"Hallo" ist das Pfandleihhaus des "Aufwiedersehn"...



Miniaturen des Absurden

Betrete mit der Miene der Abfälligkeit und erhalte Einlaß

Vom Jardin du Luxembourg zum Panthéon brauchte es schon mehr als platonisches Innehalten, um sich Gehör für Gesehenes zu verschaffen. Da...

Sonntag, 16. November 2014

Seltsamer Attraktor


Tommytommy-Two-Chances war so ein Seltsamer Attraktor.

Aus seiner Sicht der Dinge so glaubte er, und nur aus seiner Sicht glaubte er, weil auch seine Mutter ein Seltsamer Attraktor war, die ein eigenes System außerhalb seines darstellte, so war er sich sicher, Attraktor zu sein, und doch war er nur ein Punkt des Phasenraums eines dynamischen Systems, eher ein Komma, das nicht selbst auf sich zustrebte, auch wenn er noch so sehr daran glaubte, Attraktor seines eigenen Chaotischen Systems zu sein, wenn er Schutz erpresste und dafür Schutzgeld als Nutzen für beide – Punkt und Attraktor – erbat zum Nutzen aller und zum Nachteil beider Freiheiten, die sich beide nahmen, indem sie in Beziehung zueinander standen.

Der in Beziehung zu seiner Rabimmel-Laterne und Francine stand – inmitten einer Dynamik, dem St. Martins-Tag – und sein Ende fand, als der Attraktor – die Sweeties – den Weg in seine aufgeblasene Plastiktüte fand.  Vielleicht war die Tüte der eigentliche Attraktor. Der banale Grund: sie zu befüllen, einfach nur zu befüllen.

Der Keiler war auch so ein Seltsamer Attraktor.

Aus seiner Sicht der Dinge so glaubte er, und nur aus seiner Sicht glaubte er, bevor man ihm ein Auge nahm, die ihm das räumliche Sehen verweigerte, so denn Schweine räumlich sehen konnten, weil auch seine Aufzucht durch den Vater ein Seltsamer Attraktor war, die ein eigenes dynamisches System außerhalb seines eigenen darstellte, so war er sich sicher, Attraktor zu sein, und doch war er nur ein Punkt des Phasenraums eines chaotischen Systems, eher ein Bindestrich, der nicht auf sich selbst zustrebte, auch wenn er noch so sehr daran glaubte und zweifelte, nachdem er zu viel Licht auf dem Weg nach oben zu sehen glaubte – was seine Richtung umkehrte –, wenn er sich als Beute betrachtete einer Meute zum Nutzen beider – Punkt und Attraktor – und zum Nachteil beider Freiheiten, die sich beide nahmen, indem sie in Anziehung zueinander standen.

Der in Beziehung zu seiner Schwarte und der Tafel stand – inmitten einer Dynamik, dem Mahl – und sein Ende fand, das der Anfang für ein Urteil war, der Jagd, als der Attraktor – der Hunger – den Weg in leere Mägen fand. Vielleicht waren die der eigentliche Attraktor. Nicht der Hunger, die Mägen. Der banale Grund: sie zu befüllen, einfach nur zu befüllen.

Und das Wollen. Das Wollen war auch so ein Seltsamer Attraktor.

Ich könnte einen ganzen Roman schreiben über das Wollen – und das Scheitern.

Aus dessen Sicht der Dinge, und nur aus dessen Sicht, glaubte man, bevor man alles Begehren auseinander pflückte, Worte verdrehte, mißverstand zum eigenen Nutzen deutete, verklärte, verbrämte, verurteilte – ohne die Sicht der Dinge eigentlich zu kennen, noch deren Motivation, sich in Bewegung zu setzen: einfach sich dem Licht zu stellen, das durch die Pupillen strömte –, weil man nicht durch die Augen eines anderen blicken konnte, so sehr man auch wollte, und nur der eigene Blick sich auf das andere richtete – und nur das konnte einen wirklich richten – Attraktor zu sein gravitätischer Systeme, und doch war es nur ein Punkt des Phasenraums Phantasie, purer Phantasie, ohne Hintergedanken  – das war die eigentliche Motivation, überhaupt etwas auszudrücken, nur etwas auszudrücken, nur die Grenzen auszuloten, wieviel Vorstellungskraft ausdrückbar war, wenn man sich nur bemühte, bemühte nur um des Bemühen Willens, sich etwas vorstellte, und nur darum ging es dem, der wollte –, mehr eine Parenthese, die sich nicht selbst befüllte mit den Worten anderer als Attraktor deren Sehnsüchte, wenn es – das Wollen, das Bemühen, die Phantasie, pure Phantasie, manche sagen Magie – sich abnutze wie ein Messingknauf beim Begreifen durch Gier, dem eigentlichen Seltamen Attraktor dynamischer chaotischer Systeme, zum Nutzen keines – Parenthese und Attraktor – und zum Nachteil aller, die nur wollten, in Beziehung zueinander zu stehen, weil sie einen Anspruch nicht nur gegen die Worte, die sie lasen, vertraten, sondern gleich gegen den, der sie schrieb, gegen den sich aber kein Anspruch erwirken läßt.

Das in Beziehung zu seinem Vermögen stand und dem Phasenraum, der es mehren sollte – inmitten einer Dynamik – und sein Ende fand am Nabel eines Teufels, der eine Witzfigur war, der nur so sein konnte – eine Witzfigur –, wollte man das eigentlich Böse vorstellen, an dessen anderen ein Narr, und sich beide fragten, wie man sich lösen konnte, und nur Wahn eine Schere fand. Vielleicht war das der eigentliche Attraktor. Nicht das Wollen, das Scheitern, der Anspruch, die Sehnsucht, der Hunger, der Durst, die Dinge oder das Bemühen, das Urteil, der Wind, die Sterne, das Begehren oder gar das Verlangen. Die Schere. Die Schere. Der banale Grund: sie zu benutzen, einfach nur zu benutzen.


Wem sie nützt.






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Samstag, 1. November 2014

Der Zug ist abgefahren – Sie rennt hinterher


Der Zug – sagen wir mal, es ist ein ICE, ein TGV wäre sicher zuverläßiger, sagen wir mal, es ist nicht Winter, also ist es nicht besonders kalt, und es ist nicht Sommer, also ist es nicht besonders heiß – ist abgefahren. Sie rennt hinterher. Ich überlege, ihr hinterherzuwinken. Scheitere aber an der Zuglok am Ende, die wohl mit anschieben muß, damit ein ICE überhaupt, wenn nicht vom Fleck, so wenigstens vorwärts kommt. Die hat kein Fenster mit Ausblick. Das Abteil schon, blickt aber durch die schnatternde Tür nur auf die Loklichter. Die sind ausgeschaltet – darauf komme ich später zurück. Sehr viel später.

Ich schicke ihr dennoch einen Gruß mit besten Wünschen – er findet einen Ausgang – und lasse diesen auf die Gleise poltern. Sie rennt hinterher. Angezogen – gerade noch rechtzeitig, sie kämpfte mit ihrer Puste – vom Pol-pol-poltern kommt sie wieder näher – es ist ein ICE, denken Sie nicht – und aus ihrer Sicht mag es wie ein Winke-Winke, wie ein Fünf-Finger-Nasennarren, wie eine ausgestreckte Hand erscheinen. Egal. Mein Grinsen ist universal – es paßt für jedes dieser Zwecke –, verschwindet in der Landschaft, als es am Seitenfenster aufgefressen wird. Sie klopft an die Scheibe – es ist ein ICE, denken Sie nicht –, dann zieht der Zug wieder an. Langsam, aber wieder an. Mein Grinsen prägt wieder die Landschaft. Sie rennt hinterher.

Ich mache es ihr jetzt etwas schwerer. Ich schlendere durch die Abteile. Und aus ihrer Sicht müßte es jetzt so erscheinen, als entfernte ich mich mehr. Könnte sie mich so sehen. Ich mache mir das Reisen bequem und setze mich auf einen der Plätze. Schlage meine Beine übereinander, was für Verwirrung unter den anderen sorgt, flitsche einen Fussel vom Schenkel, was für Gelächter sorgt, wende mich von deren Unterhaltung ab, suche die im Fenster. Sie klopft an die Scheibe – es ist ein ICE, denken Sie nicht –, sie kämpft mit ihrer Puste, wedelt mit etwas herum, dann zieht der Zug wieder an. Ich denke an einen Vogel. Weil gerade ein Vogel den Zug begleitet, nun überholt – es ist ein ICE, denken Sie nicht –, nun entschwindet. An einen anderen, der für sich eine Weise entdeckt hat, wie man Nüsse knackt. Satt dann war, aber nicht gewußt hat, wie er sein Wissen mit seinen Artgestalten teilt. Er dann zum Himmel flog, mit ihm all sein Wissen. Ich bestelle bei der wandelnden Reiseapotheke namens Zugbegleiter, überteuert – es ist ein ICE, denken Sie nicht –, eine Tüte Nüsse, Freundlichkeit obendrauf. Kaue alle auf, werfe, weil ich kein Abfalleimerchen am Sitzplatz finde, das Tütchen aus dem Fenster, es ließ sich kippen – denken Sie nicht – und geleite sein Schnattern – als wär’s ein lieblich‘ Vöglein – nach hinten. Denke, das war’s, schlage meine Beine übereinander, flitsche einen Krümel durch die Aussicht. Sie klopft an die Scheibe.

Sie hält das Tütchen nun in Händen, wedelt in der anderen mit etwas herum – zählen Sie die Hände nicht –, als wäre es ein Liebesbrieflein und liest nun daraus vor. Ich lese von ihren Lippen. Wie gut, daß Zugfenster keine Worte zulassen. Und aus ihrer Sicht müßte der Abfall samt Zutatenliste auf der Rückseite – das sind die Worte – wie ein bengalisches Tigertaschentuche aussehen. Die Ansichten variieren. Der Zug fährt an. Sie rennt hinterher. Ich schicke ihr ein O aus offenem Munde hinterher. Sie langt nach dem Buchstaben, schlüpft hinein, irgendwie bleibt er an zu schmalen Hüften hängen, kreist dort nun. Sie rennt nun hulahuppend hinterher. Ich vergesse sie. Ich nummeriere die Landschaft nach den Gleichstrommasten. Fotografiere die Abschnitte dazwischen mit meiner Klimperknipse, die Ausschnitte überlappen, setzen sich zu einem Film zusammen. Ich entscheide mich für einen anderen und tippe mich durch die fahrenden Zahlgäste, die meisten stehen, der Zug ist überfüllt – es ist ein ICE, denken Sie nicht –, tausche die Batterien meiner Fernbedienung aus, Infrarot nun tot, schicke einen Photonenschwarm stattdessen – wie und auf welche Art bleibt mir überlassen, denken Sie nicht –, bedenke die Gravitation, die von den Mitreisenden ausgeht, daran heften sich meine Blicke, halte jede Zicke, die mich mit ihren bemängelt, für eine mit einem Knall, einen gehörigen – jede für sich ein Urknall, denken Sie nicht –, halte den einen nun für Unsinn, zumindest den, die mir die Blondine von gegenüber mit den wackelnden Moskitostichen nun in meine Penis-Pupille übermittelt – können Pupillen hören? Denken Sie nicht –, berechne die Ausdehnung mit dem Maßstab des Schwellkörpers, zweifele an deren Linearität, stoße mich nun selber ab, abgestoßen nun von den Möglichkeiten einer Reiseromanze, mehr von deren Folgen – mäh-määh, denken Sie nicht –, bleibt nur das Fenster. Sie klopft an die Scheibe.

Ich sinke nun nieder. Tiefer in meinen Sitz hinein – eine Frau, die einem Mann hinterherrennt, die einem Zug hinterherrennt: der Tod des kleinen Mannes –, sehne mich nach der Zigarette danach, zünde mir gleich eine an – es ist ein ICE, denken Sie nicht –, beschwere mich über den Qualm bei den anderen Fahrgästen – das hilft immer –, flitsche sie in erstaunte Gesichter, das sorgt für Glut, zünden sich die ersten ihre damit an, das sorgt für Gelächter, die Stimmung nun gelassen, mehr und mehr, die gelassene Stimmung nun heiter, zücken sich Feuerzeuge in die Nähe von Affären, von denen die Reisenden – Mann und Frau, denken Sie nicht – nicht mal wußten, daß sie möglich waren – Handynummern tauschen sich in SIM-Speicherherzen, einige bleiben ein Leben –, bevor es Züge ohne Zigaretten gegeben. Die Züge nun bequem – der Zug, nun ja, es ist ein ICE, denken Sie nicht –, bald in Berlin. Außer Puste, hulahuppend, in Händen wedelnd mit einer leeren Tüte Erdnüsse, in der anderen – denken Sie nicht – etwas anderes, rennt sie hinterher.

Ich steige aus dem Zug. Verabschiede die Glücklichen, die sich Lungenküsse geben, in ein vergnügliches Leben, die piefigen Paffer in ihr Smog-Leben, schlendere mich entlang der Bahnsteigkante, dann mittels Rolltreppe nach unten, durch den häßlichsten aller Bahnhöfe – Wartebänke für die Auf-die-Verspätung-Wartenden sucht man in den Köpfen der Architekten vergebens, denken Sie nicht, die reisen in langen Limousinen –, bewundere die Abwaschbarkeit der Edelstahl-Ruine – wenn man Menschen als Schmutz betrachtet, so ergibt das sogar Sinn, denken Sie nicht – und wähne mich schon in Ruhe, als ich mich endlich auf den Ausgang zu bewege. Nehme den zum Leben hin. Hinter dem anderen steht eine Waschmaschine – wenn man Menschen als Schmutz betrachtet, so ergibt das sogar Sinn, denken Sie nicht –, die ist gerade kaputt.  Als mich ein Atem von hinten überrennt.

War für den Augenblick abgelenkt von all den langen Seidenbeinen, die mir Berlin in Baggies oder Blue Jeans entgegenstreckt, mit Flip-Flops gegen den Asphalt bewaffnet und leicht gezeigten Fußsohlen gegen den Alltag – entblößt eine Frau ihre Fußsohlen, bewußt oder unbewußt, so ist sie zum Liebesakt bereit, denken Sie nicht –, als mich ein Grabschen von hinten an der Schwelle hält. Sie wedelt mit der leeren Tüte Erdnüsse in den Händen, liest daraus vor, als wäre es ein Liebesbrief – ich höre nur Nüsse, Salz, Glutamat, in der Abfolge der Menge –, ich übersetze aus ihrer Sprache – „Weil ich Dich liebe, liiiebe.“ –, und dann kommt zum Tragen, was sie mir die ganze Zeit über hinterhertrug. Etwas Ausgeklügeltes? Etwas Cleveres? Etwas Hintersinniges? Nein. Etwas Banales. So enden nun mal solche Geschichten mit solchen Frauen, die einem Mann hinterherrennen, die einem fahrenden Zug hinterherrennen, die nicht wissen, daß man zu Beginn einer Reise den Zug an einem Bahnhof besteigt: Sie enden ohne Zuspitzung. Zittrig drückt sie sie mir in die Hand. Sie ist noch ganz warm. Von all den Mühen, mir hinterherzurennen. Vielleicht die erste Wärme, die sie tauschte.


„Du hast Deine Fahrkarte vergessen.“

„Der Zug ist abgefahren.“

„Nein. Ist. Er. Nicht!“



Meine Sorgen möcht‘ ich haben.






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