"Hallo" ist das Pfandleihhaus des "Aufwiedersehn"...



Miniaturen des Absurden

Betrete mit der Miene der Abfälligkeit und erhalte Einlaß

Vom Jardin du Luxembourg zum Panthéon brauchte es schon mehr als platonisches Innehalten, um sich Gehör für Gesehenes zu verschaffen. Da...

Sonntag, 7. September 2014

Frontberichterstatter


Der Laufzettel


27.9.:    „Mein neunzehnter Tag an der Front. Und verlier es nicht, sagte der Sanitäter. Er stand so vor mir. Und wußte nicht, ob er mich umarmen sollte. Oder nicht. Seine Hand steckte noch in meiner Hemdenleiste. Ich glaube. Ich glaube, er wollte mir mehr mit auf den Weg geben, als bloß den Laufzettel, den er mir knistrig einschob. Halt dich von den Flüchtlingen fern, sagte Meinhard. Und schlug mir auf die Schulter. Er schlug noch einmal, weniger fest, um, nun. Laufen immer noch Dummköpfe rum, die nicht wissen, daß der Krieg um ist, nun. Rollen, sagte der Sanitäter. Und zeigte doch mal ein Lächeln eines Mannes, der schon alles Schlimme mindestens einmal gesehen hatte. Besteller, dachte ich. Wie ein Besteller in lustiger Runde. So sah es aus. Und für diese Sekunde konnte ich mir nichts anderes vorstellen, als in dieser Runde in dieser Kneipe zu sein und ihm meine Bestellung mitzugeben, die er gerne noch aufnahm, obwohl sein Tablett schon so voll war wie sein Lächeln. Genau, sagte Meinhard. Dummköpfe rollen. Verlier es nicht, sagte der Sanitäter. Man weiß nie, wann man sein Leben noch mal gebrauchen kann. Ich kletterte aus dem Schützengraben. Ich sah mich um. Ich vergaß das Leid auf anderer Seite. Und ging. Mein neunzehnter Tag entlang der Front. Hoffentlich stehe ich das Laufen durch.“
    
28.9.:    „Mein zwanzigster Tag entlang der Front. Mein zwanzigster Tag entlang der Front knisterte bei jedem Schritt. Der Laufzettel knisterte bei jedem Schritt. Wußte nicht, daß die Landschaft so schön war... Meldete mich bei Kontrollposten an. Zeigte meinen Laufzettel vor. Mit Händen als Ausdruck und Miene wie Beileid bekam ich ihn zurück. Passierte, und mied mein eigenes mit in den Hals gezogenen Kopf, als ich an Kleibern vorbei kam, die in Leeren pickten, deren Baumstämme nun der plane Straßenboden war, gefallen, Gefieder frierend über die Eignung geschoben – Chiffchaff, Zilpzalp, Flüchtlinge –, an Gefangenen vorbei, die man recht schlecht behandelte, an Gebäuden, Bauten, Lauten, zerstörten, zum Kontrollpunkt meines ersten Auftrags – 'Chec point' stand in verlorenen Lettern auf dem Häuschen, waren Amerikaner –, durchgereicht zum Feldlager in Form wie die Bäume auch der Kleiber gefallener Hochhäuser zur Senke, irgendeiner, darüber – liegend – am Hang, irgendeinen, als wäre der Krieg noch nicht vorbei, über die Kuppe durch ein Fernglas jagend, weiße Haare als Orden, sein Adjutant daneben mit schwarzer Haut vom Ärgern, aber Gewehr im Anschlag, und dann – steifes Kommando – Schuß! Schoß. Schuß! Zweimal daneben, der letzte Treffer sein Retter, ein breites Lächeln seine Beute, und irgendeinen Hasen auf anderem Felde. War mir nicht bewußt. Der Reichweite. Ein Sergeant pflanzte mich in die Landschaft ein, als Baum oder als ein Pfahl, übergoß mich mit seiner Kaugummigleichgültigkeit, dann schmatzte er die Offiziere heran – weil es doch noch wichtiger war. Der kleinere war älter und sah so aus wie ein General. So stellte ich mich ihm vor. Der Sergeant kaute ihn als Captain vor, der Lieutenant stellte sich als General vor, laut platzender Kaublase des Sergeants war aber der zweite Second Lieutenant. Ich schüttelte mich aus der Starre. Mit Händen als Ausdruck knisterte sich mein Laufzettel vor die Ausführung. Der Weiße nickte kurz, auch der Schwarze traute sich nicht, dem Captain zu widersprechen. Er gab Kaugummis an alle aus, als Versprechen. Der Sergeant steckte sich das zu seinem alten in den Mund. Wir alle kauten uns zu einem Zelt. Der Sergeant popelte in der Nase, er grub im Nuscheln, die Kaugummis in Fingern, klebte sie als Rangabzeichen auf die Winkel seines Ärmels, so kam noch eine Laune hinzu, dann rotzte er sich zwei Privates heran und ging mit ihnen hinein. Sie holten einen alten, ungehaltenen Mann heraus, gehalten und in Handfesseln. In abgeschlissener Uniform, ein Oberst vielleicht, mehr nicht, askeseblich. Der Captain stellte ihn so, daß er nicht die Zeltbahn bespritzte. Er kramte umständlich seine Browning M1911, Caliber .45, hervor, als kramte er nach Wechselgeld für einen bestellten Kaffee – den es in jedem Diner, der was auf sich hielt, umsonst gab –, und reichte es gleich an den Kellner, den Second Waiter weiter. Als Beförderung. Breites Lächeln umsonst. Der Captain ging aus dem Weg, der Beförderte traute sich gleich einen Schritt... nach hinten, dann wartete er auf den Schießbefehl. Hase, sagte der Captain. Hase, er wiederholte. Wie schwer doch eine Pistole in der Hand liegt, und wie lässig doch ein Jagdgewehr. Hase! Er wiederholte. Hase! Er wiederholte. Hase! Mein zwanzigster Tag – langer Tag... „Hase!“ – entlang der Front. Hase! Er schoß selbst. Von einer Schläfe zu der anderen, platzten die Augen. Der Laufzettel knisterte bei jedem Schritt. Um einen Auftrag leichter. Wie schön die Landschaft war. Hoffentlich stehe ich auch das Knistern durch.“






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