Für dreißig gebe ich sie nicht her! Komm wieder, wenn du fünfzig hast!“ Der alte Mann kam nie wieder. Jetzt war Ana dreizehn.

 Sie löschte die Kerze und schloß die Augen. Eine Welt lag ihr zu Füßen…

[...]


*



(aus Der Liebhaber der Sonne – ein Märchen)






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