"Hallo" ist das Pfandleihhaus des "Aufwiedersehn"...



Miniaturen des Absurden

Betrete mit der Miene der Abfälligkeit und erhalte Einlaß

Vom Jardin du Luxembourg zum Panthéon brauchte es schon mehr als platonisches Innehalten, um sich Gehör für Gesehenes zu verschaffen. Da...

Samstag, 30. August 2014

Aura


Schönheit vergeht. Jugend vergeht. Aura und Charisma bleiben. So sie nicht gegen die Vergänglichkeit verlieren.

Chuzpe wappnet gegen die Vergänglichkeit.


Und nun war diese Nadel im Weg. Unscheinbar, wie es Nadeln nun mal sind, lag sie vor mir auf dem Boden des roten Teppichs. Daß er rot war, der Teppich, war wichtig. Denn ohne diese Farbe, die mich an das Blut in meinen Bahnen erinnerte – der Puls pochte und ich vergewisserte mich, daß er es auch beim nächsten Schlag noch tat, indem ich beunruhigt nachfühlte – wäre sie mir in diesen undurchdringlichen Flusen wahrscheinlich nicht aufgefallen. Lag sie also da. Und wenn man genau hinschaute, blitzte sie auch im Licht, welches sich gelangweilt durch die Aussicht eines fernen Fensters gähnte. Bäume sah man dahinter liegen – aber wo sah man keine? –, verborgene Häuser im Blätterdach darunter, ein kleiner Weg, den Kinder zu ihrer Schule benutzten, gab sich schemenhaft. Und diese Nadel schien mir schnippig einen Wink zu schicken, von unten, von dort, wo sie lag. Mit ihrem langen, dünnen Körper, mit ihrem Öhr, der Öse, in die sich eines der roten Flusen hinein verirrte. Und verriet mir nun, was sie verbarg. Wie sie dahin kam, dort unten, direkt vor meinen Füßen. Vielleicht war es ihr wichtig, mir das mitzuteilen. Vielleicht erwartete sie auch niemanden, der weiter des Wegs kam und so wollte sie die Gelegenheit nutzen, es wenigstens mir zu sagen. Mir, der baff erstaunt vor ihr stand. Und so begann sie, zu erzählen:

Sie wurde in einer Fabrik nahe eines Flusses geboren. Sie konnte sich nicht mehr an die Stadt erinnern, doch es mußte eine schöne Stadt gewesen sein, denn wer würde sonst auf die Idee kommen, dort, ausgerechnet dort, eine Nadelfabrik zu erbauen. Sie durchlief mehrere Werkmaschinen und kam strahlend glänzend auf diese Welt. Alles war noch neu für sie und sie freute sich, wenn immer jemand kam, um sie weiterzureichen. Andere Hände kamen und gaben sie in andere. Wieder andere lösten diese ab, und so lag sie nun nach vielen Handgriffen in einer durchsichtigen Plastikpackung, mit einigen ihrer Schwestern. Und nun wäre alles seinen Gang gegangen. Wäre sie in die große, weite Welt entlassen worden, jenseits dieser Fabrikmauern. Wäre sie in angenehme Hände gelangt, die nur zu gut wußten, wie man eine schöne, junge Nadel zu benutzen hatte. Doch leider, wie so oft im Leben, auch im Leben einer Nadel, kam es hier auch anders. Wanderte diese Packung, in der sie lag, mit ihren Schwestern, auf die Kante eines Werktisches, sollte in einen Karton einsortiert werden, doch ein Stoß ließ sie fallen, gleich auf den Boden beim Tischbein. Ein weiterer Schubs, von einem Arbeitsschuh, stieß sie nun ganz unter den Tisch. Lag sie nun da und wartete, darauf, daß man sie hervor holte aus ihrem vorgesessenen Grab.

Die Jahre vergingen. Menschen kamen und gingen. Wurden älter. Die Hände, die Handgriffe, die ein Leben lang ihre Griffe ausübten, verschwanden. Die Fabrik schloß ihre Pforten. Passierte lange nichts. Bis andere Menschen einzogen. Andere Möbel. Die alten raus. Fand ein junger Mann mit Bart und Brille, der in der Medienfirma arbeitete, die nun in den Werkshallen ihre Büros hatte, beim Einräumen die Plastikpackung mit unserer Nadel auf dem Boden. Und vielleicht war es dieser vergessene Glanz aus seinen Kindertagen, die ihn staunen ließen. Er biß gerade in ein Wurstbrötchen hinein. Hob die Packung hoch. Und er überlegte wohl, ob er noch Nadeln gebrauchen könnte. Der Chef kam. Er besann sich, ob der erstohlenen Pause,  und warf sie in den Papierkorb. Zusammen mit dem Rest der Wurststulle. Er kaute im Stillen weiter, bis der Chef den Raum wieder verließ. Und dort lag sie nun, die Nadel, im Papierkorb, und war wieder traurig.

Jemand anderes kam am Abend, machte das Büro sauber und leerte den Papierkorb. In einen Müllsack hinein, dieser landete auf einen Wagen. Der schob sich durch die Räume. Weitere Säcke kamen hinzu. Diese landeten vor der alten Fabrik, in der nun junge Firmen eingezogen waren, die ihr Glück im neuen Zeitalter suchten, lag auf der Straße und wartete darauf von der Müllabfuhr abgeholt zu werden. Und wäre wohl das Schicksal der Nadel beschlossen gewesen. Irgendwo auf einer Mülldeponie unter all den anderen Dingen, die man nicht mehr brauchte begraben zu sein und so verloren. Doch in der Nacht kam eine Katze. Sie kratzte den Beutel auf. Sie roch das Wurstbrötchen und hatte es darauf abgesehen. Sie spielte mit dem gefunden Essen, wie es Katzen gerne mit gefangenen Mäusen taten, und dabei bekam sie die Packung mit der Nadel zu fassen. Der Schein einer Laterne spiegelte sich in der glänzenden Oberfläche und die Katze begann mit der Packung zu spielen. Die halbe Straße hinauf. Bis sie das Interesse verlor, wie Katzen nun mal so sind, oder weil sie sich doch an das Wurstbrötchen erinnerte. Die Nadel lag nun auf dem Bürgersteig am Rande des Rinnsteins. Und sah zum ersten Mal in ihrem Leben die Sterne.

Die Nacht wechselte zum Tage. Sah sie zum ersten Mal den Sonnenaufgang. Menschen kamen vorbei. Erst wenige, dann mehr. Dann viele. War es im Laufe der Zeit eine belebte Gegend geworden, seitdem die Fabrik ihre Tore geschlossen hatte. Und fast schien es, als riefe die Nadel den Menschen zu. Sie sollten sie aufheben. Sie und ihre Schwestern aus ihrer Packung nehmen und dann mit ihr nähen. Hatte sie fast vergessen, daß sie ihre gesamte Kindheit und ihre Jugend und einen Teil ihres Alters vergessen unter dieser Werkbank der Fabrik verbracht hatte. Und als es fast nicht mehr schien, daß einer der vorbeihuschenden Gestalten von ihr Notiz nahm, kam eine Mutter mit ihrem Kinderwagen vorbei, das Kind ließ seinen Handschuh fallen, der kam gleich neben der Packung mit den Nadeln zu liegen und sie hob beides auf. Hob es hoch, und es war so, als ob sie die Packung mehr begutachtete, als den Inhalt. Sah die Packung etwas mitgenommen aus und roch nach Wurstbrot. Der Handschuh roch nach Straße, nicht das erste Mal, daß er aus dem Kinderwagen fiel. Ohne Umschweife zog sie den dem Kinde wieder an. Mit der Packung in der anderen Hand ging sie weiter und überlegte noch. Und hätte sie nicht jemand Bekanntes getroffen – eine Freundin, ebenfalls mit Kind und Kinderwagen unterwegs –, so hätte sie die Packung mit der Nadel wahrscheinlich nicht in das Kinderwagennetz gesteckt. Vielleicht, um der Freundin gegenüber nicht zu zeigen, daß sie Dinge von der Straße aufliest, die womöglich auch noch nach Wurst rochen.

So redete man viel im benachbarten Café und es gab viel zu bereden. Zwei Kinder im Kinderwagen gaben viel Gesprächsstoff her und vier Latte Macchiatos umso mehr. Bezahlten diese die Stühle für Stunden. Die Nadel aber hörte gerne zu, hörte sie doch zum ersten Mal im Leben andere Worte, als die, die sie aus der alten Fabrik gewohnt war zu hören, die sich nur um die Arbeitsschritte drehten, wie man Nadeln richtig herstellte, was zu beachten war, was Ausschuß war. Und vielleicht war das der Augenblick, daß sie sich an dieses Wort erinnerte: Ausschuß. War sie wohl Ausschuß, auch. In ihrer makellosen Ausführung, als sie aus diesen Maschinen kam, in der alten Fabrik, und das Licht der Welt erblickte, das sich so gerne in ihrer Oberfläche spiegelte. Doch bevor die Nadel noch weiter darüber nachdenken konnte, ging es schon weiter. Was waren schon Stunden gegen Jahre?

Die Mutter mit dem Kinderwagen verließ Freundin und Café und hatte die Packung mit der Nadel schon vergessen. Sie steuerte ihr Zuhause an, erreichte es über Umwege, fuhr dazwischen mit dem ungemütlichen Bus, der Kinderwagen paßte so gerade in die Lücke, die der Omnibus für Kinderwagen und Mütter vorsah, so als seien die nicht erwünscht, stand dann vor der Haustür, öffnete diese, stellte den Wagen unten im Hausflur ab, das Kind nahm sie heraus, ließ den Wagen stehen und verschwand in ihrer Wohnung. Die Packung mit der Nadel lag vergessen im Netz des Kinderwagens, und hätte man sie herausgehoben aus dieser Vergessenheit dieses Daseins, so wäre sie jetzt wahrscheinlich ihrem Ziel nahe. Gab es sicher in diesem Haus jemanden, der Nadeln gebrauchen konnte. Mehr jedenfalls, als man Nadeln gebrauchen konnte in der Fabrik, in der sich ja alles um diese drehte.

Abends kamen Jugendliche vorbei. Sie führten nichts Gutes im Schilde, waren Teenager. Rauchten heimlich in der Flurnische, weil es draußen regnete, zwei Flaschen Bier wanderten durch Hände. Dann tanzten sie mit dem Kinderwagen zu Sia – Chandelier und aus einer Laune heraus landete eine brennende Zigarette im Kinderwagen. Der rauchte. Hustend landeten die Hausbewohner auf der Straße von der Feuerwehr gerettet. Die löschte die Reste. Holte aber das Feuer die Nadel aus ihrer Plastikpackung, weil diese schmolz. War befreit und schwappte in einer Löschwasserpfütze. Und wäre auch so wieder vergessen, wenn am nächsten Morgen nicht die Putzkräfte kamen, um die Sauerei sauber zu wischen. Hatte das Feuer im Kinderwagen doch nicht so viel Schaden angerichtet, auch wenn durch den Rauch das Leben aller Bewohner des Hauses auf der Kippe gestanden hatte, was denen dann auch bewußt wurde. Schnappte man die Teenager. Tanzten sie nie wieder zu Sia – Chandelier mit Flaschen Bier in den Händen, rauchten sie heimlich nur noch draußen. Auch bei Regen.

Und unsere Nadel schnappte sich der Wischmob. Wischte hin, wischte her. Und blieb unbemerkt. Gab es sicher bessere Momente, in eine neue Wohnung einzuziehen. Gab die alte nichts mehr her, als verblaßte Erinnerungen, und die neue sollte für zukünftige sorgen. Erwischte mich der Mob beim reingehen am Hosenbein, und die Nadel entschied sich wohl, bei mir zu sein. Trug ich sie hoch in die Wohnung. Der neue Teppich roch nach Rauch und ich nahm mir vor, Teppichreiniger zu besorgen. Kam die Nadel am nächsten Tag beim Schrubben mit den Fasern in Berührung und verabschiedete sich vom Hosenbein. Und nun, lag sie vor mir auf dem Boden. 20 Jahre später.

Bemerkte ich sie. Und ich erwägte, sie so zu belassen. Brachte sie mir in Erinnerung, was in all den 20 Jahren geschehen war. Und vielleicht aus einem Antrieb heraus, der brachlag, entfernte ich sie vom Boden, suchte mir ein Loch, das sicher in eins der Socken war, suchte einen Faden und brachte die Nadel nach all der langen Zeit zu Leben. Und die Aura der Jugend wirkte sich in den Stoff ein. Blieb die Nadel unverfänglich der Vergänglichkeit gegenüber. Und ich besah mich im Spiegel. Sah mein 20jähriges Gegenüber. Die Nadel in der Hand. War sie unverändert nach all den Jahren. War ihre Aura dieselbe. Glänzende Makellosigkeit. Und dann öffnete einer den Mund, der, der vor dem Spiegel stand oder der, der sich darin 20 Jahre jünger spiegelte, und schluckte die Nadel herunter. Verharrte sie noch kurz auf der Zunge, so, als ob jemand noch etwas sagen wollte. Sprach aber nichts dagegen. Und die Nadel verschwand nach innen. Gleich mit einem beherzten Schlucken. War wohl das ihre Bestimmung, nicht Zwirn und Faden.

Dort liegt sie nun. Und wirkt ihre Aura – so hoffe ich – für immer in das Gewebe ein. Und bin gespannt, welche Löcher sie wohl dort drinnen stopft. Und manchmal, wenn ich ganz genau hinfühle, merke ich sie, dort, ganz tief im Inneren, wenn ich zu Sia – Chandelier in einem Hausflur tanze.





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