"Hallo" ist das Pfandleihhaus des "Aufwiedersehn"...



Miniaturen des Absurden

Betrete mit der Miene der Abfälligkeit und erhalte Einlaß

Vom Jardin du Luxembourg zum Panthéon brauchte es schon mehr als platonisches Innehalten, um sich Gehör für Gesehenes zu verschaffen. Da...

Freitag, 18. September 2015

Auf der einen Seite: Sterben


Eine seltsame Geschichte verdient wenige Worte.


Eine seltsame Geschichte trug sich da zu. Von der Erde aus betrachtet in seinem Auge. Doch wir befinden uns nicht auf der Erde, wir befinden uns auf dem Mond. Und auf dem Mond, da gab es eine Kuppel.

Und gab es viele Kuppeln zu dieser Zeit. Auf dem Mars gab es welche. Und auf der Venus. Und auf dem Merkur. Doch auf dem Merkur gab es nur wenige. Und als die Erde noch bewohnt war, da gab es auch dort Kuppeln.

Waren diese Kuppeln aus Glas. Konnte man also von außen hinein blicken. Waren sie nicht wirklich aus Glas; aus einem Material, das erfunden wurde, um wie Glas zu sein, doch stark genug, um den Drücken der Umgebung standzuhalten. Dem des Mondes. Des Mars. Der Venus. Des Merkurs.

Gab es also ein Inneres – und gab es ein Äußeres. Und ohne jeden Zweifel war es wohl besser, im Innern dieser Kuppeln zu sein als im Äußeren. Und wie es dazu kam, daran erinnerte sich auch niemand mehr. Daß man im Innern dieser Kuppel lebte.

Denn es gab nur mehr Kinder. Und ohne die Erinnerung der Erwachsenen wurden nur die Augenblicke zu Geschichte. Und in den Augenblicken der Kinder gab es nur den Moment: Gerade in dem Moment spielten die Kinder.

Und nichts würde sie in diesem Moment stören wollen. Und im nächsten tobten sie. Und nichts in diesem nächsten würde sie stören wollen. Und im übernächsten sangen sie. Und nichts in diesem übernächsten würde sie stören wollen. Und kamen noch weitere Momente dazu. In denen sie rannten. Sich versteckten. Sich fingen. Gähnten. Und malten. Haare strähnten. Mit Spielzeug spielten und um das des anderen rangen.

Und verbrauchten in all den Momenten ohne Erinnerung die Luft in der Kuppel.

Gab es Luft in all diesen Kuppeln. Und wieviel, das wußte auch niemand mehr. Gab es vielleicht deshalb keine Erwachsenen mehr. Reichte die Luft in den Kuppeln wohl nur für Kinder mehr. Und wußten das nur die Erwachsenen. Doch die Erwachsenen gab es ja nicht mehr. So konnte niemand sie mehr fragen. Lebte die Geschichte nicht in der Erinnerung, die sich weiter erzählt durch Vergangenes, nur in diesem Moment.

Und in diesem aßen die Kinder alle sehr. Und sie schmatzen gar sehr. Und sie sprachen gar sehr. Und im nächsten Moment räumten die ersten schon ihre Kunststoffteller vom Platz und stellten sie in den Geschirr-Roboter. Und im übernächsten gähnten wieder einige gar sehr. Und andere rannten umher. Und wieder andere stellten sich für ein Spaghetti-Eis an den Essens-Roboter an. Und im darauf folgenden Moment schmierten sie in ihren Mündern herum. Und wer würde sie in diesem Moment stören wollen. Und im nächsten. Und im übernächsten.

Und Bettchen surrten aus dem Boden der Kuppel. Und Deckchen holten sie her aus anderen hochgefahrenen Wäscheschränken. Gewaschen und gebügelt von einem Roboter. Und legten sich satt nun hin. Die ersten. Dann die nächsten. Und streckten sich sehr. Und gähnten. Und schliefen. Und träumten so sehr. Und verbrauchten beim Träumen noch mehr die Luft in der Kuppel.

Und wer würde sie schon in diesem Moment stören wollen. Wenn Kinder atmen.

Und das Leben in der Kuppel war das Leben in der Kuppel. War es für den Moment. Und den nächsten. Und den übernächsten. Aber das wußten die Kinder nicht. Und wer wollte ihnen das verübeln. Und der nächste Tag kam. Und der nächste Moment, nach dem Schlafen. Ging die Erde durch das Glas auf. Sah man ihre Ozeane. Sah man ihre Wolken. Sah man ihre blaue Luft. Warum man diese nicht mehr atmen konnte, sah man nicht. Und im nächsten Moment war die Erde für die Kinder vergessen. Gab es für sie nur die Kuppel. Gab es für sie nichts anderes als diese Kuppel.

Und gab es eine Schleuse. Und wozu, das wußte auch keiner mehr. Und gab es einen Knopf, einen runden, roten, mit dem man die Schleuse von innen bedienen konnte. Nur diesen einen. Und wozu, das wußte auch keiner mehr. Und woher die Kinder von diesem roten Knopf wußten, das wußte auch keiner mehr.

Vielleicht hatten es ihnen die Erwachsenen gesagt, als sie die Kinder in die Kuppel brachten. Doch erinnerten sich die Kinder nicht mehr an die Erwachsenen. Waren Erwachsene schon lange nicht mehr. Lebten sie nicht in der Erinnerung, nur in dem Moment. Und im nächsten. Und im übernächsten.

Oder der Tür-Roboter sagte es ihnen. Wenn sie beim Spielen der Schleuse zu nahe kamen. Beim Toben, beim Schmollen, beim Haare strähnen, beim Verstecken, beim Fangen.

„Den Schleusenknopf nicht drücken.“, sagte dieser dann. „Nur im Notfall.“, entschuldigend hinterher. Mit der Stimme eines Roboters. Näherungssensorgesteuert. Die einzige Stimme, die es neben den Stimmen der Kinder gab in dieser Kuppel.

Und dann spielten die Kinder eben in einer anderen Ecke der Kuppel. Gab es viele Ecken in der Kuppel. Zum Verstecken gab es Ecken. Zum Essen gab es Ecken. Zum Schlafen. Zum Entdecken. War die Kuppel nur in den Köpfen der Erwachsenen rund. Aber die gab es ja nicht mehr. Für die Kinder war die Kuppel eine Ecke. Voller Ecken. In diesem Moment. Im nächsten. Und im übernächsten. Gab es Rundes nur in der Erinnerung. Ecken für den Moment.

Und verbrauchten in diesem Moment die Luft in der Kuppel. Und im nächsten. Und im übernächsten.

Und vielleicht war nichts anders. Vielleicht kam es den Kindern nicht so vor. Spielten die einen, aßen die anderen, gähnten die nächsten. Und wer würde sie in diesem Moment stören wollen. Und im nächsten. Und im übernächsten. Kam es erst nur einem Kind seltsam vor. Spielte nicht mehr. Legte sein Spielzeug aus den Händen und sah etwas im Glas der Kuppel. Draußen die Dunkelheit. Und ging auf das Glas zu. Und die anderen spielten weiter. Spielten sie für den Moment, aßen sie oder tranken. Strähnten Haare oder stolperten auf den Boden. Und lachten dabei. War das Lachen im übernächsten Moment vergessen. Oder weinten. War auch das Weinen vergessen. Oder gähnten. Und war das Gähnen vergessen. Und sah dieses eine Kind etwas im Glas. Und trat näher. Und sah sich spiegeln. Das Dunkle im Auge des Mondes. Sah seine eigenen beiden Augen. Und dann leuchten. Leuchteten seine beiden Augen. Dann leuchteten seine drei Augen. Dann seine vier. Dann sechs. Dann zehn. Dann mehr. Dann aus der Dunkelheit heraus formten sich aus Umrissen Gestalten. Und aus den Gestalten Körper mit Beinen. Und mit Lampen. Dies die Augen. Kamen die Gestalten näher. Von draußen, außerhalb der Kuppel. Der Kuppel nah. Und den Augen des Kindes näher. Und wer wollte sie in diesem Moment stören. Und im nächsten. Und im übernächsten.

Und vielleicht war es dem Kind bewußt im Licht der Kuppel, daß es ein Äußeres gab, ein Dunkles, in dem Moment, und war in allen Momenten zuvor nur das Licht im Innern der Kuppel für die Kinder wahr. Im Auge des Mondes, von der Erde aus betrachtet, seine leuchtende Pupille. Diese Kuppel.

Und waren es nur Momente, die von anderen Momenten trennte, verband sich der von eben jetzt mit dem vorm Hier. Hörten Kinder auf zu spielen. Ließen von ihren Strähnen. Von ihrem Gähnen, dem Lachen und dem Weinen, und Neugier brach sich Bahn im Harren der Lichter vor der Kuppel. Traten heran und standen von innen an dem Glas und tatschten mit den Händen die Kuppel.

Trugen sie Raumanzüge. Gläserne, kuppelgläserne Helme und Sauerstoffgeräte. Auf dem Rücken, in den Händen andere. Dann standen sie vor der Kuppel. Trennte sie nur das Glas. Und blickten in diesem Moment hinein. Waren diese Kuppeln vielleicht deshalb aus Glas. Jeder eine Nummer auf der Brust: „2321.“ Darüber und darunter noch etwas geschrieben. Und im nächsten Moment erhellte das Licht der Kuppel ihre Gesichter. Waren Kinder, zwei Köpfe größer, aber doch noch Kinder in ihren Raumanzügen mit ihren Sauerstoffgeräten.

„Wollen die hinein?“, brabbelten die ersten Kuppelkinder. „Die machen mir Angst.“, die nächsten. „Mit denen spiele ich nicht.“, verstarb die Neugier bei den übernächsten und diese liefen wieder zu ihrem Spielzeug. Zeigten die von draußen schon müde auf die Schleuse.

Die anderen Kinder riefen, zischten und unkten umher.

„Läßt man sie rein, verbrauchen sie doch nur unsere Luft.“

„Sie haben doch Sauerstoffgeräte. Denen geht’s doch gut.“

Kamen auf Ideen.

„Sollen sie doch ihre Luft abgeben, so bleibt uns hier drinnen mehr Luft.“

„Genau. Die Sauerstoffgeräte sollen sie abgeben. Lassen dann die Luft in unsere Kuppel.“

Und stritten sich.

„Aber ist doch deren Luft.“

„Werden draußen doch eh sterben. Was soll’s, ich spiel‘.“

Und einigten sich.

„Verbrauchen nur unsere Luft, haben dann für uns selber weniger.“

„Oder nur wenige hinein lassen. Wen auswählen?“


Das Kind mit den Lampenaugen löste sich von den Kindern am Kuppelglas und trat ganz unauffällig vor die Schleuse. Und warum, das wußte es selber nicht. Und vielleicht war es nur dem Moment geschuldet. Keinem nächsten, nicht dem übernächsten. Nur diesem einen. Aber das wußte man nicht.

„Den Schleusenknopf nicht drücken.“, sagte der Schleusenroboter. „Nur im Notfall.“, entschuldigend hinterher. Vor der Schiebetür ein schwarzgelb-gestreiftes Rechteck auf dem Boden, das zeigte: „Spiele in einer anderen Ecke dieser Kuppel. Nun geh‘.“

Gab es Ecken in der Kuppel zu Genüge. „Nur spiele nicht in dieser hier.“ Und zögerte das Kind. Der Schleusenroboter wiederholte seine Worte. Und waren es nur Momente und gab es keine Erinnerungen, nur noch Augenblicke und den nächsten und den übernächsten und verbanden sie sich nicht auf eine Weise, die eine Handlung zu einer Geschichte machte, die man zurückverknüpfte mit seinen Erfahrungen, machte das Kind in diesem Moment einen Schritt nach vorne, ins Ungewisse, was Geschichte nun mal war, hin zum roten, runden Knopf der Schleusentür, die so eindringlich warnte. Trat auf die Bodenplatte ohne es zu ahnen, nur den roten Knopf und die Kinder draußen vor der Kuppel vor Augen mit ihren Lampenaugen, und fuhren Schränke aus dem Boden, die noch in keinem vorherigen Moment aus dem Boden fuhren. Ihr Inhalt: Staunen für die Kinder in der Kuppel.

Lauter Raumanzüge. Mit ihren Sauerstoffgeräten.

„Den Schleusenknopf nicht drücken.“, sagte der Schleusenroboter. „Nur im Notfall.“, entschuldigend hinterher.

Alle Kinder bestaunten sie. Diese Raumanzüge. Diese Sauerstoffgeräte. Selbst die, die lieber spielten. Und verbrauchten mit ihrem Staunen umso mehr die Luft in der Kuppel. Waren sie wie die Raumanzüge der Kinder von draußen.

„Ich atme, also bin ich.“, stand auf jedem geschrieben. Und das Baujahr dieser Kuppel: „2326.“ Und darunter der Name jeden Kindes. Für jedes Kind ein Raumanzug. Stellte sich jedes Kind zu seinem Namen. Nur eines nicht. Das mit den Mondscheinaugen.

Die Kinderhand vor dem roten Knopf. Verharrte. Endet diese seltsame Geschichte hier.

Verdient eine seltsame Geschichte nur wenige Worte.


Auf der einen Seite: Sterben.

Auf der anderen: Sah man schwer atmend in die Kuppel.
















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